6
Bewaffnet mit Stiften und Notizblöcken rückten Miranda, Garcia, Emert und ich auf Plastikstühlen in einem Behandlungszimmer in der Notaufnahme zusammen und verglichen unsere Aufzeichnungen, wie Klassenkameraden vor einer Arbeit. Wir rekonstruierten das, was Sorensen den »zeitlichen Ablauf des Vorfalls« nannte und was Miranda formvollendet mit »Kurs auf Gefahr« betitelte. Wie lange hatte ich gebraucht, um Novaks Leiche mit der Kettensäge aus dem gefrorenen Swimmingpool zu befreien? Zehn Minuten? Fünfzehn? Hatten Miranda und ich eine ganze Stunde gebraucht, um mit der Leiche im Pick-up zurück nach Knoxville zu fahren? Weitere fünfzehn Minuten, bis sie auf der Fahrtrage lag und in das Leichenschauhaus geschafft war? Als Emert am nächsten Tag die Kleider durchsucht und Novak identifiziert hatte, waren der Kriminalbeamte und ich dreißig Minuten in der Nähe der Fahrtrage gewesen oder eher vierzig? Wie viel Lebenszeit war verstrichen zwischen dem Augenblick, da Garcia mit der Obduktion begonnen hatte, und dem Moment, wo wir aus dem Leichenschauhaus geflohen waren?
Während wir noch über die Minuten debattierten, zuckte Garcia zusammen und entschuldigte sich hastig. Miranda blickte ihm hinterher, wie er in Richtung Toilette eilte, und sah mich an. »Ich mache mir Sorgen um Eddie«, sagte sie. »Das sieht nicht gut aus. Aber ich verstehe nicht, warum seine Symptome so viel schlimmer sind als die von uns anderen. Wir waren es doch, die bei der Entdeckung der Leiche dabei waren, nicht er.«
»Vielleicht ist es nur der Stress«, sagte ich, doch noch während ich es sagte, klang es irgendwie falsch in meinen Ohren. Plötzlich wusste ich es. »Verdammt«, sagte ich. »Die Obduktion.«
»Aber da waren wir doch auch dabei«, sagte sie. »Sicher, er war Novak näher, aber doch nicht so viel.«
»Nicht Novaks Obduktion«, sagte ich, »sondern die, die Eddie an dem Tag gemacht hat, als wir Novak zum Auftauen reingebracht haben. Wissen Sie noch? Wir haben die Fahrtrage an dem anderen Waschbecken abgestellt, direkt hinter Eddie. Er war über etliche Stunden gerade mal einen guten halben Meter von ihm weg.«
Miranda schlug sich die Hand auf den Mund. »O Gott«, sagte sie. »Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Er hat an dem Tag sogar zwei gemacht. Und am nächsten Morgen, vor Novak, noch eine. Oh, das ist schlimm, Dr. B., sehr schlimm.« Ihr Kinn begann zu zittern, und in ihren Augen standen Tränen.
Ich warf einen Blick zu den beiden Ärzten hinüber, die mit der Krankenschwester namens Darcy die Köpfe zusammensteckten. Sie nickte und verschwand hinter einem Vorhang. Einen Augenblick später tauchte sie wieder auf und schob einen Infusionsständer mit einem Infusionsbeutel vor sich her. Hinter der Toilettentür rauschte die Spülung. Rasch wischte Miranda sich mit den Handrücken die Tränen aus den Augen und schniefte kurz. Sie nahm Stift und Notizblock zur Hand, als Garcia die Toilettentür öffnete und matt auf uns zukam.
Ich schaute Garcia voller Mitgefühl an. »Schießt’s schon wieder?«
Er schüttelte den Kopf. »Anderes Ende.« Er verzog das Gesicht.
Miranda blickte bei der Erwähnung dieses zusätzlichen Symptoms von Garcia zu mir. Sorensen und Davies kamen auf uns zu.
»Dr. Garcia, wir würden gern einen Schritt weiter gehen und Ihnen eine Infusion anhängen«, sagte Davies, »weil Sie zu viel Flüssigkeit verlieren.« Garcia nickte; als Arzt hatte er wahrscheinlich geahnt, dass sie ihm das vorschlagen würden. »Und wir würden Sie auch gern zur Beobachtung hierbehalten.« Falls Garcia das ebenfalls kommen sehen hatte, ließ er sich nichts anmerken. Sein Gesicht zeigte bei Sorensens Worten einen Ausdruck zwischen Schock und Verzweiflung, doch er nickte noch einmal. Wir gingen in einen angrenzenden Raum, und Eddie verschwand hinter einem Vorhang, wo er einen Kittel überstreifte, sich in ein Bett legte und eine Infusion angelegt bekam. Dann zog die Krankenschwester den Vorhang zurück, und wir versammelten uns um sein Bett, um mit der Rekonstruktion des zeitlichen Ablaufs fortzufahren.
»Eddie«, sagte ich, »vergessen Sie nicht zu schätzen, wie lange Sie in der Nähe von Novaks Leiche waren, während Sie die anderen Obduktionen durchgeführt haben.«
»Ich weiß«, sagte er. »Darüber habe ich eben vor einer Minute auf der Toilette nachgedacht. Ich war zehn oder zwölf Stunden da drin, einen halben bis einen Meter von ihm entfernt, und habe mich der Gammastrahlung ausgesetzt.« Er starrte auf seinen Notizblock, doch sein Stift bewegte sich nicht. Schließlich nahm er den Stift und fing an zu schreiben.
Sobald wir ausgerechnet hatten, wie lange wir aus welcher Entfernung der Strahlung ausgesetzt gewesen waren, sammelte ich die Notizblöcke ein und gab sie Sorensen. Er warf einen raschen Blick darauf. Eddies war der unterste im Stoß, und als Sorensen die Anzahl der Stunden sah, runzelte er die Stirn. »Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick«, sagte er, zog den Reißverschluss einer Laptoptasche auf, holte einen Laptop heraus und machte sich nach einem Augenblick daran, die Zahlen einzugeben. Ich wollte nicht dumm herumstehen, also ging ich zurück zu den anderen an Garas Bett.
Nach fünf Minuten – es hätten aber auch gut fünf Stunden gewesen sein können – kam Sorensen herüber und zog einen Stuhl von der Wand heran, damit er sich uns gegenüber setzen konnte. »Okay, das ist nur eine erste grobe Schätzung auf Basis der Daten, die Sie mir gegeben haben. Sobald wir Ihnen eine oder zwei weitere Blutproben abgenommen haben und etwas über die Veränderungen Ihrer Lymphozytenzahl sagen können, bekommen wir ein sehr viel klareres Bild. Wir werden auch eine Technik nutzen, die in Oak Ridge entwickelt wurde, die Zelldosimetrie; damit können wir Ihre Strahlendosis anhand der Analyse der DNA-Schäden innerhalb Ihrer Zellen schätzen. Morgen Nachmittag um diese Zeit …«, er schaute auf seine Uhr und berichtigte sich dann, »… gegen halb sieben morgen Abend werden wir in der Lage sein, Ihre Strahlendosis mit Hilfe dreier verschiedener Verfahren einzugrenzen.«
»Doch vorerst«, drängte Garcia, »wie sehen die groben Schätzungen aus, und was haben sie zu bedeuten?«
Sorensen holte tief Luft. »Detective Emert.« Emert runzelte die Stirn und beugte sich vor. »Es sieht so als, als wären Sie einer Strahlendosis von um die zwanzig Rad ausgesetzt gewesen.«
»Was zum Teufel ist ein Rad, und wie schlimm sind zwanzig davon?«
»Nun, im Laufe eines Jahres ist man etwa einem Zehntel Rad Umgebungsstrahlung ausgesetzt; kosmische Strahlung, Radon, das aus Felsen im Boden austritt, so was in der Art.«
»Dann habe ich in den letzten vier Tagen etwa zweihundert Jahre Strahlendosis abbekommen?«
»So in etwa«, sagte Sorensen.
»Deswegen habe ich bei der Obduktion gekotzt? Brauche ich auch eine Infusion?«
»Ich glaube nicht«, sagte er. »Ich würde Ihnen nicht empfehlen, sich noch einmal zwanzig Rad Strahlung auszusetzen, doch es ist gut, dass Ihre Strahlenexposition in Abständen erfolgte und nicht am Stück. Ich habe viele Fälle gesehen, und ich hatte noch nie mit jemandem zu tun, der bei dieser geringen Dosis Symptome von ASS hatte. Vermutlich lag es an der Obduktion, dass Sie sich während der Obduktion übergeben mussten.«
Emert holte tief Luft und atmete langsam aus. Zutiefst erleichtert.
»Dr. Brockton«, sagte Sorensen, »Sie und Ms. Lovelady haben um die vierzig Rad Strahlung abbekommen. Mehr als uns lieb ist, aber Sie entwickeln wahrscheinlich keine Symptome.« Er sah Miranda an. »Aber bei Ihnen mache ich mir ein wenig Sorgen wegen lokaler Verletzungen der Fingerspitzen.« Er warf einen Blick auf Mirandas Notizen. »Sie haben gesagt, Sie haben die Strahlungsquelle nur für wenige Sekunden angefasst?« Sie nickte. »Das ist gut, aber an der Oberfläche gibt eine Hundert-Curie-Iridium-192-Strahlungsquelle mehr als hunderttausend Rad pro Minute ab. Wenn Ihre Finger einer Strahlendosis von zweitausend Rad ausgesetzt waren, werden sich wahrscheinlich Bläschen entwickeln, vielleicht sogar Nekrosen.«
»Sie meinen, ich könnte meine Finger verlieren?«
»Das bezweifle ich zwar, aber möglich ist es«, sagte er. »Wir hoffen, dass es nur zu wenig Blasenbildung an den Fingerspitzen kommt und dass es wieder heilt.« Miranda wirkte erschüttert, doch sie nickte bemerkenswert gefasst.
»Dr. Garcia«, sagte Sorensen, »um Sie mache ich mir die meisten Sorgen. Sie sagen, das Pellet hat etwa dreißig Sekunden in Ihrer linken Hand gelegen und war zwischen fünfzehn und zwanzig Sekunden zwischen Ihrem rechten Daumen und Zeigefinger?«
»Das kommt in etwa hin«, sagte Garcia, »aber ich hatte auch keinen Grund anzunehmen, ich müsste mich beeilen, als ich es mir näher angesehen habe.«
»Selbstverständlich nicht«, sagte Sorensen. »Aber ich fürchte, Sie werden wohl einige lokale Verletzungen an den Händen erleiden.«
»Scheint so, ja«, sagte Garcia. »Wenn ich das, was Sie zu Miranda gesagt haben, richtig verstanden und auch noch richtig gerechnet habe, dann sprechen wir von zehn- oder sogar hunderttausenden von Rad an meinen Händen?«
»Möglich«, räumte Sorensen ein. »Auch Ihre Augen sind gefährdet. Die Linse ist sehr empfindlich gegenüber ionisierender Strahlung, und wenn Sie das Pellet aus geringer Nähe betrachtet haben, könnten Sie in den nächsten Jahren grauen Star entwickeln.«
»Verkrüppelt und blind«, sagte Garcia. »Das wird ja immer besser. Was kommt als Nächstes? Aller guten Dinge sind doch drei, oder?«
»Ich fürchte, ja. Wegen der zusätzlichen Stunden im Leichenschauhaus waren Sie auch einer höheren Ganzkörperdosis ausgesetzt.«
»Wie viel höher?«
Sorensen zögerte. Kein gutes Zeichen. »Ihre Strahlendosis könnte irgendwo im Bereich von vier- bis fünfhundert Rad liegen.«
»Und wie lautet die Prognose für jemanden, der einer Strahlendosis von fünfhundert Rad ausgesetzt war?«
Wieder zögerte Sorensen. Noch ein schlechtes Zeichen. »Das geht bis zu LD-50«, sagte er.
Miranda schnappte nach Luft.
»Verzeihung«, sagte Emert. »Was bedeutet LD-50?«
Bevor Sorensen antworten konnte, ergriff Garcia das Wort. »Das bedeutet fünfzig Prozent«, sagte er leise. »LD steht für ›letale Dosis‹. Was Dr. Sorensen sehr taktvoll auszudrücken versucht, ist, dass ich zuerst wahrscheinlich meine Hände verliere und dass Gott dann eine Münze wirft, ob ich am Leben bleiben darf oder nicht.«
Er schaute zu Miranda und mir auf. »Würden Sie beide mir einen Gefallen tun? Würden Sie bitte zu mir nach Hause fahren und Carmen erklären, was passiert ist? Ich rufe sie an und sage ihr, dass ich aufgehalten wurde, aber ich möchte nicht, dass sie die Einzelheiten am Telefon erfährt. Ich will, dass dann jemand bei ihr ist.«
Miranda streckte ihm die Hand hin. Wieder war ihr Gesicht nass von Tränen, doch diesmal konnte sie sie nicht verbergen.
Sorensen und Davies ließen Garcia gleich nach oben in ein Krankenzimmer bringen. Emert, der in Oak Ridge lebte, vereinbarte, dass man ihm das Blut dort im Krankenhaus abnahm, damit er nicht mitten in der Nacht zurück nach Knoxville kommen musste. Miranda und ich konnten gehen, obwohl wir strenge Anweisung hatten, uns um sechs Uhr früh wieder einzufinden, damit man uns nach zwölf Stunden die nächste Blutprobe abnehmen konnte. Es würde eine lange, unruhige Nacht werden. Bevor wir zu Garcia nach Hause fuhren, um mit Carmen zu sprechen, machten wir noch einen Abstecher die Treppe hinunter ins rechtsmedizinische Institut. Das BETRETEN VERBOTEN-Schild hatte Verstärkung bekommen: gelb-schwarzes Absperrband, auf dem VORSICHT – BETRETEN VERBOTEN stand, sowie ein Schild mit magentaroten Keilen auf gelbem Hintergrund und den Worten RADIOAKTIVE STRAHLUNG – BETRETEN VERBOTEN.
»Klingt, als meinten sie es ernst«, sagte ich zu Miranda.
»Hält wahrscheinlich Hausierer und die Zeugen Jehovas ab«, frotzelte sie, doch ich merkte, dass sie nicht mit dem Herzen dabei war.
Just in diesem Augenblick kamen Duane Johnson und ein mir unbekannter Techniker im Mondanzug aus dem Aufzug. Sie karrten zwei rechteckige Metallplatten vor sich her, die etwa sechzig Zentimeter mal einen Meter maßen. Die Metallplatten schienen schwer zu sein, denn sie mussten sich mächtig dagegenstemmen, um sie vom Fleck zu kriegen. »Bleiabdeckungen«, keuchte Duane, als sie an uns vorbeikamen und auf die verschlossene Tür zum Leichenschauhaus zugingen. »Wollen Sie zuschauen?«
»Ich glaube, wir hatten genug Strahlung für einen Tag«, sagte ich.
»Oh, Sie müssen nicht«, sagte er. »Aber solange Sie hinter der Ecke bleiben, wo Sie heute Mittag auch waren, bekommen Sie keine zusätzliche Strahlung ab.« Ich sah Miranda an, und sie zuckte die Achseln. Neugier siegte über Vorsicht, und wir folgten Duane und dem Techniker, als sie die Bleiabdeckungen in Richtung Leichenschauhaus rollten.
Duane klopfte mehrmals an die Tür – dreimal schnell, dann dreimal langsam, dann wieder dreimal schnell –, und ich erkannte, dass dies das Notsignal des Morsealphabets war, SOS. Die Tür schwang nach innen auf, und Hank linste um die Ecke. Er betrachtete Miranda und mich eingehend und fragte: »Alles in Ordnung?«
»Wird sich zeigen«, sagte ich. »Detective Emert ist nach Oak Ridge zurückgefahren. Sie nehmen uns jetzt alle paar Stunden Blut ab, um unsere Strahlenbelastung zu errechnen. Dr. Garcia wurde eingewiesen, weil er die höchste Strahlendosis abbekommen hat, vier- bis fünfhundert Rad.«
Hanks entsetzte Miene verriet, dass er wusste, wie prekär Garcias Lage war. Grimmig schüttelte er den Kopf und wandte sich dann Johnson zu. »Okay«, sagte er, »schaffen wir den Dreck hier raus.« Johnson und der Techniker rollten die Bleiabdeckungen durch die Tür, und sobald wir alle drin waren, schloss Hank hinter uns ab.
Zusammen packten sie eine Bleiplatte, neigten sie zum Boden, dann drehten sie sie mit dem Oberteil nach unten und setzten sie auf die andere. Die Platten waren dazu da, MTAs und Pflegekräfte in der Nuklearmedizin vor der Wirkung von Radioisotopen zu schützen, die den Patienten dort verabreicht wurden. Dazu wurden die rechteckigen Platten ein Stück vom Fußboden hochgehievt, bis auf die Höhe eines Krankenhausbetts oder eines OP-Tischs. In diesem Fall jedoch reichte partieller Schutz nicht aus. Übereinandergesetzt ergaben die beiden Platten einen durchgängigen Schutzschild von den Zehen bis zum Hals. Als Nächstes setzten sie oben noch einen kleineren Schutzschild mit einem dicken Bleiglasfenster darauf. Sie hatten auch etliches an Werkzeug versammelt, darunter eine lange Zange, die vorne mit etwas umwickelt war, was wie Industrieklebeband aussah, die klebrige Seite nach außen, und einen kleinen runden Spiegel am Ende eines Teleskopstabs. Vermutlich wollten sie ihn als Periskop benutzen, damit sie die ganze Zeit mit dem Kopf hinter dem Schutzschild bleiben und trotzdem in das Waschbecken linsen konnten. Sie hatten auch eine rechteckige metallene Kiste dabei, rund dreißig Zentimeter im Quadrat, knapp fünfzig Zentimeter hoch. Die Kiste schien aus Stahl, doch so, wie die beiden Männer stöhnten und sich plagten, als sie sie verrückten, war sie innen vermutlich mit einer dicken Bleischicht ausgekleidet.
Sie wollten ihre behelfsmäßig zusammengeschusterte Schutzwand gerade in Richtung Sektionssaal karren, da meldete Hanks Handy sich mit einem dringlichen, trällernden Klingelton. Er wirkte verdutzt, als er auf das Display schaute. »REAC/TS, Hank Strickland.« Nach einem Augenblick sagte er: »Na, Sie fackeln ja nicht lange, was?« Er hörte noch ein wenig zu. »Das ist richtig … Rund hundert Curie.« Er warf einen Blick auf Miranda und mich und schaute wieder weg. »Das kann man noch nicht sagen, einer von den vieren hat einiges abbekommen.« Eine ganze Weile hörte er nur zu. »Ich verstehe … Ja, mache ich. Danke. Guten Flug.«
Er legte auf. »Also, das war interessant. Das war …«
Seine Worte wurden von einem lauten Klopfen an der verschlossenen Tür unterbrochen. »Hier ist Captain Sievers, Universitätspolizei. Öffnen Sie bitte die Tür.« Es klang nicht wie eine Bitte, sondern eher wie ein Befehl.
»Ich kümmere mich darum«, sagte ich.
Sievers, den ich seit Jahren kannte, wirkte überrascht, mich zu sehen, vor allem aber war er empört. »Wir haben eine Meldung bekommen«, begann er, doch dann unterbrach er sich, denn sein Blick streifte durch den Raum und erfasste die seltsame Szene: Miranda und ich, immer noch in OP-Kleidung, und drei Gestalten in Mondanzügen, um eine Konstruktion aus Bleischilden, Strahlenmessgeräte und andere beunruhigende Gerätschaften geschart. »Was zum Teufel ist hier los?«
»Wir hatten eine Obduktion, die eine überraschende Wende genommen hat …«, setzte ich zu einer Erklärung an.
»Was Dr. Brockton meint«, fiel Hank mir ins Wort, »ist, dass wir einen Notfall mit radioaktiver Kontamination simulieren. Es ist eine gemeinsame Übung des rechtsmedizinischen Instituts und unseres Notfallteams aus Oak Ridge.«
Sievers starrte Hank an, dann mich, dann Johnson. »So ein Blödsinn«, sagte er, schob sich an mir und den anderen vorbei und eilte zur Tür des Sektionssaals.
»Das würde ich nicht tun«, sagte Hank.
»Sie haben gesagt, es wäre eine Übung«, fuhr Sievers ihn an.
»Bleiben Sie sofort stehen«, sagte Hank.
»Ich gebe Ihnen fünf Sekunden, um mir zu erklären, warum«, sagte Sievers.
Hank seufzte, holte sein Handy heraus und drückte die Rückruftaste für den letzten Anruf. »Strickland hier, von REAC/TS«, sagte er. »Wir haben hier eine leichte Komplikation. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mit Captain Sievers von der Universitätspolizei zu reden? … Ja, das Krankenhaus hat seine eigene Polizei … Nein, er ist kein Mietbulle … Sievers. Captain Sievers.«
Hank hielt Sievers das Telefon hin. Der Beamte starrte ihn misstrauisch an und schnappte ihm dann das Telefon aus der Hand. »Hier spricht Captain Sievers. Wer zum Teufel ist da?« Er machte große Augen. »Ja, Sir«, sagte er. »Selbstverständlich habe ich schon von Ihrer Dienststelle gehört.« Er hörte aufmerksam zu, während sein Blick nervös im Raum hin und her huschte. »Verstehe«, sagte er. »Sie haben unsere volle Unterstützung. Ja, Sir. Vielen Dank, Sir.« Er beendete die Verbindung und starrte einen Augenblick auf das Telefon. »Also«, begann er, doch weiter kam er nicht.
»Halloo-o?!« Eine modisch frisierte Frau im schicken Kostüm erschien in der Tür, Liz Chambers, die PR-Frau des Krankenhauses. Liz hatte früher beim lokalen Fernsehsender die Nachrichten moderiert und sah immer noch so aus, als könnte sie jeden Augenblick vor die Kamera treten. »Sie schmeißen hier doch wohl keine Party ohne mich?« Ihr Tonfall war scherzend, doch ich sah, dass sie den Raum genauso schnell überblickte wie Sievers vorhin, und ich machte mich auf Ärger gefasst.
»Ich habe Ihnen letzte Woche ein Memo dazu geschickt, Liz«, sagte Sievers. »Die Strahlenschutzübung?«
Ich hatte alle Mühe, nicht ungläubig den Mund aufzusperren. Aus dem Augenwinkel sah ich Miranda. Sie stand vollkommen reglos da, doch straff gespannt. Trotz der Anspannung der vergangenen Stunden sah ich an ihren leuchtenden Augen, dass sie die neueste Szene in dem sich um uns entfaltenden Drama fasziniert beobachtete.
»Was für eine Strahlenschutzübung? Ich habe kein Memo bekommen«, sagte Liz. »Dann hätte ich doch eine Presseerklärung herausgegeben. So etwas interessiert die Medien sehr.«
»Ich habe Ihnen kein Memo geschickt? Mist«, sagte Sievers recht überzeugend. »Das tut mir aber schrecklich leid, Liz.«
»Eigentlich ist es meine Schuld«, sagte ich. Ich hatte keine Ahnung, was ich da machte, aber irgendwie hatten die Anrufe die Sachlage verändert, und ich wollte Sievers nicht im Regen stehen lassen. »Ich habe das ziemlich kurzfristig organisiert.« Liz starrte mich an. »Sie wissen doch, dass wir vor ein paar Tagen auf der Body Farm eine DMORT-Übung hatten?« Sie nickte misstrauisch. »Also, Captain Sievers kam vorbei, um ein bisschen zuzusehen.« Sievers nickte, wenn auch nicht sehr überzeugend. »Also habe ich ihn gefragt, ob es in Ordnung wäre, wenn wir im Leichenschauhaus eine kleinere Übung durchführen würden, um die Ausbildung abzurunden.« In einer Geste der Unterwerfung und Entschuldigung hob ich die Hände. »Ich hätte anschließend eine E-Mail schreiben sollen, dann hätte er sie an Sie weiterleiten können.«
»Ich habe ihm noch gesagt, er soll die Sache verfolgen«, meldete sich Miranda zu Wort. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollten die Sache verfolgen?«
»Ja, Sie haben gesagt, ich sollte die Sache verfolgen«, sagte ich. »Und ich habe es vergessen. Es tut mir leid. Ich übernehme die volle Verantwortung.«
Stirnrunzelnd sah Liz mich an. Ein kleiner Muskel neben ihrem linken Auge zuckte, und die Sehnen an ihrem Hals waren gespannt wie Bogensehnen. »Leute, es fällt mir schwer, meine Arbeit zu tun, wenn niemand mich auf dem Laufenden hält. Es schwirren alle möglichen Gerüchte über einen Strahlenunfall herum, und ich werde Tage brauchen, um die Buschfeuer zu löschen. Es wäre erheblich leichter, wenn ich eine Pressemitteilung über eine Notfallübung hätte herausgeben können.« Sie warf einen letzten Blick in die Runde, ließ ihn einen Augenblick auf den Mondanzügen verweilen, schüttelte traurig den Kopf- vermutlich beklagte sie nicht nur den Aufwand, den es bedeutete, die Gerüchte wieder aus der Welt zu schaffen, sondern auch die ungenutzte Gelegenheit, die Hightech-Übung in den Lokalnachrichten vorzuführen – und drehte sich auf ihren Stilettos um.
»Das war ja interessant«, sagte Johnson, sobald das Klappern ihrer Absätze verklungen war. »So viele Lügen am Stück habe ich zum letzten Mal gehört, als Bill Clinton von seiner rein platonischen Beziehung zu Monica Lewinsky erzählte.«
Ich wandte mich zu Hank und Sievers um, um sie nach den Telefongesprächen zu fragen, die diese Lügenkette in Gang gesetzt hatten. »FBI«, sagte Sievers. »Special Agent Thornton wird in ein paar Stunden hier sein.«
Angesichts der Dringlichkeit, die bei den Telefonaten geherrscht hatte, war ich überrascht über die Verzögerung. »In ein paar Stunden? Was, muss er sich zuerst noch im Fernsehen das Basketballspiel anschauen?«
»Nein«, sagte Hank. »Er ist bei der Sektion für Massenvernichtungswaffen im FBI-Hauptquartier. Er kommt von D.C. runtergeflogen.« Hank sah Johnson an. »Wo waren wir, als wir unterbrochen wurden?«
Hinter dem schweren Schutzschild kauernd, den sie zusammengebaut hatten, rückten Hank und Johnson zur Tür des Sektionssaals vor, die Zange und die metallene Versandkiste auf einem niedrigen Karren hinter sich herziehend. Als die Tür aufging, hörte ich, dass ein Dosimeter anfing zu kreischen, dann duckte Hank sich tiefer, und das Kreischen hörte auf. Die Tür schloss sich hinter ihnen, und Miranda und ich sperrten ängstlich Augen und Ohren auf. Plötzlich fingen beide Dosimeter an zu kreischen. Miranda, Sievers und ich sahen uns besorgt an, doch wir konnten nichts tun. Nach einigen quälenden Sekunden verstummte der Alarm, und ich erkannte Hanks Stimme, die »Ich hab dich!« rief. Er und Johnson kamen schwitzend und keuchend, aber erleichtert aus dem Sektionssaal. Hank rollte den Karren mit dem metallenen Versandbehälter darauf, Johnson fuhr mit dem Stab der Ionisationskammer über die Kiste, und ich war erleichtert, als ich hörte, dass das Instrument nur träge klickte.
»Okay«, sagte Hank. »Ich glaube, jetzt ist alles so weit in Ordnung. Wir haben alles überprüft, da drin ist nichts mehr, worüber man sich Sorgen machen müsste. Also, bis auf diese ziemlich eklige Leiche. Pfui Teufel. Nichts Strahlendes, was einem Sorgen bereiten müsste. Das kleine Pellet war alles.«
»Gehen wir rauf ins radiopharmazeutische Labor«, meinte Duane. »Es ist wahrscheinlich okay, es in dieser Kiste aufzubewahren, wir versenden darin andauernd medizinische Isotope, und der Bleibehälter darin ist zwei oder drei Zentimeter dick, aber ich hätte ein besseres Gefühl, wenn es in einer heißen Zelle eingeschlossen wäre.«
»Klingt nach einer guten Idee«, sagte ich.
»Aber zuerst«, meinte er, »sollte ich noch einmal beim Katastrophenschutz anrufen und Bescheid sagen, dass die Sache unter Kontrolle ist.« Er zog den Reißverschluss seines Anzugs auf und angelte ein Handy aus einer Tasche, drückte eine Kurzwahltaste und schaltete dann den Lautsprecher ein.
»TEMA, Wilhoit am Apparat«, sagte eine Stimme aus dem Lautsprecher.
»Hi, Duane Johnson hier, ich melde mich noch einmal aus dem Universitätskrankenhaus in Knoxville«, sagte Duane. »Ich möchte Ihnen Bescheid geben, dass wir die Gammastrahlungsquelle aus dem Leichenschauhaus geborgen haben. Wir haben sie in einen Bleibehälter getan und bringen sie jetzt rauf in eine der heißen Zellen in der Nuklearmedizin.«
»Verzeihen Sie«, sagte Wilhoit. »Dafür ist jetzt die TEMA zuständig, nicht die University of Tennessee. Wir entscheiden, was damit passiert, sobald wir da sind.«
»Herzlich gern«, sagte Johnson. »Sie hätten ein bisschen eher damit rausrücken sollen. Ich hätte es Ihnen gern überlassen, da reinzugehen und dass Pellet aus dem Waschbecken zu fischen.«
Der Sprecher schwieg einige Sekunden. »Schauen Sie, ich bin froh, dass Sie es sichergestellt haben. Ich wäre es ein wenig langsamer angegangen, hätte mehr Personal und Ausrüstung hergeholt …«
»… und auf diese Weise für zwei oder drei Tage Lähmung und Panik gesorgt«, sagte Johnson. »Wir haben in ungefähr einer Stunde eine extrem heiße Strahlungsquelle sichergestellt. Wir haben jahrelange Erfahrung im Umgang mit Radioisotopen. Wenn so etwas schon passieren muss, kann man sich dafür kaum einen besser ausgestatteten Ort vorstellen als die Medizinische Fakultät der University of Tennessee. Also: Jetzt, wo wir die Strahlungsquelle für Sie sichergestellt haben, was schlägt Ihre Behörde vor, was wir mit einer Hundert-Curie-Iridium-192-Strahlungsquelle machen sollen?«
»Wir haben für morgen früh ein Meeting angesetzt, um die Optionen zu besprechen«, versetzte Wilhoit. »Der Eigentümer der Strahlungsquelle ist die schuldige Partei und folglich auch dafür verantwortlich, das Ding an sich zu nehmen und unschädlich zu machen.«
»Und Sie glauben, diese ›schuldige Partei‹ wird eifrig vortreten«, sagte Johnson, »und bereitwillig zugeben, dass sie für den Tod eines Mannes und die Strahlenexposition von vier Menschen im Leichenschauhaus verantwortlich ist? Wollen Sie das Ding so lang auf Ihrem Speicher verwahren, während wir darauf warten, dass diese ›schuldige Partei‹ vortritt und sagt: ›Verhaften Sie mich und bitte verklagen Sie mich auch auf Millionen von Dollar‹?«
Der Vertreter der Katastrophenschutzbehörde schwieg erneut. »Das Energieministerium hat drüben in Oak Ridge ein Strahlennotfall-Team stationiert. Ich werde den Chef ersuchen, das FBI zu bitten, es Ihnen abzunehmen.«
»Klingt gut«, sagte Johnson. »Doch auch auf die Gefahr hin, dass ich mich anhöre wie eine kaputte Schallplatte: Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir die Strahlungsquelle in einer heißen Zelle einschließen, bis jemand vom Energieministerium hier ist? Das kommt mir doch ein wenig sicherer vor als der Flur, in dem sich das Ding im Augenblick befindet.«
Zwei Minuten später war die Lage bereinigt, und Johnson rollte die Kiste zum Fahrstuhl, um sie hinauf in eine heiße Zelle zu bringen – eine massive Kammer aus Blei und Bleiglas, die mit Roboterarmen ausgestattet war, die extra dafür gebaut war, um mit starken Radiopharmaka umzugehen, ohne die Hände und das Knochenmark von MTAs und Pharmazeuten zu gefährden.
Es war wirklich eine Schande, dass Garcia die Obduktion von Leonard Novak nicht in einer heißen Zelle durchgeführt hatte. Garcia hätte ausgesehen wie ein verrückter Wissenschaftler, der Roboterarme schwingt, um eine Leiche zu sezieren. Doch lieber ein verrückter Wissenschaftler als ein verkrüppelter oder dem Tode geweihter Arzt.