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Fünf Minuten nach dem Anruf aus Oak Ridge verließen Miranda und ich die Body Farm, kurvten durch das Asphaltlabyrinth an der Medizinischen Fakultät der University of Tennessee und überquerten den Tennessee River. Tief unter der Highway-Brücke wirbelte ein Band eisigen grünen Wassers zwischen eisüberzogenen Ufern.
Mir kam ein Gedanke, und statt weiter auf dem Alcoa Highway zur Interstate 40 zu fahren, bog ich auf den Kingston Pike und fädelte mich durch die kurvenreichen Straßen von Sequoyah Hills, dem Viertel, wo ich wohnte.
»Ich dachte, wir würden an einen Mordschauplatz nach Oak Ridge rasen«, sagte Miranda.
»Tun wir auch«, sagte ich. »Aber mir ist gerade etwas eingefallen, was wir womöglich gut gebrauchen können, also rasen wir vorher noch zu mir nach Hause.«
»Na, hoffentlich ist das, wovon Sie meinen, wir könnten es gut gebrauchen, ein Mittagessen«, sagte Miranda, »denn ich kriege allmählich einen solchen Hunger, dass ich mir den Arm abnagen könnte.«
»Der Kühlschrank ist leer«, sagte ich, »Sie können also gleich anfangen zu kauen. Aber nagen Sie sich nicht beide Arme ab, ich brauche Sie noch, damit Sie am Leichenfundort für mich Notizen machen.«
»Ihre Besorgnis ist wirklich herzerweichend.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Manchmal rühre ich mich selbst zu Tränen. Oh, wenn Sie etwas Vegetarisches vorziehen, im Handschuhfach ist noch ein Snickers.« Offensichtlich tat sie das, denn sie öffnete das Schnappschloss und kramte unter einem Bündel Zulassungspapieren herum.
»Hoffentlich ist da keine Mausefalle versteckt – autsch!« Sie fuhr zusammen und ich ebenfalls, worauf sie lachte und den Schokoriegel herausangelte. »Sie sind dermaßen leichtgläubig«, sagte sie. »Sie lassen sich prima auf den Arm nehmen.«
»Ich hab doch gewusst, dass Sie nur Spaß machen«, sagte ich. »Aber ich habe auch gewusst, dass Sie schmollen würden, wenn ich nicht mitspiele.« Ich fuhr in die Auffahrt und drückte auf die Fernbedienung, um das Garagentor zu öffnen.
Miranda wickelte ein Ende des Schokoriegels aus – die XXL-Version – und biss hinein. »Autsch!«, sagte sie wieder, diesmal ernst. »Das Ding ist hart wie Stein.« Sie betrachtete den zarten Abdruck, den ihre Zähne in der gefrorenen Schokolade hinterlassen hatten. »Da habe ich ja Glück, dass ich mir nicht ein Stück Zahn abgebrochen habe. Ich würde die University of Tennessee glatt auf einen Arbeitsunfall verklagen.«
»Sie würden wegen eines abgebrochenen Zahns klagen? In Tennessee? Man würde Sie mit Hohnlachen aus dem Staat jagen«, sagte ich.
Sie schenkte mir ein breites, sarkastisches Lächeln – Miranda hatte mit das schönste Lächeln der Welt – und machte sich daran, den riesigen Schokoriegel, den sie fest in der Faust hielt, mit den Backenzähnen an einer Ecke anzuknabbern. »Sie bleiben hier und arbeiten daran«, sagte ich. »Ich bin sofort wieder da.«
Ich fand das, wonach ich suchte, in der Garage – eine längliche Kiste aus orangefarbenem Kunststoff- und verstaute es im Laderaum des Pick-ups. Als ich mich wieder auf den Fahrersitz setzte, schossen Mirandas Augenbrauen fragend in die Höhe. Ich lächelte, setzte rückwärts aus der Auffahrt und fuhr Richtung Oak Ridge. Mirandas Kiefer arbeiteten hart – offensichtlich hatte sie einen riesigen Klumpen abgebrochen. Schließlich murmelte sie: »Ischesch hasch wasch isch henke?«
»Was? Wenn Sie so nuscheln, verstehe ich kein Wort.«
»Ischesch HASCH wasch isch HENKE?!«
»Das Problem ist nicht«, sagte ich, »dass ich taub bin. Das Problem ist, dass Sie mit vollem Mund reden.«
Sie verdrehte die Augen, schluckte jedoch schwer, fuhr dann mit der Zunge seitlich und vorne um die Zähne, um Schokolade, Karamell und Erdnüsse einzusammeln, und schluckte noch einmal. »Ist es das, was ich denke?«
»Ist was das, was Sie denken?« Sie versetzte mir einen ordentlichen Knuff gegen die Schulter. »Autsch«, sagte ich. »Ach, Sie meinen das Ding, das ich hinten reingelegt habe? Ja, wenn Sie denken, es ist eine Stihl ›Farm Boss‹-Kettensäge, Modell 290.« Mir gefiel der Name Stihl – ursprünglich wohl deutsch, vermutete ich – und die Tatsache, dass man Stihl aussprach wie »steel«, Stahl. Ein sehr männlicher Name für ein sehr männliches Werkzeug.
»Warum um alles in der Welt nehmen Sie eine Kettensäge mit zu einem Leichenfundort? Wollen Sie die Leiche zerstückeln, um den Fall noch ein wenig interessanter zu machen?«
»Ich war bei den Pfadfindern«, sagte ich. »Es ist immer gut, allzeit bereit zu sein.«
»Ja, also, es ist auch immer gut, geistig gesund zu sein«, sagte sie, »aber ich sehe nicht, dass Sie im Augenblick in der Hinsicht große Fortschritte machen.«
»Passen Sie gut auf und lernen Sie, mein Kind«, sagte ich. »Passen Sie gut auf und lernen Sie.«
Schweigend fuhren wir die vierzig Kilometer nach Oak Ridge. Beinahe schweigend, genauer gesagt, denn das Knirschen und Mahlen, mit dem Mirandas Backenzähne kontinuierlich dem Rest des Schokoriegels zu Leibe rückten, begleitete uns auf der ganzen Fahrt.
Als wir die letzte Steigung erklommen, bevor wir uns die vierspurige Straße nach Oak Ridge hinunterstürzten, zeigte Miranda auf die Cumberlands, sechzehn Kilometer nördlich. Hoch oben auf Buffalo Mountain reckte sich eine schlangenförmige Linie weißer Windräder in den azurblauen Himmel. Die drei Rotorblätter – die aussahen wie die größten Flugzeugpropeller der Welt – blitzten auf, wenn sie die Sonnenstrahlen einfingen. Wenn man sah, wie weit die Masten die nahen Bäume überragten, erstreckten sie sich über hundert Meter in den Himmel.
»Mann, dieser Ort ist wie Energy USA«, sagte Miranda. »Ein Mikrokosmos der Kilowattproduktion.«
Sie hatte recht. In die Hügel um den Windpark herum hatte der Tagebau scharfe, rechtwinklige Bänke und Stufen in den Berg geschnitten. Im Osten ragte der Schornstein des Bull-Run-Dampfkraftwerks zweihundertfünfzig Meter in die Höhe. Neben dem Elektrizitätswerk zeichnete der Clinch River – der von seiner Sturzspirale durch die hydroelektrischen Turbinen des Norris-Damms immer noch zuckte – in smaragdgrünen Wirbeln die Grenzen der Stadt nach. Und dann war da Oak Ridge selbst, die Atomstadt, Geburtsstätte der Bombe, Wiege der Atomkraft.
»Ich wüsste zu gern, ob diese Superhirne in Oak Ridge je dahinterkommen, wie man die Kernfusion nutzbar macht«, sagte Miranda. »Die Energie der Sterne. Dann könnte man mit einem Teelöffel Wasser ein ganzes Jahr Auto fahren, richtig?«
»Richtig«, sagte ich. »Ich glaube, das steht als Nächstes auf der Liste, sobald sie den Transporter zum Beamen erfunden haben und dahintergekommen sind, wie man Blei in Gold verwandelt.«
»Das haben sie schon«, sagte sie.
»Haben sie schon? Den Transporter?«
»Neeeeein«, stöhnte sie. »Blei in Gold verwandelt.«
»Blei in Gold? Wirklich?«
»Ja, wirklich«, sagte sie. »Winzige Mengen, wohlgemerkt Nanogramm oder Angiogramm oder so. Hier in Oak Ridge kriegen die das wahrscheinlich richtig hin, mit so einem Teilchenbeschleuniger oder Forschungsreaktor. Man muss nur eine Jillion Protonen oder Neutronen oder was auch immer man gerade zur Hand hat gegen ein Bleiatom schmettern, und schwups hat man ein Gold-Atom. Ach ja, und eine LKW-Ladung radioaktiv kontaminierten Materials.«
»Verdammt«, sagte ich. »Auf der Welt ist wirklich nichts umsonst, was? Sie schulden mir übrigens ein Snickers.«
Wir überquerten einige Eisenbahngleise und schoben uns an einer Reihe von Einkaufszentren vorbei, dann bogen wir nach Osten auf die Oak Ridge Turnpike – die Hauptverkehrsstraße der Stadt – und kamen an weiteren Einkaufszentren und Läden vorbei. Oak Ridge war eine Stadt ohne Innenstadt – wie viele Städte heutzutage, etwa auch einige von Knoxvilles Schlafstädten. Doch Oak Ridge hatte für das Fehlen des Stadtzentrums eine bessere Ausrede. Die Stadt war während des Zweiten Weltkriegs praktisch über Nacht von der US-Armee aus dem Boden gestampft worden, und obwohl sechs Jahrzehnte einige Veränderungen mit sich gebracht hatten, haftete dem Ort immer noch etwas Provisorisches, Behelfsmäßiges an. Das Hauptgeschäftsviertel von Oak Ridge zog sich entlang der Sohle eines breiten, von Südwesten nach Nordosten verlaufenden Tals und war einen Block breit und acht Kilometer lang.
Verstreut zwischen modernen Banken, Arztpraxen und Maschinenbaufirmen verrieten einige wenige windschiefe Holzbauten noch ihren Ursprung als Baracken und Büros des Militärs. Ihr leiser Verfall war schwer in Einklang zu bringen mit der wichtigen Rolle, die sie einst in den verzweifelten Kriegsanstrengungen gespielt hatten. Hier, in einer streng geheimen militärischen Einrichtung – so geheim, dass die Stadt erst nach 1945 auf Landkarten auftauchte –, hatten achtzigtausend Produktionsarbeiter und Wissenschaftler zwei Jahre lang Tag und Nacht unter großem Druck daran gearbeitet, das Material für die ersten Atombomben herzustellen. Die furchteinflößenden, schrecklichen Wolken, die über Hiroshima und Nagasaki aufgestiegen waren, waren größtenteils hier in dieser verschlafenen Stadt im Osten von Tennessee produziert worden.
Wir bogen, der Karte auf dem GPS-Display folgend, von der Hauptstraße links ab und schlängelten uns ein Stück einen Hügel hinauf, zwischen einer Handvoll weiterer Gebäude aus den Kriegsjahren hindurch. Oben auf einem grasbewachsenen Hügel stand eine weiße Kapelle mit Türmchen, die aussah, als wäre sie direkt aus New England hierher versetzt worden. Unterhalb davon lag ein ausgedehntes Hotel mit weißen Säulen – derselbe Jahrgang wie die Kirche, doch bei weitem nicht im selben makellosen Zustand –, das sich hinter mit Brettern vernagelten Fenstern und abblätternder Farbe versteckte. Verblasste Buchstaben über der breiten Veranda sagten uns, dass das Hotel das ALEXANDER INN war, das ehemalige Gästehaus des Manhattan-Projekts, und die vier Streifenwagen der Polizei von Oak Ridge, die mit laufenden Motoren und dampfenden Auspuffen davorstanden, verrieten uns, dass wir hier richtig waren.
Ich parkte neben den Autos, und wir stiegen aus. Obwohl die Sonne vom Himmel schien, war der Tag bitterkalt: mindestens minus fünf Grad und so windig, dass es einem erheblich kälter vorkam. Schlimmer noch war, dass dies der wärmste Tag seit einer Woche war und die Nachttemperaturen bei um die zwanzig Grad minus lagen. Als der Wind mir in die Wangen biss, fuhr ich zusammen und überlegte: Wo bleibt die globale Erwärmung, wenn man sie einmal braucht?
Ein uniformierter Beamter duckte sich kläglich hinter den hüfthohen Zaun, der den Swimmingpool des Hotels umgab. Als Miranda und ich ans Tor traten, öffneten sich die Türen der Polizeiwagen, und zwei weitere uniformierte Beamte kamen zögerlich heraus, gefolgt von zwei Beamten in Zivil. Der eine war Leutnant Dewar, der Leiter der Abteilung für Schwerverbrechen, der andere, Detective Emert, würde die Ermittlungen in diesem Fall leiten.
Wir schüttelten uns in der Runde die behandschuhten Hände, dann führten Dewar und Emert uns durch das Tor an den Rand des Pools. Obwohl das Hotel aus den 1940er-Jahren stammte, sah der Pool selbst – von bescheidener Größe und nierenförmig – eher so aus, als wäre er später, in den Sechzigern, hinzugekommen. Überdies schien er seit den Sechzigern weder geleert noch sauber gemacht worden zu sein; er war fast voll, und der Kälteeinbruch hatte das grünschwarze Wasser in grünschwarzes Eis verwandelt.
In dem schmuddeligen Eis in der Nähe des tiefen Endes des Pools war eine Leiche eingefroren, mit dem Gesicht nach unten, Arme und Beine weit von sich gestreckt. Obwohl die Gestalt der Leiche durch zahlreiche Lagen Winterkleidung verhüllt war, war der Kopf unbedeckt. Der kahle Schädel ließ mich vermuten, dass es sich um einen Mann handelte.
»Wow«, sagte Miranda. »Ich habe ja schon viele Leichen auf Eis gesehen, aber noch nie eine in Eis. Wie wollen wir …« Sie unterbrach sich, und ich sah, dass ein Lächeln um ihre Mundwinkel zuckte. »Ah, Meister«, sagte sie, »das Kind lernt allmählich.« Sie entschuldigte sich und ging zum Wagen zurück. Kurz darauf kam sie mit der orangefarbenen Kiste zurück.
Die Polizisten wirkten beim Anblick der Kettensäge genauso verdutzt wie Miranda zunächst, doch allmählich sah ich in ihren Augen, dass es auch ihnen dämmerte. »Man nennt mich Man of Stihl«, sagte ich und grinste. Ich warf die Kettensäge an – da es so kalt war, musste ich einige Male am Starterseil ziehen – und trat vorsichtig auf das Eis. Ein Blick zurück verriet mir, dass die sechs Polizisten mich, die Kettensäge und das Eis nervös beobachteten. Mirandas Gesicht dagegen drückte reines Amüsement aus.
Ich drückte den Gashebel ein wenig und senkte die Spitze der Schiene in der Nähe einer festgefrorenen Hand aufs Eis. In Sekundenbruchteilen waren mein Gesicht und meine Brille mit einer Schicht Eisspänen bedeckt. Prustend nahm ich Gas weg, legte die Säge zur Seite und wischte mir Wangen und Brillengläser ab. Beim zweiten Versuch neigte ich den Kopf zur Seite, als ich die knurrenden Sägezähne ins Eis grub. Diesmal spritzte mir der Schauer aus Eiskristallen auf Arm und Schulter, doch mein Gesicht blieb verschont. Die Kette biss sich ins Eis, und es dauerte nicht lange, bis die Schiene durch das Eis brach. Jetzt wurde ich mit Eis und Wasser bespritzt, und mein Mantel wurde richtig nass und kalt. Ich drückte den Gashebel ganz durch, sodass noch mehr Wasser aufspritzte, doch die Säge ging jetzt auch schneller durchs Eis. In weniger als einer Minute hatte ich einen Bogen von einer ausgestreckten Hand über den Kopf und auf der anderen Seite über die zweite ausgestreckte Hand geschnitten. Dann hielt ich inne, kniete mich in Hüfthöhe neben die Leiche und machte mich daran, das Eis seitlich am Körper zu zerteilen. Ich wollte mich nach unten zu den Füßen vorarbeiten, sodass ich wieder auf der sicheren Umrandung des Swimmingpools stand, wenn ich die letzten Schnitte machte, um den Eisblock mit der Leiche ganz vom umgebenden Eis zu trennen.
Sobald ich das Eis auf der rechten Seite bis zum Knie durchschnitten hatte, wechselte ich die Seite und sägte an der linken Seite durch das Eis, bis ich am linken Fuß angekommen War. Dann ging ich wieder auf die rechte Seite. Das Eisstück mit der Leiche war jetzt kaum noch mit dem restlichen Eis verbunden, nur wenige Zentimeter neben jedem Fuß hielten den Block an Ort und Stelle. Behutsam trat ich auf die Eisplatte. Sie rührte sich nicht. Ich trat fester auf. Nichts. Ich stampfte auf, und plötzlich krachte das Eis mit einem Knallen wie ein Gewehrschuss – nicht nur die kleinen Stellen, die die Platte an Ort und Stelle hielten, sondern auch das große Stück, auf dem ich stand. Das Eis unter mir gab nach, und ich geriet ins Rutschen. Instinktiv warf ich die Arme hoch, um das Gleichgewicht zu halten, und die Kettensäge löste sich aus meinem Griff. Zwei Paar starke Hände packten meine Arme, und zwei uniformierte Beamte hievten mich auf die Umrandung des Swimmingpools. Währenddessen schlug meine erstklassige Kettensäge auf dem Eisstück auf, das sich jetzt gelöst hatte. Als die Platte schwankte, rutschte die Säge ein- oder zweimal hin und her, um dann am Kopf der Leiche vorbeizuschliddern und ins Wasser zu plumpsen. Am tiefen Ende des Pools. Einen Augenblick herrschte kollektives Schweigen, unterbrochen von einem leisen »Ups« von einem der Beamten. Dann hörte ich ein Schnauben – eindeutig von Miranda –, gefolgt von einem Kichern – ebenfalls von Miranda – und ansteigenden Lachsalven, nicht nur von Miranda, sondern auch von den fünf Polizisten.
Eine Stunde später lenkte ich den Wagen in die Parkbucht des regionalen rechtsmedizinischen Instituts unterhalb des Universitätskrankenhauses. Miranda holte eine Fahrtrage, und wir schoben die eingefrorene Leiche mit dem Gesicht nach oben darauf und rollten sie in den Sektionssaal. Detective Emert, der auch als Coroner zugelassen war, hatte den Eismann mit ernster Stimme für tot erklärt, sobald er sich von dem Lachanfall wegen meinem Kettensägenpech erholt hatte.
Miranda und ich blieben im Flur vor dem Sektionssaal stehen, um die Leiche auf der in den Boden eingelassenen Waage zu wiegen. Die Waage, die das Gewicht der Fahrtrage automatisch abzog, gab das Gewicht mit 74 Kilo an. Doch sieben bis zehn Kilo davon waren Eis, und ich machte mir im Geist eine Notiz, die Leiche noch einmal zu wiegen, sobald das Eis getaut und abgelaufen war.
Als wir die Fahrtrage in den Saal schoben, schaute der Medical Examiner Dr. Edelberto Garcia – ein smarter Lateinamerikaner Ende dreißig – von der Leiche eines jungen Schwarzen auf, den er gerade obduzierte. Er trug purpurrote Handschuhe und hielt in einer Hand das Schädeldach des Mannes und in der anderen eine Stryker-Autopsiesäge, mit der er soeben den Schädel geöffnet hatte. In sechzig Sekunden würde er das Gehirn herausnehmen und wiegen. Garcia nickte uns zu, warf einen Blick auf die Leiche, die wir da hereinrollten, und sah mich fragend an. Ich erwiderte sein Nicken und sagte: »Ist es in Ordnung, wenn wir den Kerl ein, zwei Tage hier abstellen, Eddie?«
Garcias Augen hinter der blutverschmierten Schutzbrille wirkten leicht überrascht. »Nicht hier drin«, sagte er. »Er wird stinken wie die Hölle. Stellen Sie ihn in den Kühlraum. Ich versuche, mich morgen um ihn zu kümmern.«
»Er ist tiefgefroren«, sagte ich. »Wenn ich ihn in den Kühlraum stelle, braucht er eine Woche zum Auftauen. Selbst hier drin, bei Raumtemperatur, wird es ein, zwei Tage dauern.«
»Ach so«, sagte er. »Klar, da drüben ist okay.« Er betrachtete die Leiche eingehender und bemerkte das Eis, das den Toten umrahmte. »Haben Sie den Kerl aus einem zugefrorenen See gefischt?«
»Aus einem zugefrorenen Swimmingpool«, sagte Miranda. »Schmutziger als jeder See, den ich je gesehen habe. Fragen Sie Dr. B., wie er den Kerl aus dem Eis geholt hat.« Sie schnaubte, genau wie in der kurzzeitigen Stille, die dem Planschen im Pool gefolgt war. »Fragen Sie ihn, wie es ist, wenn man allzeit bereit ist.«
»Passen Sie bloß auf, Sie Klugscheißerin«, warnte ich sie. »Sie bewegen sich …« Ich unterbrach mich … ein Wort zu spät.
»Auf dünnem Eis?«, beendete sie meinen Satz mit einem schadenfrohen Grinsen und erzählte Garcia von meinem Missgeschick mit der Kettensäge. Als sie meine wirbelnden Arme nachmachte, die Flugbahn der Kettensäge beschrieb und wie sie auf dem schwankenden Eis hin und her gerutscht und schließlich in die trüben Tiefen gestürzt war, lachten die beiden, bis ihnen die Tränen aus den Augen liefen.
»Sehr witzig«, sagte ich. »Außer für den Kerl, dessen Kettensäge auf dem Grund des Pools vor sich hin rostet.«
»Fürchten Sie sich nicht, Meister«, sagte sie. »Alles wird gut. Denn Sie sind der Man of Stihl.«