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Beatrice wandte sich um und blickte mich an. Ich sah, dass es ihr nicht leichtgefallen war, mir die Geschichte zu erzählen.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Sie müssen sehr verzweifelt gewesen sein, ein solches Risiko einzugehen. Sie hätten sterben können. Oder im Gefängnis landen.«

»Gefängnis gibt’s in allen Formen und Größen«, sagte sie. »Genau wie den Tod.« Sie wandte sich um und schaute aus dem Fenster. »Wie sind Sie darauf gekommen, mich danach zu fragen?«

Ich sollte es ihr wahrscheinlich nicht sagen, aber ich hatte das Gefühl, ihr für ihre Offenheit eine Enthüllung schuldig zu sein. »Das FBI stöbert in alten Akten«, sagte ich, »um herauszufinden, warum Novak umgebracht wurde. Ein Arzt im Krankenhaus hat damals gemeldet, dass er den Verdacht hatte, Sie hätten eine Abtreibung gehabt.«

»Der Scheißkerl«, sagte sie. »Ich habe ihn vierzig Jahre lang gekannt, und ich konnte ihn nie leiden.«

Ich wusste, dass ich kein Recht dazu hatte, aber ich fragte trotzdem. »Wessen Kind war es, Beatrice?«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Das war mit ein Grund für die Abtreibung.« Sie seufzte. »Im Frühjahr und Sommer 1945 ist Novak häufig nach Hanford gereist«, sagte sie. »Die großen Plutonium-Produktionsreaktoren da draußen gingen in Betrieb, und es gab technische Probleme. Es stellte sich heraus, dass winzige Mengen Bor Neutronen absorbierten und die Kettenreaktion verlangsamten. ›Vergiftung‹ haben sie das damals genannt. Novak musste das Rätsel der Bor-Vergiftung lösen. Er war öfter mal eine Woche oder zehn Tage am Stück nicht da, und ich hatte es mir angewöhnt, abends hinunter in die Kulturhalle zu gehen, um mir die Zeit zu vertreiben.«

»Sie waren einsam, wenn er weg war«, sagte ich.

»Ich war auch einsam, wenn er da war«, sagte sie. »Vielleicht noch einsamer. Ich glaube, am einsamsten war ich, wenn er im selben Bett schlief wie ich, dreißig Zentimeter neben mir, aber unerreichbar. Ich bin mir sicher, dass ich indiskret war, ich bin mir sicher, dass die Nachbarn geredet haben.«

Oder dich verpfiffen haben, dachte ich. »Ich sollte gehen.«

»Wohin? Nach Hause? Haben Sie eine gute Frau, die auf Sie wartet, Bill? Oder einen guten Mann?«

»Nein. Auf mich wartet noch Arbeit«, sagte ich und stand auf. Auf dem Beistelltisch neben ihrem Sessel fiel mir etwas ins Auge. Auf einem Stapel geöffneter Post lag ein kleines, rechteckiges weißes Blatt Papier mit blauen Buchstaben.

»Gütiger Himmel«, sagte ich.

»Was?« Sie folgte meinem Blick. »Ach, das«, sagte sie. »Was für ein Blödmann.«

Auf dem Blatt stand: »Ich kenne dein Geheimnis.«

 

»Erstaunlich«, sagte ich zu Emert, den ich angerufen hatte, als ich Beatrice’ Haus verließ, um ihm zu berichten, was sie mir über den Brief erzählt hatte. Als ich dreißig Minuten später in sein Büro kam, hatte er bereits eine bemerkenswerte Menge an Informationen zusammengetragen. »Dieser Typ hat also nur im Trüben gefischt? Hat versucht, die Alten in Oak Ridge so einzuschüchtern, dass sie ausplaudern, was sie aus der Zeit des Bombenprojekts oder des Kalten Krieges wussten?«

»Spionage …«, sagte Emert. »Er hat dem History Channel eine Dokumentation angeboten. Atomgeheimnisse hat er sie genannt.« Emert wedelte mit einem Ausdruck durch die Luft – einer schlechten Kopie von einem Fax oder einer richtig guten Kopie von einem richtig schlechten Fax. »Das ist ein Treatment von einer Seite, das er dem History Channel gefaxt hat. Er hatte von denen noch kein grünes Licht, es war nur ein Angebot.«

Ich las den Untertitel. »Kein Wunder, dass die ihm kein grünes Licht gegeben haben«, sagte ich. »Hören Sie sich mal diesen Untertitel an: Wie sowjetische Spione in das Herz des Manhattan-Projekts vorstießen. Ganz schön unbeholfen, was?«

»Ja, also, Ken Burns war er nicht gerade«, sagte Emert. »Aber wenn man überlegt, wie er ums Leben gekommen ist, besitzt die Formulierung ›ins Herz vorstoßen‹ doch ein erkleckliches Maß an Ironie. Anscheinend hatte er gehofft, in Oak Ridge irgendetwas Pikantes auszugraben, etwas, wofür der History Channel sich begeistern würde.«

»Wie sind Sie so schnell darauf gekommen?«

»Das verrate ich nicht«, sagte er und hielt einen Finger an die Lippen, wie auf den Reklametafeln, die die Menschen in Oak Ridge ermahnt hatten, den Mund zu halten.

»Okay«, sagte ich.

»Ach, schon gut, ich erzähl’s Ihnen«, sagte er. »Gleich nachdem Sie von Beatrice’ Auffahrt aus angerufen hatten, klingelte schon wieder das Telefon. Es war der Empfangschef vom Doubletree, er hatte die Zeichnung in der Zeitung gesehen. Der neugierige Dokumentarfilmer -Willard Clarkson war sein Name – hat vor siebzehn Tagen, am neunten Januar, im Hotel eingecheckt. Am zehnten hat er das hier nach New York gefaxt. Und er hat nach mehr Schokoladenkeksen verlangt.«

»Das Doubletree macht verdammt gute Schokoladenkekse«, sagte ich.

»Ja, aber jeder kriegt nur einen Keks, und nur beim Einchecken«, sagte Emert. »Der Kerl hat einen zweiten verlangt. Er war wohl der Meinung, allgemeine Regeln würden für ihn nicht gelten.«

»Wer sind Sie, die Keks-Polizei? Wollen Sie behaupten, er hatte den Tod verdient, weil er zum Empfangschef zurückging und sagte: ›Bitte, Sir, kann ich noch einen Keks haben?‹? Zum Teufel, das hab ich auch schon gemacht.«

»Tun Sie’s nie wieder«, sagte er. »Sie sehen ja, wohin das führen kann.«

»Der Empfangschef hatte eindeutig ein hinreichendes Motiv«, sagte ich. »Also, dieser Schülerliga-Dokumentarfilmer …«

»Provinzliga«, sagte Emert.

»Provinzliga?«

»Schülerliga ist ein wenig hart«, sagte er. »Clarkson hatte schon Sendungen für den History Channel gemacht. Beiträge über Flugzeugträger, Jagdflugzeuge und Bomber im Zweiten Weltkrieg. Nicht schlecht. Und ein paar glanzvolle Sachen für A&E. Aber, wie ich schon sagte …«

»Bevor Sie so unhöflich unterbrochen wurden?«

»Bevor ich so unhöflich unterbrochen wurde«, wiederholte er. »Am Nachmittag des zehnten Januar hat er dieses Fax geschickt und widerrechtlich um einen zweiten Keks gebeten. Und danach hat ihn im Doubletree nie wieder jemand zu Gesicht bekommen.«

»Sie haben gedacht, er hätte sich aus dem Staub gemacht?«

»Sie haben nur gedacht, er wäre ein komischer Kauz oder sehr zurückgezogen. Er hatte gesagt, er würde einige Wochen bleiben. Sie hatten seine Kreditkartennummer in den Unterlagen, und an der Tür hing das BITTE-NICHT-STÖREN-Schild. Also haben sie ihn in Ruhe gelassen.«

»Zehnter Januar«, sagte ich. »Das war, wenn ich mich recht erinnere, unmittelbar bevor der Osten von Tennessee sich in die Antarktis verwandelt hat.«

»Ja«, sagte er. »Und einen Tag nachdem Leonard Novak sich in der Stadtbücherei diese Bücher über das Venona-Projekt ausgeliehen hat.«

 

Emert fuhr ins Doubletree, um die Durchsuchung von Willard Clarksons Hotelzimmer zu beaufsichtigen, und ich fuhr wieder einmal den Hügel hinunter in die Stadtbücherei. Ich hoffte, dass Isabella inzwischen wieder da war und dass es ihrem Vater wieder besser ging, doch die Vertretung am Auskunftstisch musste meine Hoffnungen enttäuscht. Auch meine nächste Hoffnung wurde enttäuscht: Nein, sie wusste nicht, wie es Isabella ging oder wohin ich ihr eine Karte schicken konnte, um ihrem Vater gute Besserung zu wünschen, oder wann sie wieder da wäre. Ich versuchte, meinen Frust und meine Verlegenheit zu überspielen. Ich wirkte doch wie ein Stalker oder ein Idiot, ging mir auf, dass ich hinter einer Frau her war, die mich nicht für wert befand, sich in einer Krise an mich zu wenden.

»Ich hatte gehofft, heute einige historische Nachforschungen anstellen zu können«, sagte ich. Das stimmte nicht – es war eine fadenscheinige Ausrede für meine Anwesenheit in der Bücherei –, doch sie schloss mir den Oak-Ridge-Raum auf, und ich fand es irgendwie tröstlich, dort zu sein. Ich betrachtete Fotos vom Oak Ridge National Laboratory und sah, wie der Graphitreaktor auf einem Hügel vor dem Hintergrund eines bewaldeten Höhenzugs Gestalt annahm. Ich sah das riesige, U-förmige Gebäude der K-25-Anlage, wo Uran in gasförmiger Form angereichert wurde. Die K-25-Anlage war die letzte, die vollendet wurde, von der Kapazität her aber die größte, als hätte ein schwerfälliger Uran-Güterzug endlich Fahrt aufgenommen. Ich sah die ovalen Rennbahnen derY-12-Anlage, deren D-förmige Calutrone mit tausenden von Tonnen Silber verbunden waren, die das Schatzamt zur Verfügung gestellt hatte. Und ich sah Beatrice, wie sie auf ihrem Stuhl saß, eine Hand auf ewig über den Reglern schwebend, wie sie die Flugbahn von Uranatomen und den Lauf der Menschheitsgeschichte veränderte.

In einem Aktenordner, der mit »Leben in Oak Ridge« beschriftet war, sah ich Männer und Frauen für Zigaretten anstehen, Jungen und Mädchen in Pfadfinderuniformen, Footballspieler in Helmen und Beinschützern, Baseballmannschaften in Mützen. Ich sah zwei hübsche junge Frauen – eine Weiße und eine Schwarze –, die zusammen in ein Buch schauten, die Schwarze zeigte mit dem Finger auf die Seite, während die Weiße laut vorlas. Der Blick der weißen Frau war glasig.

Ich sah Musiker spielen und Paare tanzen. Und unter den tanzenden Paaren entdeckte ich wieder Beatrice. Sie war eine fotogene junge Frau gewesen, und wenn ich während des Krieges Fotograf in Oak Ridge gewesen wäre, hätte ich sie auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit abgelichtet. Auf diesem Foto tanzte sie mit einem gutaussehenden, lächelnden jungen Mann, und er war nicht Leonard Novak. Ich überprüfte das Datum der Aufnahme: 1. August 1945. Zwei Wochen vorher hatte der Trinity-Test New Mexico erschüttert, fünf Tage später würde die Stadt Hiroshima dem Erdboden gleichgemacht werden, und acht Tage später würde Nagasaki dasselbe Schicksal erleiden. Und irgendwann in den Tagen oder Wochen, die der Aufnahme dieses Fotos folgten, würde der lächelnde junge Mann aus nächster Nähe erschossen und in einem flachen Grab beigesetzt werden, zusammen mit einem viele hundert Seiten dicken Typoskript. War es ein Bericht für die Nachwelt, oder waren es Geheimnisse für die Sowjets? Oder gar beides?

Ich wählte Emerts Nummer, und der Anruf ging direkt auf seine Voicemail. »Ich bin in der Stadtbücherei«, sagte ich, »und ich betrachte ein Foto, auf dem Beatrice am 1. August 1945 mit Jonah Jamison tanzt.«

Als ich auflegte, klingelte mein Handy, um mir anzuzeigen, dass ich eine Voicemail erhalten hatte. Während ich Emert eine Nachricht hinterlassen hatte, hatte der Detective mir auch eine hinterlassen. »Vielleicht war unser toter Dokumentarfilmer doch hinter einem dicken Fisch her«, lautete seine Nachricht. »Wir sind in seinem Hotelzimmer, und er hat eine Akte voller Transkripte vom Venona-Projekt.«

Kaum hatte ich aufgelegt, klingelte mein Telefon. Es war noch einmal Emert, diesmal live und persönlich. »Clarkson hat einige interessante Notizen an den Rand dieser Venona-Telegramme geschrieben«, sagte Emert. Am 22. Juli 1945 war jemand mit dem Codenamen »Chekhov« von Oak Ridge nach Hanford gereist. In dem Telegramm hieß es weiter, »Pavlov« habe den Weg zu »Chekhov« gefunden und werde bald einen detaillierten Bericht des Projekts liefern. Clarkson hatte »Chekhov« unterstrichen und an den Rand daneben »Novak?« geschrieben. Er hatte auch »Pavlov« unterstrichen und daneben zwei Fragezeichen gekritzelt.

»Ich finde, wir sollten mal zusammen zu Ihrer Freundin Beatrice fahren«, sagte er, »und ihr noch ein paar Fragen über ihren Mann und ihren Freund stellen.«