19

Jim Emert rief just in dem Augenblick an, als ich loswollte, um Garcia im Krankenhaus zu besuchen. Er wollte wissen, ob ich in einer Stunde bei einem Treffen im Fall Novak dabei sein könnte. »Thornton sagt, das FBI hat einige Spuren bezüglich der Strahlungsquelle.«

»Ich komme«, sagte ich. Garcia war es bestimmt lieber, wenn ich an dem Treffen teilnahm, statt vor seinem Fenster herumzulungern. Miranda wollte um die Mittagszeit zu ihm; dann brauchte sie eine Pause von dem Schädel, an dessen Rekonstruktion sie gerade arbeitete. Ein Bautrupp, der im Norden von Knoxville einen alten Wohnblock abriss, um Platz für das x-te Einkaufszentrum zu machen, war auf ein menschliches Skelett gestoßen. Die Knochen waren alt und brüchig und hatten dem Bulldozer, der sie ausgebuddelt hatte, nichts entgegenzusetzen gehabt. Normalerweise bestand das Skelett eines Erwachsenen aus zweihundertsechs Knochen; von der Baustelle hatten wir zwischen achthundert und tausend Knochenfragmente geborgen. Miranda hatte noch Wochen voller ermüdender Puzzlearbeit vor sich.

 

Wir trafen uns in einem Konferenzraum in der Stadtverwaltung von Oak Ridge. Als ich Emert und Thornton erzählte, was ich von Beatrice über Novaks Homosexualität erfahren hatte, merkte der FBI-Beamte interessiert auf. Als ich seine Gewissenskonflikte wegen seiner Rolle bei der Produktion von Plutonium für die Bombe beschrieb, wirkte er bestürzt. Er machte sich einige Notizen, und als er fertig war, schüttelte er nachdenklich den Kopf. »Ein Dreiundneunzigjähriger«, sagte er. »Kommt einem harmlos und großväterlich vor, richtig? Dann fängt man an, in seiner Vergangenheit herumzustochern und stößt auf Fotos eines Ermordeten, ein heimliches Sexualleben und Unbehagen darüber, seinem Vaterland geholfen zu haben, den Krieg zu gewinnen. Schon komisch, was für eine gute Tarnung ein hohes Alter sein kann.« Er schüttelte noch einmal den Kopf, diesmal, als wollte er seine Sorgen über Novak abschütteln und sich wieder auf das besinnen, was er uns mitteilen wollte. »Okay, jetzt also das Neueste aus unserem rechtsmedizinischen Strahlenlabor in Savannah River«, sagte er. »Es ist tatsächlich Iridium-192, wie Duane Johnson am Tag des Vorfalls schon festgestellt hat«, sagte er. »Es ist eine verschlossene, metallische, radioaktive Punktquelle; Sie haben sie im Leichenschauhaus gesehen, das wussten Sie also schon. Winzig, aber heißer als die Hölle. Zum Zeitpunkt der Autopsie lag ihre Strahlungsintensität bei rund achtundneunzig Curie. Inzwischen ist sie auf gut achtzig Curie gesunken, vielleicht auch schon knapp darunter. In acht Wochen wird sie bei fünfzig Curie liegen. Da würde man sie immer noch nicht schlucken wollen.«

»Oder mit den Fingern anfassen«, sagte ich. »Oder auf der Handfläche halten.« Die zornige Schärfe in meiner Stimme überraschte mich selbst.

»Nein, sicher nicht«, pflichtete er mir bei und sah mich voller Sorge an.

»Also, wie zum Teufel ist das Ding in Novaks Eingeweide gelangt?«, fragte Emert. »Sofern es ihm nicht jemand in die Kehle gestopft hat, hat er es in die Hand genommen, in den Mund gesteckt und runtergeschluckt. Besteht die geringste Möglichkeit, dass er es mit Absicht getan hat? Waren die Schuldgefühle wegen der Bombe am Ende erdrückend geworden? Oder hatte er Angst davor, jahrelang als Invalide auf die Hilfe von Fremden angewiesen zu sein?«

»Unsere Profiler glauben das nicht so recht«, meinte Thornton. »Sie haben sich ausführlich mit Novaks Nachbarn unterhalten. Er war energisch und positiv eingestellt. Der Typ ist jeden Tag zwei, drei Kilometer spazieren gegangen, zum Teufel, bis vor zwei Jahren hat er noch Tennis gespielt. Der einzige Grund, warum die Nachbarn sich keine Sorgen gemacht haben, dass sie ihn in letzter Zeit nicht gesehen haben, ist das kalte Wetter. Die Leute sind davon ausgegangen, dass er wieder auftauchen würde, sobald es etwas wärmer wird. Ich glaube, er war einem Spion auf der Spur, Sie haben ja die ganzen Bücher über Spionage auf seinem Tisch gesehen, und ich glaube, deswegen hat ihm jemand ein Iridium-192-Pellet verabreicht.«

»Mir will bloß nicht einfallen, wie«, sagte ich. »Es kann nicht in einem Stück Käse oder Fleisch versteckt gewesen sein. Entweder hätte er sich einen Zahn dran ausgebissen oder das Ding ausgespuckt.«

»Darüber habe ich mir auch Gedanken gemacht«, sagte Thornton. »Wenn Sie ein gesundheitsbewusster alter Mann sind, was schlucken Sie dann jeden Tag in großen Mengen?«

»Abführmittel«, sagte Emert, und alle lachten.

»Tabletten«, meinte ich. »Vitamine.«

»Genau«, sagte Thornton und wandte sich an Emert. »Erinnern Sie sich an den Arzneischrank?«

»Hat ausgesehen wie in einer Apotheke«, sagte Emert. »Aber hauptsächlich Rezeptfreies. Super-Omega-Dies und Antioxidantien-Das und Mega-Ultra-Prostata-Formel. Leinsamen und Glukosamine und Johanniskraut und ich weiß nicht, was noch alles. Der alte Bursche hat sicher jeden Tag zwanzig, dreißig Pillen geschluckt.«

»Das Iridium-Pellet«, sagte ich. »Wie groß war es noch mal?«

»Nicht besonders groß«, sagte Thornton. »Drei Millimeter Durchmesser. Klein genug, um es in so einer Kapsel zu verstecken. Ich wette, wenn wir noch mal ins Haus gehen und uns all die Flaschen anschauen, finden wir ein Pillenfläschchen, auf dem nicht so viele Fingerabdrücke drauf sind wie auf den anderen.«

»Weil jemand es abgewischt hat, nachdem er das Pellet in der Kapsel versteckt hatte«, sagte Emert.

Thornton nickte, dann kam er auf die Erkenntnisse des Strahlenlabors zurück. »Die Halbwertszeit von Iridium-192 beträgt nur vierundsiebzig Tage«, sagte er. »Also war das Pellet – angenommen, es wurde vor so langer Zeit bestrahlt und hergestellt – vierundsiebzig Tage vor dem Vorfall im Leichenschauhaus doppelt so heiß: fast zweihundert Curie.«

»Ich nehme nicht an, dass es aus einem haushaltsüblichen Rauchmelder herausgepult wurde«, meinte Emert.

»Ausgeschlossen«, sagte Thornton. »In Rauchmeldern wird ein anderes Isotop verwendet, Americium-241, und zwar nur in ganz, ganz winzigen Mengen. Etwa ein Mikrocurie.«

»Ein Mikrocurie«, sagte der Detective. »Das ist, wie viel, ein Tausendstel Curie?«

Thornton schüttelte den Kopf. »Ein Millionstel«, korrigierte er ihn. »Ein Rauchmelder enthält ein Millionstel Curie Radioaktivität, und das ist hauptsächlich Alphastrahlung, die weder die Haut noch ein Blatt Papier durchdringen kann. Die Iridiumquelle in Novaks Eingeweiden war hundert Millionen Mal heißer, und sie hat Gammastrahlung ausgesendet, die zentimeterdicken Stahl durchdringen kann und immer noch recht munter ist, wenn sie am anderen Ende wieder rauskommt.«

»Was ist mit TheraSeed«, wandte Emert ein, »diesen kleinen radioaktiven Pellets, die man alten Säcken wie mir in die Prostata pflanzt, um Tumore zum Schrumpfen zu bringen?«

»Die sind winzig«, sagte Thornton. »So klein, dass sie mit einer Spritze injiziert werden können. Und sie bestehen im Allgemeinen aus Palladium-103 oder Jod-125. Sie sind im Vergleich hiermit auch sehr, sehr schwach. Sie möchten doch nicht, dass Ihre Prostata gekocht wird wie Novaks Eingeweide, oder?« Emert schauderte. »Aber apropos medizinische Isotope«, fuhr Thornton fort und hielt einen Zeigefinger hoch, um anzuzeigen, dass er dies für einen interessanten Aspekt hielt, »ein Verwendungszweck von Iridium-192 ist die Herstellung medizinischer Isotope wie Palladium und Jod.« Ich verlor allmählich den Überblick über all die Isotope, doch Thornton schien sie mühelos auseinanderzuhalten.

»Ein Isotop erzeugt ein anderes«, sagte ich. »Der radioaktive Welleneffekt?«

»Eher wie Billardkugeln«, meinte Thornton. »All die Protonen, Neutronen, Elektronen und Photonen schießen auf dem Billardtisch des Universums herum und prallen voneinander ab. Ich bin verblüfft, dass wirklich alles so gut zusammenhängt. Eines Tages, so kommt es mir vor, wird der kosmische Queue zustoßen, und alle Kugeln zerstreuen sich, und dann fallen sie, eine nach der anderen, in die Ecktaschen und Mitteltaschen des Vergessens.«

»Nanu, Agent Thornton«, sagte ich, »an Ihnen ist ja ein wahrer Poet verloren gegangen.«

Er lachte. »Nein, das ist nur Blendwerk. Ich versuche verzweifelt, Sie von der Erkenntnis abzulenken, dass ich das Ganze einfach nicht verstehe.«

Klug, poetisch und obendrein noch bescheiden – kein Wunder, dass er es Miranda angetan hatte. »Also, dieses Iridium-192«, sagte ich. »Das Unikrankenhaus hat eine ziemlich große nuklearmedizinische Abteilung. Könnte das Iridium-192 von dort stammen?«

»Ja, hat es, aber nein, könnte es nicht«, sagte er. »Dort werden keine Radioisotope hergestellt. Sie haben direkt über dem Leichenschauhaus ein Zyklotron, für das Ernest Lawrence sein linkes Ei hergegeben hätte. Aber das Unikrankenhaus benutzt kein Iridium-192.«

»Aber wer dann?«, fragten Emert und ich wie aus einem Mund.

»Ich bin sehr froh, dass Sie das fragen.« Er lächelte. Er tippte auf das Touchpad seines Laptops, und hinter ihm an der weißen Wand erschien ein verwaschenes blaues Dia. Thornton zeigte auf die Leuchtstoffröhren an der Decke, und Emert schaltete das Licht aus. Jetzt strahlte das FBI-Logo vor einem dunkelblauen Hintergrund.

Das Intro-Dia wurde langsam schwarz, und dann tauchte ein neues Bild auf, ein Atomkraftwerk, aus dessen Kühltürmen Schwaden von Dampf in den Himmel stiegen. »Der Reaktordruckbehälter und die Kühlwasserrohre in einem solchen Reaktor sind ungefähr fünfzehn Zentimeter dick«, sagte er. »Diese Teile müssen höllisch belastbar sein, genau wie die Schweißnähte, die sie zusammenhalten.« Er ließ eine Reihe geisterhafter Bilder aufflackern, röntgenbildähnliche Aufnahmen von Rissen und Adern und Blasen in Metallröhren, von Sprüngen und Lücken in Nähten. »Dies sind Aufnahmen von Röhren und Schweißnähten in einem Atomkraftwerk«, sagte er. »Und dies ist der Isotopenstrahler, mit dem sie aufgenommen wurden.«

Das nächste Dia zeigte einen niedrigen Transportkarren mit vier Rädern, beladen mit einem Instrument von der Größe und Form einer Blechtruhe. »Dies ist ein gewerblicher Gammastrahlenprojektor«, erklärte Thornton. »Betrachten Sie ihn als den Turbo-Bruder eines medizinischen Röntgenapparats. Er arbeitet mit Gammastrahlung statt mit Röntgenstrahlen, denn Gammastrahlung ist energiereicher und kann besser durch Stahl dringen.« Er blendete eine Nahaufnahme des Kastens auf dem Karren ein, der in der Vergrößerung aussah wie eine Blechtruhe mit Skalen und Kabeln an einem Ende. »Dieses spezielle Gerät arbeitet mit Kobalt-60, nicht mit Iridium wie die Gammastrahlungsquelle, und hat eine Strahlungsintensität von dreihundert Curie, und das ist um einiges heißer als das, womit wir es zu tun haben.«

Ich erinnerte mich an eine Besichtigung des Kernkraftwerks Watts Bar, flussabwärts von Knoxville gelegen. »Kernkraftwerke haben ein ziemlich gutes Sicherheitssystem«, meinte ich. »Wäre es nicht ziemlich schwierig für den Guten, dieses Ding durchs Tor zu rollen und auf die Ladefläche seines Pick-ups zu hieven?«

»Sie haben Recht. Also, wer benutzt noch solche Gammastrahlenprojektoren?« Er zeigte eine Reihe von Dias riesiger Industrieanlagen – ausgedehnte dreidimensionale Irrgärten aus Rohren und Stahlträgern und stählernen Abgaskaminen füllten die Wand. »Erdölraffinerien. Chemische Fabriken. Genau wie kerntechnische Anlagen pumpen sie gefährliches Zeug unter hohem Druck und bei hohen Temperaturen durch dickwandige Rohre. Genau wie die hier.« Er zeigte in rascher Folge Dias von Rohrleitungen: die Ölpipeline in Alaska, ein Wasserrohr im Westen, eine Erdgaspipeline. »Sämtliche Pipeline-Betreiber der Welt sorgen sich um Probleme an den Schweißnähten«, sagte er. »Just in diesem Augenblick, während wir hier sitzen, sind Dutzende von Technikern – vielleicht auch hunderte im Land unterwegs und machen Durchstrahlungsaufnahmen von Kraftwerken, Raffinerien, Chemiefabriken und Pipelines.« Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. »Und viele von ihnen benutzen nicht das große Ding auf dem Karren. Viele von ihnen benutzen Geräte wie dieses.« Er blendete das nächste Dia ein.

Ich betrachtete die Beine, die Hüfte und den herabhängenden Arm eines Mannes, der bei der Arbeit fotografiert worden war. In der Hand hielt er ein strahlend gelbes Ding, das mich in Größe und Form an eine Bauarbeiter-Lunchbox erinnerte – die schwarzen, truhenähnlichen Dinger mit eckigem Unterteil für ein Sandwich, einen Apfel, eine kleine Tüte Chips und ein paar Kekse und einem gewölbtem Deckel, in dem die Thermosflasche Platz fand. An einem Ende der gelben Kiste ragte jedoch ein schweres, an ein Rohrformstück erinnerndes Ansatzstück heraus, und auf der Seite prangte unübersehbar das universelle Strahlenwarnzeichen. »Dies ist, wie man sieht, ein Handgerät«, sagte Thornton. »Sehr kompakt, sehr tragbar. Das Gehäuse ist ziemlich stabil und so gut abgeschirmt, dass eine Zweihundert-Curie-Iridium-Quelle legal in jedem Fahrzeug transportiert werden kann.«

Er zeigte ein weiteres Bild, auf dem ein kastenförmiges Gerät zu sehen war, das oben einen rohrförmigen Griff hatte. Auf diesem Foto waren erheblich mehr Details zu erkennen. »Noch ein tragbares Isotopenarbeitsgerät«, sagte Thornton, »der RadioGraph Elite von der Firma Field Imaging Equipment in Shreveport, Louisiana.« Er holte einen Laserpointer aus der Hemdtasche und fuhr mit dem Lichtpunkt den rechteckigen Umriss des Instruments nach. »Dieser ist sechsunddreißig Zentimeter lang und dreizehn Zentimeter breit, etwa die Größe und die Form einer Zeitungsbox, wie die Leute auf dem Land sie sich unter den Briefkasten hängen. Das Gehäuse ist aus Edelstahl, und im Gehäuse ist zur Abschirmung ein Block aus abgereichtertem Uran. Er ist klein, und man kann ihn an diesem Griff tragen, aber man möchte ihn nicht weit tragen, denn das blöde Ding wiegt dreiundzwanzig Kilo. Der Hersteller bezeichnet ihn als tragbar, ich würde ihn eher ›schleppbar‹ nennen.«

Er ersetzte das Foto durch eine Schnittzeichnung des Isotopenarbeitsgeräts. Das Innere bestand hauptsächlich aus einem Block abgereichertem Uran. Ein hohles Rohr oder ein Schlauch zog eine flache S-Kurve durch die Mitte des Blocks, und Thornton fuhr mit dem Laserpunkt über einen Draht, der in diesem S lag. »Dieses ist der Strahlenführungsschlauch, auch Strahlerführung genannt«, sagte er, »und hier, am Ende des Schlauchs …«, der Laserpunkt hüpfte auf einem kleinen, runden Pellet herum, »… sitzt die Gammaquelle: kaum größer als ein Reiskorn, aber sie besteht aus Iridium-192 und hat eine Strahlungsintensität von zweihundert Curie.« Das Pellet kam mir erschreckend bekannt vor.

»Wie funktioniert das?«, fragte Emert. »An einem Ende ist ein Bleiverschluss? Der öffnet sich und schickt ein Bündel Gammastrahlen durch das Rohr?«

»Das ist das Seltsamste, finde ich«, sagte Thornton. »Um eine Durchstrahlungsaufhahme zu machen, legt man hinter dem Rohr einen Film ein, versteckt sich hinter einem Schutzschirm und dreht eine Kurbel, die das Kabel aus dem Ende des Kastens schiebt. So können die Gammastrahlen von der Quelle durch das Rohr gehen – und auch durch so ziemlich alles andere in der Nähe – und auf den Film treffen.«

»Klingt irgendwie primitiv«, sagte Emert.

»Und irgendwie gefährlich«, fügte ich hinzu.

»Ja, allerdings«, sagte Thornton. »Das ist es tatsächlich. Jedes Mal, wenn jemand ein solches Isotopenarbeitsgerät benutzt, ist es unglaublich wichtig, alle anderen aus dem Bereich zu entfernen. Die Menschen, die mit diesen Dingern arbeiten, haben von allen Arbeitern im ganzen Land die höchste jährliche Strahlenbelastung – zehnmal höher als die Arbeiter in einem Atomkraftwerk. Und das auch nur, wenn das Ding richtig funktioniert. Wenn etwas schiefgeht, kann es richtig schlimm werden, und zwar sehr schnell.« Er zeigte ein Foto einer Strahlerführung, nur das Kabel und das radioaktive Pellet, getrennt von dem Isotopenarbeitsgerät. »Das Kabel kann sich schon mal lösen«, sagte er. »Die Bedienungsperson denkt, sie hat es in das Isotopenarbeitsgerät zurückgekurbelt, doch stattdessen liegt es auf dem Boden und setzt jeden der Gammastrahlung aus, der das Pech hat, in seine Nähe zu kommen.«

»Oder es aufzuheben«, sagte ich bitter.

»Oder es aufzuheben«, wiederholte er und erzählte uns, während er uns gleichzeitig die entsprechenden Bilder dazu zeigte, die Geschichte eines Pipeline-Schweißers in Peru, der am späten Nachmittag des 20. Februar 1999 ein kurzes Stück Drahtseil auf dem Boden fand. Da er dachte, er könnte es für irgendetwas brauchen oder als Schrott verkaufen, hob der Mann das Drahtstück auf und steckte es in die Hosentasche. Dort blieb es, bis er am Abend seine Hose auszog und über einen Stuhlrücken hängte. Die Frau des Mannes saß kurz auf diesem Stuhl.

Gegen ein Uhr in der Nacht klopfte es an der Tür. Im Laufe des Abends hatte die Bedienperson versucht, ein Bild einer Schweißnaht zu machen. Als der Mann den Film entwickelte, hatte er festgestellt, dass er leer war, unbelichtet. Eine Überprüfung des Isotopenarbeitsgeräts ergab, dass die Strahlerführung weg war. Eine verzweifelte Suche begann, die schließlich zum Haus des Schweißers führte, wo die Strahlungsquelle entdeckt wurde. Das Iridium hatte sich sechs Stunden lang am Bein des Mannes befunden und einige Minuten lang in der Nähe des Rückens seiner Frau. Doch diese Stunden und Minuten hatten alles verändert.

Zwanzig Stunden nachdem er die Strahlungsquelle eingesteckt hatte, betrat der Schweißer ein Krankenhaus in Lima. An der Rückseite seines rechten Oberschenkels hatte sich ein rotes Oval gebildet, und er musste sich immer wieder übergeben. Am nächsten Tag war aus dem Oval eine offene Wunde geworden, und das umgebende Gewebe war entzündet. Innerhalb von einem Monat ging der Krater fast bis zum Knochen, und Infektionen und Gewebeschäden breiteten sich aus. Sechs Monate nachdem der Mann der hohen Strahlenbelastung ausgesetzt gewesen war, amputierten Chirurgen in Paris ihm das rechte Bein und entfernten die rechte Hälfte seines Beckens – solche Knochenverletzungen waren mir noch nie zu Gesicht gekommen – sowie einen Großteil seines Darm- und Harntraktes. Die Frau hatte mehr Glück, sie entwickelte eine Verbrennung am unteren Rücken, doch die heilte wieder.

Die Wand wurde dunkel, doch die Bilder standen mir noch vor Augen, und eine Weile sagte niemand etwas. Schließlich ergriff Emert das Wort. »Der Mann hat überlebt?«

»Ja. Und er lebt immer noch«, sagte Thornton. »Wenn man das leben nennen kann.«

Meine Gedanken wanderten von Krankenhäusern in Peru und Paris zu einem Krankenhaus in Knoxville. Ich betete, dass ich nicht gerade eine Vorschau auf das gesehen hatte, was Eddie Garcias Händen oder Mirandas Fingern drohte.

»Sie glauben also, die Gammaquelle in Novaks Eingeweiden stammt aus einem solchen gewerblichen Isotopenarbeitsgerät?«

»Wir sind uns praktisch sicher. Field Imaging Equipment schickt jemanden aus Shreveport rauf nach Savannah River, um es abzuklären.«

»Und sie können uns sagen, aus wessen Isotopenarbeitsgerät die Strahlungsquelle kam?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, es wäre so einfach. Es gibt tausende von diesen Dingern, zum Beispiel überall in den Erdölfördergebieten in Texas und an der Golfküste, und sie sind nicht so streng reglementiert oder streng überwacht, wie man annehmen möchte. Wenn eine Raffinerie oder ein Unternehmen, das Pipeline-Inspektionen anbietet, eines kauft, müssen sie es bei der NCR, der Atomaufsichtsbehörde, registrieren lassen. Aber danach?« Er zuckte die Achseln. »Danach können sie es in einen Jeep werfen und damit von einer Küste zur anderen fahren. Wenn es verloren geht oder gestohlen wird, muss der Besitzer das der Atomaufsichtsbehörde melden. Aber was, wenn es eine Weile niemand merkt? Womöglich ist es ein, zwei Wochen im Dauereinsatz und wird dann für sechs Monate oder ein Jahr in einem Werkzeugschrank eingeschlossen. Zum Teufel, in dem Chaos, das der Hurrikan Katrina angerichtet hat, sind hunderte davon verloren gegangen. Hauptsächlich verloren, aber wahrscheinlich wurden auch einige gestohlen.«

»Hunderte?« Die Zahl erstaunte mich.

»Mehrere hundert. Fast alle konnten inzwischen sichergestellt werden.«

»Fast?«

»Ein paar sind immer noch unauffindbar«, räumte er ein.

»Dann könnte die Strahlungsquelle, die Novak getötet hat, also aus einem dieser verschwundenen Katrina-Isotopenarbeitsgeräte stammen?«

»Einen Augenblick«, sagte er, »dazu komme ich gleich. Was die Sache weiter verkompliziert, ist die Tatsache, dass die Strahlungsquelle, die wir in Novaks Leiche gefunden haben, keine Seriennummer trägt.«

»Garcia«, sagte ich. »Garcia hat sie in Novaks Leiche gefunden.«

»Tut mir leid«, sagte er. »Ja, die Quelle, die Dr. Garcia in Novaks Leiche gefunden hat. Auf dem Isotopenarbeitsgerät ist eine Seriennummer, aber auf dem Pellet ist dafür kein Platz. Was zu dumm ist, denn wir haben ja nur das Pellet.« Er zuckte noch einmal die Achseln, und aus irgendeinem Grund fand ich dieses Achselzucken – dieses resignierte Da-kann-man-nichts-machen-Achselzucken – unerträglich.

»Zum Donnerwetter!«, fuhr ich auf. »Können wir denn gar nichts tun, um herauszufinden, wo das Ding herstammt? Macht sich in der Regierung niemand Sorgen um so etwas? Macht sich außer mir überhaupt noch irgendwo jemand Sorgen darüber?« Thornton und Emert starrten mich an, erstaunt über den Ausbruch, und ich erkannte, dass mein Zorn weniger auf die Gefahren tragbarer Strahlungsquellen zurückzuführen war – Gefahr konnte man in jeder Technik finden, wenn man danach suchte –, als vielmehr auf meine Hilflosigkeit, nichts für Miranda oder Garcia tun zu können. »Tut mir leid«, sagte ich. »Das war daneben.«

»Das ist doch verständlich«, sagte er. »Sie haben Menschen, deren Gesundheit und Sicherheit in Gefahr geraten sind. Positiv betrachtet, haben wir zwei Dinge, die uns helfen können, die Suche einzugrenzen.«

»Schießen Sie los«, sagte ich. »Ich kann gute Nachrichten gebrauchen.«

»Falls Sie sich erinnern, die Halbwertszeit beträgt nur vierundsiebzig Tage. Wenn Sie also eine frische Zweihundert-Curie-Iridium-Quelle in Ihren RadioGraph Elite legen, ist sie vierundsiebzig Tage später auf hundert Curie abgeklungen und nach hundertachtundvierzig Tagen auf fünfzig Curie. Am Ende des Jahres hat das Zeug fünf Halbwertszeiten durchlaufen, sodass seine Strahlungsintensität nur noch bei sechs Curie liegt. Dass die Strahlungsquelle in Novaks Leiche immer noch hundert Curie hatte, verrät uns etwas sehr Nützliches.«

»Es verrät Ihnen, dass sie relativ frisch war«, sagte ich. »Und es verrät Ihnen, dass sie nicht aus einem Isotopenarbeitsgerät stammte, das beim Wirbelsturm Katrina verloren ging.«

»Bingo«, meinte er.

»Und wer stellt solche Strahlungsquellen her?«, fragte ich. »Und wie und wo und wann? Hat dieser Verein in Shreveport einen Reaktor oder ein Zyklotron oder was immer man braucht, um Iridium-192 herzustellen? Produzieren sie das Zeug in großen Chargen – hunderte auf einmal? – oder immer nur ein paar gleichzeitig? Wie schwierig kann es sein, alle aufzuspüren, die in den letzten drei Monaten so ein Pellet gekauft haben?«

Er lächelte über die Salve von Fragen. »Es ist schwieriger, als mir lieb ist«, sagte er. »Deswegen haben wir hundert Leute darauf angesetzt. Kennen Sie die alte Metapher von der Spitze des Eisbergs?« Ich nickte. »Nun, ich bin nur der Typ, der oben auf der Spitze des Eisbergs steht. Darunter ist alles in trübes Wasser getaucht.«

In diesem Augenblick klingelte sein Handy – ein seltsames Trällern, das ich noch nie von einem Handy gehört hatte. Er wirkte verdutzt, dann murmelte er: »Entschuldigen Sie mich bitte«, wandte uns den Rücken zu und sprach leise, doch ich konnte einige Worte verstehen, hauptsächlich »Ja, Sir« und »Nein, Sir« und »Vielen Dank, Sir«. Er beendete das Gespräch mit dem Versprechen, vor Feierabend noch einmal anzurufen und seinen Gesprächspartner auf den aktuellen Stand zu bringen. Dann wandte er sich uns wieder zu, zwischen peinlich berührt und völlig konfus. »Es tut mir leid«, sagte er, »ich musste rangehen. Wenn der Mann anruft, geht man ran.«

»Welcher Mann?«, fragte ich. »Ihr Chef? Der Leiter der Sektion für Massenvernichtungswaffen?«

»Der Chef seines Chefs seines Chefs«, sagte Thornton. »Der Direktor. Vom FBI. Er will dreimal täglich einen Lagebericht. Der Fall steht ganz oben auf seiner Prioritätenliste.«

Ich spürte, wie mir plötzlich die Kehle eng wurde und eine Welle der Hoffnung in mir aufstieg, dass wir vielleicht doch noch herausfinden würden, wer Novak getötet hatte und wer womöglich langsam Garcia tötete.