20
Am nächsten Morgen statteten Miranda und ich Garcia einen kurzen, aber erfreulichen Besuch im Krankenhaus ab. Er wirkte immer noch schwach, seine verbrannten Hände waren ziemlich empfindlich, und seine Lymphozytenzahl blieb gefährlich niedrig, doch seine Stimmung war überraschend gut. Er war beim sechsten Kapitel einer sterilisierten Ausgabe von Die Atombombe oder die Geschichte des 8. Schöpfungstages, eines der Bücher, die ich auf Leonard Novaks Tisch gesehen hatte. Das Buch lag auf einer Buchstütze, und Garcia blätterte die Seiten mit dem Radiergummiende eines Bleistifts um, den er mit seiner dick verbundenen rechten Faust halten konnte. »Tolles Buch«, meinte er. »Diese Wissenschaftler des Manhattan-Projekts waren große Denker. Aber komplizierte Menschen.« Ich war überrascht über die Wahl seines Lesestoffs, doch froh, ihn in so guter Stimmung zu sehen.
Danach fuhren Miranda und ich ins Knochenlabor. Wir hatten uns gerade wieder an die Rekonstruktion des Schädeldachs des im Norden von Knoxville gefundenen Skeletts gesetzt, als Chip Thornton an die Tür klopfte. »Wow«, sagte er. »Ein Skelettbausatz. Das macht bestimmt Spaß.«
Miranda schnitt ihm eine Grimasse. »Sind Sie gekommen, um uns zu helfen?«
»Ja«, sagte er. »Okay, nein, das war gelogen. Ich war in der Gegend und dachte, ich könnte das genauso gut persönlich weitergeben statt telefonisch.« Das ist auch gelogen, dachte ich. Du hast dir gedacht, du schaust mal rein und flirtest mit Miranda. »Wir haben einige Leute darauf angesetzt, alte Sicherheitsakten auszugraben«, sagte er, »und haben in Dr. Novaks Akte eine interessante Notiz gefunden. Anscheinend hatte man damals schon den Verdacht, Novak wäre homosexuell. Der militärische Nachrichtendienst hat empfohlen, ihn als Sicherheitsrisiko einzustufen und von dem Projekt abzuziehen, doch General Groves persönlich hat das verhindert – er schrieb, Novak könne seinetwegen mit Kühen und Schweinen verkehren, solange er in den Reaktoren in Oak Ridge und Hanford nur ausreichend Plutonium produziere.« Miranda wirkte angewidert. Vermutlich hatte ihr Entsetzen weniger mit der Vorstellung von speziesübergreifendem Verkehr zu tun, als vielmehr damit, dass Groves den Wissenschaftler so bedenkenlos verspottete, von dem er doch gleichzeitig vollkommen abhängig war.
»Der arme Novak«, sagte sie und bestätigte damit meine Vermutung. »Was um alles in der Welt hatte er nur in der finstersten Provinz von Tennessee zu suchen?«
»Da war das Projekt«, sagte Thornton. Für einen so klugen Burschen neigte er gelegentlich dazu, Dinge allzu wörtlich zu nehmen. »Groves hat Oak Ridge aus vielen verschiedenen Gründen zum Hauptstandort des Manhattan-Projekts gewählt«, sagte er. »Weit genug im Landesinnern, dass die Deutschen und Japaner es nicht angreifen konnten. Isoliert genug, um unterhalb des Radarschirms zu bleiben. Guter Zugang zu Eisenbahnlinien, Kühlwasser, hydroelektrischer Energie und zivilen Arbeitskräften.« Ich nickte, das hatte ich auch schon in den Geschichtsbüchern gelesen, die ich in der vergangenen Woche aus der Stadtbücherei in Oak Ridge nach Hause geschleppt hatte. »Ich weiß nicht, ob es seine Wahl irgendwie beeinflusst hat«, fuhr er fort, »oder ob es nur etwas war, was Groves im Laufe der Zeit zu schätzen lernte, aber die Leute in den Appalachen sind ziemlich mundfaul.«
Miranda schürzte die Lippen und meinte nur: »Yep.« Thornton und ich lachten.
»Und konservativ«, sagte er. »Oak Ridge war praktisch das genaue Gegenteil von Los Alamos. Los Alamos war voller geschwätziger Liberaler, und zwar durch die Bank. Meine Güte, bis Groves ihm die Leitung von Los Alamos übertrug, hat Robert Oppenheimer kommunistischen Wohltätigkeitseinrichtungen Geld gespendet. Oppenheimers Frau Kitty war Mitglied der Kommunistischen Partei. Genau wie sein jüngerer Bruder Frank. Und auch Oppenheimers Freundin, bis sie Selbstmord beging.«
»Warten Sie, warten Sie«, sagte Miranda. »Freundin wie in ›bevor er Kitty geheiratet hat‹? Oder Freundin wie in ›während er mit Kitty verheiratet war‹?«
»Vielleicht beides«, sagte Thornton. »Vor seiner Hochzeit mit Kitty war er mit einer Frau namens Jean Tatlock verlobt, und nach seiner Heirat hatte er weiterhin gelegentlich Kontakt mit ihr. Eine der gruseligeren Sachen in Oppenheimers Akte ist ein Bericht eines Abwehroffiziers namens Boris Pash, der Oppenheimer im Juni 1943 von Los Alamos nach Berkeley gefolgt ist. Pash beobachtete, wie Oppy in Tatlocks Wohnung ging, notierte, um welche Zeit das Licht ausging, und schrieb dann auf, wann sie am nächsten Morgen aus dem Gebäude kamen.«
»Pfui Teufel«, sagte Miranda.
»Uns mag das zu weit gehen«, wandte Thornton ein, »aber diese Männer haben an einem Projekt gearbeitet, bei dem es um Leben oder Tod ging, um das Schicksal der ganzen Nation. Oppenheimer war von allen Wissenschaftlern in der sensibelsten Position. Und Berkeley, von wo er und einige andere Wissenschaftler in Los Alamos kamen, war eine Brutstätte des Kommunismus. Sie meinen, Berkeley wäre in den 1960er- und 1970er-Jahren links gewesen? Da hätten Sie es mal in den Dreißigern und Anfang der 40er-Jahre erleben müssen.«
»Wenn ich zwischen Spannern und linken Liberalen wählen müsste«, sagte Miranda, »würde ich mich jederzeit für den Haufen in Berkeley entscheiden.«
»Feiner Ort«, sagte Thornton, »wenn man Marx und Lenin mag.« In meinem Hinterkopf ertönte eine leise Alarmglocke, doch ich ignorierte sie. »Oppenheimer und die Leute, die er nach Los Alamos gebracht hat, waren genial, da gibt es keinen Zweifel«, fuhr der FBI-Beamte fort. »Sie haben die einzelnen Teile der Bombe zusammengesetzt. Doch Los Alamos war leck wie ein Sieb, dort konnte alles durchsickern. Oppenheimer hat Los Alamos geleitet wie den Fachbereich Physik an einer Universität. Er hielt Seminare ab, in denen ganz offen über die Bombe diskutiert wurde. Er hat den Leuten ein vervielfältigtes Skript in die Hand gedrückt – The Los Alamos Primer wurde es genannt –, in dem alles zusammengefasst war, was sie über den Bau einer Atombombe wussten.«
»Wahrscheinlich hat das dazu beigetragen, die Sache zu beschleunigen«, sagte Miranda. »Synergie, wechselseitige Befruchtung, intellektuelle kritische Masse – all das Zeug, an das wir liberalen Elfenbeinbewohner glauben, wissen Sie?«
Thornton sah sie mit einem leichten Stirnrunzeln an, er fand das mit dem Skript wohl nicht so gut, und ihr scharfer Kommentar gefiel ihm anscheinend auch nicht besonders. »Mag ja sein, dass es das Manhattan-Projekt beschleunigt hat, aber es hat auch den Sowjets auf die Sprünge geholfen«, sagte er. »Ein Physiker in Los Alamos, Klaus Fuchs, hat eine Kopie des Skripts, oder zumindest die wichtigsten Einzelheiten daraus, im Juni 1945 an einen sowjetischen Geheimdienstler weitergegeben. Es war, als hätte er ihm einen Satz Blaupausen für die Bombe in die Hand gedrückt. Der Kerl hat uns für fünfhundert Dollar verraten.«
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte. »Fünfhundert Dollar? Die Sowjets haben das amerikanische Atomgeheimnis für fünfhundert Dollar bekommen?«
Er nickte. »Ich mag Oak Ridge«, sagte er. »Oak Ridge war um einiges größer als Los Alamos, aber sehr viel hermetischer. Und auch sehr viel mehr zergliedert. Die meisten wussten nicht, woran sie arbeiteten. Sie sprachen oder spekulierten eher nicht darüber. Und wenn doch, wurden sie zum Tor hinausbegleitet, denn jeder, mit dem sie sprachen, konnte eine Petze sein.«
»Eine Petze?« Die Bezeichnung schien Miranda nicht zu behagen. »Wieso sagen Sie Petze?«
»Weil es das einzig passende Wort dafür ist«, sagte er. »Sicherheit genoss in Oak Ridge höchste Priorität. In Oak Ridge waren hunderte von Geheimdienstlern. Manche in Uniform, manche nicht. Manche hatten zur Tarnung einen Job – sie gingen herum, testeten Batterien, wechselten Glühbirnen aus, niedere Arbeiten, sodass sie Zeit hatten, die Arbeiter überall auf dem Gelände zu beobachten und die Ohren zu spitzen. Doch am schlimmsten wurde bei der Acme Credit Corporation gepetzt.«
Miranda schnaubte. »Acme? Wie blöd ist das denn? Klingt wie aus einem Road-Runner-Cartoon.«
Thornton lächelte ein wenig. »Heutzutage klingt das wirklich recht blöd. Damals hat es wahrscheinlich nicht so blöd geklungen – damals, vor Road Runner. Mitten im Kampf um die Weltherrschaft.«
Miranda wurde ein wenig rot. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte nicht so zynisch und ironisch sein. Was war die Acme Credit Corporation?«
»Ein Deckname und eine Postfachadresse in Knoxville«, sagte Thornton. »Wenn die Leute vom Abwehrdienst einen für vertrauenswürdig befanden – aufgrund ihrer Hintergrundüberprüfung oder weil sie sich umgehört hatten oder was auch immer –, baten sie einen, Augen und Ohren offen zu halten und alles zu berichten, was einem verdächtig vorkam. Wenn man sich damit einverstanden erklärte, bekam man voradressierte Umschläge und leere Briefkarten, und wenn einem etwas oder jemand verdächtig vorkam, musste man nur den Namen und das, was er oder sie getan oder gesagt hatte, auf die Karte schreiben und in den Briefkasten werfen. Wenn alles unauffällig war, schickte man eine leere Karte. Jedem Hinweis wurde nachgegangen.«
Miranda lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und kaute ein wenig auf ihrer Unterlippe herum. Wenn sie das tat, lag meiner Erfahrung nach Streit in der Luft. »Inwiefern verdächtig? ›Der und der baut im Keller Bomben‹-verdächtig? Oder ›Der und der trägt gern die Unterwäsche seiner Frau‹-verdächtig?«
»Wahrscheinlich beides«, sagte er. »Ein Vorfall, von dem ich gehört habe, betraf einen Mann, der eines Tages beim Mittagessen darüber schwafelte, dass das sowjetische Regierungssystem besser sei als das amerikanische. Ein, zwei Tage später ging bei Acme eine Nachricht ein, und der Typ war verschwunden – man hatte ihm seine Entlassungspapiere in die Hand gedrückt und ihm gesagt, er brauche nicht mehr wiederzukommen.«
»Was ist aus der Redefreiheit geworden?« Miranda schüttelte den Kopf. »Klingt mir ganz wie Ostberlin während des Kalten Krieges, wo die Menschen ihre Freunde und Nachbarn bei der Stasi verpfiffen haben.«
»Ach, kommen Sie«, sagte Thornton. »Wir waren mitten in einem schrecklichen Krieg. Einem globalen, apokalyptischen Krieg. Geheimkodes, Spione, Sabotage – das war die Wirklichkeit, darum sorgte man sich aus gutem Grund. Eine leichte Verletzung der Bürgerrechte in einer streng geheimen militärischen Einrichtung scheint mir eines der geringeren Übel des Zweiten Weltkriegs zu sein.«
»Kinder, Kinder«, sagte ich. »Wir wollen doch nicht zanken.« Ich hörte, wie Miranda tief Luft holte, und dann sah ich, dass sie sich entspannte, was bedeutete, dass auch Thornton und ich uns entspannen konnten. »Hat die Armee eine Akte, die uns verraten kann, warum Leonard Novak zu dem Zeitpunkt, als er ermordet wurde, Bücher über Spionage gelesen hat?«
»Das hoffe ich«, sagte er. »Wir haben Leute darauf angesetzt, die Venona-Abschriften zu sichten, ob sie irgendeine Verbindung zu Novak finden.«
Miranda sah uns verwirrt an. »Venona war der Kodename für eine groß angelegte Spionageabwehroperation«, erklärte Thornton. »Zwischen 1944 und 1948 hat die Behörde, die jetzt den Namen NSA – National Security Agency – trägt, tausende von Telegrammen, die von sowjetischen Konsulaten überall in der Welt nach Moskau geschickt wurden, abgefangen und dekodiert. Das meiste war langweiliges, bürokratisches Zeug. Doch einige, besonders die von New York nach Moskau, waren Spionageberichte. Sie haben Kodenamen für Menschen und Orte benutzt – die Botschaften waren kodiert, und die Namen waren innerhalb dieses Kodes noch einmal kodiert, doch die Dechiffrierung der meisten ist gelungen. Eine erstaunliche Großtat, wirklich, denn die Sowjets benutzten komplizierte Kodes, die sie jeden Tag wechselten. Entzifferer haben besondere Zahnräder in ihrem Kopf – wie Physiker –, mit deren Hilfe sie Dinge erfassen können, die für uns einfache Sterbliche einfach keinen Sinn ergeben. Wie auch immer, eine der interessantesten aufgefangenen Meldungen war Telegramm 940 …«
»Telegramm 940? Das gefällt mir«, fiel Miranda ihm ins Wort. »Es klingt ja sogar nach Spionagethriller.« Sie beugte sich über den Tisch, ganz gespannte Aufmerksamkeit. Thornton lächelte, erfreut, dass er sie für sich eingenommen hatte, oder erleichtert, dass sie vom hohen Ross der Bürgerrechte heruntergekommen war.
»Telegramm 940 wurde im Dezember 1944 abgeschickt«, sagte er. »Es listete siebzehn Wissenschaftler auf, die an dem arbeiteten, was man ›das Problem‹ nannte. Unter den Namen waren Enrico Fermi, Hans Bethe, Niels Bohr, George Kistiakowsky, Ernest Lawrence, Edward Teller, John von Neumann und Arthur Compton – einige der besten Köpfe des Manhattan-Projekts.«
Ich hielt eine Hand hoch und musste damit praktisch zwischen Thornton und Miranda hin und her wedeln, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
»Einige dieser Namen kenne ich«, sagte ich, »aber nicht alle. Fermi war derjenige, der den kleinen Reaktor unter dem Stadion in Chicago zusammengeschustert hat. Aber Bethe und Bohr … Da müssen Sie mir auf die Sprünge helfen. Physiker?«
»Richtig«, sagte er. »Sie waren in der ›Theorieabteilung‹ in Los Alamos. Bohr war Nobelpreisträger genau wie Lawrence und Fermi natürlich. Bohr floh direkt unter den Augen der Nazis, die hofften, ihn anzuwerben, aus Dänemark. Er schaffte es nach London, von wo er und sein Sohn in einem Transportflugzeug der Armee in die Staaten geflogen wurden.«
»Edward Teller«, sagte Miranda. »Ich bin kein Fan von ihm.«
»Nein, das würde ich auch nicht erwarten«, sagte er. »Tellers Berühmtheit rührt natürlich aus den späten 40erund 50er-Jahren, als er auf die Wasserstoffbombe drängte – ›Superbombe‹ nannte er sie –, gegen die Bedenken Oppenheimers. Im Manhattan-Projekt haben Teller und Neumann daran mitgearbeitet, den Implosionszünder für die Plutoniumbombe zu entwickeln, die über Nagasaki abgeworfen wurde.« Ich sah, wie sich Mirandas Blick bei der Erwähnung von Nagasaki umwölkte; mir war aufgefallen, dass sie jedes Mal schwer schluckte, wenn die Diskussion von der Herkulesarbeit des Manhattan-Projekts auf die Früchte dieser Arbeit kam.
In der Hoffnung, uns von Nagasaki wegzubringen, warf ich eine weitere Frage ein. »Was ist mit Kistiakowsky? Von dem habe ich noch nie etwas gehört.«
»Interessanter Mann«, meinte Thornton. »Sprengstoffexperte. Er hat die erste Skipiste in Los Alamos geräumt, indem er die Bäume mit Sprengstoff fällte.«
»Cooler Typ«, meinte Miranda. »Sehen Sie, so eine Verwendung von Sprengstoff kann ich frohen Herzens unterstützen.« Ich gratulierte mir schon dafür, dass ich nach Kistiakowsky gefragt hatte, da tappte Thornton bereits in das nächste Fettnäpfchen.
»Kistiakowsky war einer der unbesungenen Helden des Projekts, wenn Sie mich fragen«, sagte er. »Er war die Verbindung zwischen den Luftschlössern der theoretischen Physiker und den praktischen Realitäten des Baus der Bombe – des ›Dings‹, wie sie sie in Los Alamos nannten – und ihrer Zündung. Kistiakowsky kam auf die Idee, für das Plutonium Sprengstofflinsen einzusetzen.«
»Linsen?« Ich hatte nicht gewusst, dass für Atombomben auch optische Elemente gebraucht wurden.
»Keine richtigen Linsen«, sagte er. »So haben sie die Keile aus konventionellem hochexplosivem Sprengstoff genannt. Die Linsen umgaben den kugelförmigen Plutoniumkern. Die Theorie lautete, wenn die Linsen explodieren, lösen sie eine sehr fokussierte Schockwelle aus, die das Plutonium zu einer kritischen Masse komprimiert.«
»Und krawums?« Die Schärfe in Mirandas Frage war so zart, dass sie fast nicht zu hören war. Mir fiel sie auf, doch Thornton nicht.
»Krawums«, sagte er mit verhängnisvoller Munterkeit. »Aber die Keile, die Linsen, mussten mit unglaublicher Präzision hergestellt werden, also auf den millionsten Millimeterbruchteil genau. Niemand hat geglaubt, das Kistiakowsky das hinkriegen würde, auch Oppenheimer nicht. Es war sogar so«, fuhr er fort und erwärmte sich immer mehr für die Geschichte, »dass ein Grund, warum sie den Trinity-Test nicht mit einer Plutoniumbombe durchgeführt haben, der war, dass sie zuversichtlich waren, dass die Uranbombe funktionieren würde, hingegen fürchteten, die Plutoniumbombe könnte sich als Blindgänger erweisen. Den armen Kistiakowsky hatten sie für den Fall des Scheiterns schon als Sündenbock auserkoren. Am Ende hatte er die Skepsis der anderen so satt, dass er mit Oppenheimer um einen ganzen Monatslohn – gegen einen Einsatz von zehn Dollar auf Oppenheimers Seite – wettete, dass es funktionieren würde. Und das hat es natürlich auch.«
»Dann hat Kistiakowsky seine zehn Dollar bekommen«, sagte Miranda, »und Nagasaki wurde dem Erdboden gleichgemacht.« Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. »Eine echte Win-Win-Situation.«
»Es hätte schlimmer kommen können«, versetzte Thornton, der endlich zurückschlug. »Fermi hätte seine Wette gewinnen können.«
Verdammter Mist, dachte ich, und weiter geht’s.
»Und worauf hatte Fermi gewettet?«, fuhr sie auf. »Vielleicht darauf, dass wir zur Besinnung kommen und das verdammte Ding nicht über unschuldigen Zivilisten abwerfen?«
»Leute, Leute«, sagte ich in dem Versuch, den Konflikt zu deeskalieren, doch die Kettenreaktion war längst außer Kontrolle geraten.
»Nein«, entgegnete Thornton. »Fermi hatte gewettet, die Bombe würde die Atmosphäre entzünden. Er hatte auch noch Nebenwetten angenommen: Würde sie die ganze Welt verbrennen oder nur New Mexico?«
»Gütiger Himmel«, sagte Miranda. »Das ist ja widerlich.«
»Sie waren nicht dabei.« Thorntons Stimme war leise, aber hart wie Stahl. »Wie können Sie es wagen, über diese Menschen zu urteilen? Wie können Sie es wagen? Sie und ich gehören der am besten beschützten, verhätschelten Generation an, die je auf dem Antlitz der Erde gewandelt ist. Diese Wissenschaftler, viele von ihnen, waren Flüchtlinge, jüdische Flüchtlinge, aus Europa – dem Land von Adolf Hitler, dem Land des Holocaust –, schon vergessen? Sechs Millionen Juden wurden ermordet, nur weil sie Juden waren. Zigmillionen andere Zivilisten wurden getötet, nur weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort unter dem falschen Regime gelebt haben. Wenn diese Wissenschaftler das Bedürfnis nach ein wenig Galgenhumor hatten, wer wollte es ihnen verdenken? Der Galgen hat damals einen Schatten über die ganze Welt geworfen. Wie können Sie es wagen, in Ihrer privilegierten, liberalen Selbstgefälligkeit hier zu sitzen und ein moralisches Urteil über sie zu fällen?«
Miranda zuckte zurück, als hätte er sie ins Gesicht geschlagen. »Entschuldigen Sie mich bitte«, flüsterte sie. Sie stand auf, und bevor ich wusste, was geschah, war sie gegangen, und die Stahltür des Knochenlabors fiel hinter ihr ins Schloss.
Thornton und ich starrten einander nur an. »Ach, Mist«, sagte er schließlich. »Ich habe gerade ziemlich verbrannte Erde hinterlassen, was?«
»Ich hätte Sie irgendwie aufhalten sollen«, sagte ich. »Ihnen unter dem Tisch einen Tritt versetzen. Sie mit einem Femur verdreschen.«
Er rieb sich mit den Händen das Gesicht. »Das Blöde ist, ich mag sie wirklich«, sagte er. »Ich dachte, sie würde mich vielleicht auch mögen.«
»Das hat sie auch«, sagte ich. »Dabei ist sie notorisch wählerisch.«
»Mist.«
»Ach«, sagte ich. »Ihnen bleibt immer noch Paris. Oder Verona. Oder Venona. War da noch irgendetwas über Venona oder Novak oder ich weiß nicht, über irgendetwas, was Sie uns erzählen wollten, bevor Sie durch das Minenfeld von Mirandas Ansichten getrampelt sind?«
Er seufzte. »Ein wenig«, sagte er. »Noch nichts Konkretes, nur einige verlockende Möglichkeiten. In den Venona-Transkripten sind viele Kodenamen, die nie dechiffriert wurden – hunderte von Sowjetspionen in den Vereinigten Staaten in den vierziger Jahren, die nie identifiziert wurden. Wir gehen die Transkripte noch einmal durch und hoffen, mit etwas Glück auf etwas zu stoßen, was eine Verbindung zu Novak hat.«
»Ich möchte nicht zu pessimistisch sein«, sagte ich, »aber wenn sie damals, als es darauf ankam, tausende von Arbeitskräften und Millionen von Dollar dafür aufgewandt haben, ist es da inzwischen nicht eher eine Sackgasse?«
»Nicht unbedingt«, sagte er. »Es kommt immer noch Neues ans Tageslicht. Vor zwei Jahren erst erhielten wir neue Einsichten über einen der wenigen Spione, die nach Oak Ridge eingeschleust wurden. Einen Typ namens Koval, der während des Krieges als Sicherheitsbeauftragter für den Strahlenschutz in Oak Ridge, Los Alamos und Hanford gearbeitet hat. Seine Aufgabe war es, die Strahlenbelastung zu überwachen, also bekam er all die entscheidenden Anlagen zur Herstellung von waffenfähigem Uran und Plutonium zu sehen. Niemand hatte ihn damals in Verdacht, obwohl er in Russland gelebt und studiert hatte.«
»Ich dachte, die Sicherheitsvorkehrungen in Oak Ridge wären sehr hoch gewesen. Sie haben einen Russen mit einem Geigerzähler herumlaufen lassen?«
»Seine Eltern waren russische Einwanderer, aber Koval war Amerikaner, er war in Iowa zur Welt gekommen und auf den Namen George getauft worden. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts kamen Millionen von europäischen und russischen Einwanderern in die USA – ›Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren‹, erinnern Sie sich? Unter ihnen waren auch Kovals Eltern.«
Vor meinem geistigen Auge tauchte eine von Leonard Novaks Notizen auf seinem gelben Block auf. »George Koval?« Thornton nickte. »Novak hat sich kurz vor seinem Tod die Initialen GK notiert, und er hat damals Bücher über Venona gelesen. Vielleicht wusste er Bescheid über Koval. Vielleicht haben sie zusammengearbeitet. Könnten Ihre Leute George befragen, um zu sehen, ob unser Mann, Novak, einer von seinen Kameraden war?«
»George befindet sich außerhalb unserer Gerichtsbarkeit«, sagte Thornton trocken. »Er ist 1948 nach Moskau gezogen und 2006 gestorben. Vladimir Putin hat ihm posthum den Ehrentitel ›Held der Russischen Föderation‹ verliehen.«
»Verdammt«, sagte ich. »Also, vielleicht taucht zwischen der Acme Credit Corporation und den Venona-Transkripten ja doch noch irgendwo etwas auf.«
Er lächelte kläglich. »Im Gegensatz zu Kistiakowsky würde ich kein Monatsgehalt darauf verwetten«, sagte er. »Zum Teufel, keine zehn Dollar würde ich wetten. Aber wir graben weiter.« Da fiel ihm etwas ein. »Haben Sie immer noch einen Draht zu der Frau in Oak Ridge?«
Ich wurde rot. »Der Bibliothekarin? Isabella?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, der alten Dame. Beatrice. Der, die Novak geheiratet hat, ohne sich vorher mit der erforderlichen Sorgfalt über seine sexuelle Orientierung zu informieren.«
»Ah. Nein. Ich habe mit Beatrice nicht mehr gesprochen, seit sie Novak als homosexuell geoutet hat, aber es ist nicht so, als hätten wir Krach gehabt.«
»Sie Glücklicher«, sagte er. »Hören Sie, da Sie die Begabung besitzen, Madame Beatrice zum Plaudern zu bringen, wie wäre es, wenn Sie noch einmal zu ihr fahren und schauen, ob sie glaubt, Novak hätte Geheimnisse an die Sowjets weitergegeben?«
»Soll ich eine Nachricht an die Acme Credit Corporation schicken, wenn sie ihn verpetzt?«
»Klar«, sagte er. »Wir schauen zweimal am Tag im Postfach nach.« Er schob seinen Stuhl vom Tisch zurück. »Ich schätze, ich schleiche mich jetzt wieder in mein Büro«, sagte er. »Für heute habe ich hier genug Schaden angerichtet.«
»Sie meinen Miranda?« Er nickte. »Sie wollen doch nicht etwa schon das Handtuch werfen?«, sagte ich. »Ich dachte, Sie FBI-Agenten würden nie aufgeben. ›Wir kriegen immer unseren Mann‹, war das nicht ein früher FBI-Slogan?«
»Nein, das waren die kanadischen Mounties«, sagte er. »Die hatten einen besseren Werbetexter als wir. Abgesehen davon, die Sache mit Miranda, die liegt einfach außerhalb meines Fachgebiets. Die Bösen, die durchschaut man ziemlich leicht, Doc. Die phantastischen Frauen, die sind wirklich geheimnisvoll.«
»Ich weiß, Chip«, sagte ich und brachte ihn zur Tür des Labors. »Das macht sie ja so phantastisch.«