17

Ich sah sie nicht am Auskunftstisch, und der Oak-Ridge-Raum war abgeschlossen und leer. Enttäuscht wandte ich mich zum Gehen. Auf dem Weg nach draußen wollte ich am Ausleihtisch fragen, wann Isabella, die historisch interessierte Bibliothekarin, da war. Als ich mich dem Tisch näherte, hörte ich ganz aus der Nähe eine Stimme. »Dr. Brockton? Sind Sie das?«, fragte sie von irgendwo zwischen den Regalreihen.

Ich drehte mich um. »Oh, hi«, sagte ich. »Ich habe gerade nach Ihnen gesucht. Ich hatte schon befürchtet, Sie würden heute Nachmittag nicht arbeiten.«

»Bis sechs«, sagte sie und trat aus den düsteren Regalreihen heraus. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich wüsste gern, ob ich mir die Aktenordner mit den Fotos vom Manhattan-Projekt noch einmal anschauen könnte?«

»Selbstverständlich«, antwortete sie, führte mich zu dem Raum mit den Glaswänden und schloss mir die Tür auf. »Suchen Sie irgendetwas Spezielles?«

»Ich meine mich zu erinnern, dass es eine Reihe von Fotos von Häusern und Farmen gab, die schon standen, als das Projekt anfing. So eine Art ›Vorher‹-Bilder von Oak Ridge?«

Sie lächelte. »Sie haben gut aufgepasst«, meinte sie und zog aus Dutzenden von dicken Aktenordnern, die die Regale füllten, einen heraus und reichte ihn mir. »Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein?«

Beinahe hätte ich gesagt, dass ich es als hilfreich empfände, wenn sie mir beim Mittagessen Gesellschaft leistete, aber das erschien mir dann doch etwas zu forsch. »Nein, das war’s fürs Erste«, sagte ich. »Vielen Dank.«

»Sagen Sie ruhig Bescheid, wenn Ihnen noch etwas einfällt«, meinte sie und zögerte kurz, bevor sie sich umdrehte und davonging. Ich wusste nicht, warum, doch diese halbe Sekunde des Zögerns machte mir Hoffnung, dass sie irgendwie meine Gedanken gelesen hatte und dass ihr womöglich gefallen hatte, was sie dort las.

Der Aktenordner war acht Zentimeter dick, und die Schwarzweißfotos steckten in klaren Plastikhüllen. Ich blätterte durch die Seiten und sah verwitterte Farmhäuser, baufällige Scheunen, Tabakschuppen, Heuwagen, Gemischtwarenläden, kleine Kirchen, von Mauleseln gezogene Pflüge. Ich wusste, dass die Fotos aus den frühen 1940er Jahren stammten – die meisten von Anfang des Jahres 1943, denn in diesem Frühjahr hatte der Bau von Oak Ridge und seiner drei großen Anlagen mit vollem Ernst begonnen –, doch viele Fotos wären auch als Aufnahmen aus den 1920er-Jahren oder sogar aus den 1890er-Jahren durchgegangen. Was für ein unvorstellbarer Wandel: von einer ländlichen, verschlafenen Gegend zu einer brodelnden, wimmelnden Unternehmung, welche die Möglichkeiten der Wissenschaft, der Technik und allen menschlichen Strebens einen ungeheuren Schritt voranbrachte. Was die vertriebenen Bauern wohl gedacht hatten? Wie viele hatten von John Hendrix und seiner abstrusen Vision gehört, von der er zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gesprochen hatte?

Die Bilder waren faszinierend, brachten mich jedoch nicht weiter. Ich hatte den Aktenordner geöffnet und gehofft, auf einem der Fotos wäre eine Scheune wie die auf Leonard Novaks Fotos – eine kleine Scheune am Fuß eines bewaldeten Höhenzugs, an einem Ende ein Silo. Obwohl der Aktenordner zahlreiche Fotos von Scheunen, Silos und Wäldern enthielt, waren auf keinem Foto alle drei Elemente zusammen: Hier war ein Foto einer Scheune ohne Silo, dort war ein Foto eines Silos ohne Scheune, einige Seiten weiter eine Scheune und ein Silo, aber dazu weder Hügel noch Wald.

Ich schloss den Aktenordner und seufzte.

In diesem Augenblick klopfte jemand leise an die Scheibe. Ich schaute über die Schulter und sah Isabella. Als ich aufstand, öffnete sie die Tür. »Tut mir leid, Sie zu stören«, sagte sie, »aber ich wollte gerade Pause machen und dachte, ich frage mal, ob Sie noch etwas brauchen, bevor ich verschwinde.«

»Vielen Dank, dass Sie fragen, aber ich glaube, ich bin hier in eine Sackgasse geraten«, sagte ich.

»Oh, das tut mir aber leid. Gibt es außer den Fotos noch etwas, was Ihnen sagen könnte, was Sie wissen wollen?«

Ich lächelte. »Was ich wissen will? Was ich wissen will, ist unerschöpflich, fragen Sie nur meine Kollegen, meine Sekretärin oder meine Forschungsassistentin. Doch das, was mich im Augenblick interessiert? Ich weiß nicht, ob etwas anderes als ein Foto mir helfen könnte.« Sie wirkte verdutzt, und das konnte ich ihr nicht verdenken. »Hier, ich zeig’s Ihnen, falls es Sie interessiert«, sagte ich. »Aber wenn Sie lieber Pause machen möchten, will ich Sie nicht aufhalten.«

»Zeigen Sie es mir«, sagte sie.

Ich öffnete den braunen Umschlag mit den Abzügen von Novaks Film, die ich mitgebracht hatte. Die Fotos von dem Toten wollte ich ihr nicht zeigen, also holte ich ganz hinten vom Stapel die letzten Abzüge heraus. »Das hier sind alte, lausige Fotos, die in den 40er-Jahren irgendwo hier in der Nähe aufgenommen wurden, glaube ich jedenfalls. Vielleicht. Anscheinend irgendwo in Waldnähe …«, mit einem Stift zeigte ich auf die Bäume, und sie nickte, »… und in Sichtweite einer Scheune und eines Silos.« Sie biss sich auf die Lippe und beugte sich weit über das Foto, wobei ihr das schwarze Haar wie ein Vorhang über das Gesicht hing. »Die Fotos geben nicht mehr her, aber in dem Aktenordner hier habe ich nichts entdeckt, was so aussah, als könnte es diese Scheune sein.«

»Und Sie möchten diese spezielle Scheune identifizieren?«

»Ja«, sagte ich. »Also, nicht ganz. Genau genommen versuche ich die Stelle zu finden, von der das Foto der Scheune aufgenommen wurde.«

Sie ließ sich das einen Augenblick durch den Kopf gehen. »Mit anderen Worten, wenn Sie wüssten, wo sich diese Scheune befindet, könnten Sie herausfinden, wo der Fotograf gestanden hat, als er dieses Foto geknipst hat?«

»Ganz genau«, sagte ich. »Besteht die geringste Hoffnung?«

»Absolut nicht«, sagte sie und lachte über mein langes Gesicht. »Das war ein Scherz. Ich will Ihnen nichts versprechen, aber wenn Sie erlauben, dass ich mir von dem Foto eine Kopie mache, höre ich mich mal ein wenig um. Die Fragen, die ich sonst so beantworte, sind bei weitem nicht so interessant.«

»Nur zu, machen Sie sich eine Kopie«, sagte ich. »Es wäre mir eine große Hilfe.«

»Und wenn ich die Scheune finde, was dann?«

»Dann könnte ich Sie vielleicht zum Essen einladen«, sagte ich, »zum Dank.«

»Oh«, sagte sie nervös und wurde rot. Nach einer verlegenen kleinen Pause fügte sie hinzu: »Ich meinte, soll ich Sie dann anrufen oder Ihnen eine E-Mail schicken?«

»Ah«, sagte ich und wurde meinerseits rot. »Anrufen ist besser. Mit E-Mails komme ich nicht so zurecht.« Ich reichte ihr eine Visitenkarte mit meiner Büro- und meiner Privatnummer.

Sie warf einen Blick auf die Karte und sah mich an. Wieder machte sie eine Pause. »Wenn ich Sie anrufe und Ihnen sage, dass ich sie gefunden habe, möchten Sie die Einzelheiten dann am Telefon hören? Oder beim Essen?«

Ich spürte, wie sich auf meinem Gesicht ein Lächeln breitmachte. »Um ehrlich zu sein«, sagte ich, »bin ich auch nicht scharf aufs Telefonieren. Wie wäre es beim Essen?«

Sie machte wieder eine halbe Sekunde Pause, dann nickte sie, und ich verließ die Bücherei, ob ich ging oder schwebte, wusste ich nicht zu sagen. Als ich diesmal den Zündschlüssel drehte, klang der Motor nicht wie planloses Trudeln, sondern nach Kraft und Energie, die auf meine Anweisungen wartete. Ich fuhr vom Parkplatz und gab Gas. Das Auto brauste vorwärts, und ich dachte: Allmählich kommen wir weiter.

Dann dachte ich: Und wovon träumst du nachts?, und lachte über mich.