39
Das Telefon klingelte ein Dutzend Mal oder öfter, bevor sie dranging. »Hallo?« Sie klang alt und müde. Nicht zittrig wie am Abend zuvor. Ich war mir ziemlich sicher, dass das Zittern Effekthascherei gewesen war, damit Emert und ich uns rasch verabschiedeten. Das hier klang echt. Es war der erschöpfte, niedergeschlagene Tonfall, den ich eine Stunde zuvor auch in Eddie Garcias Stimme gehört hatte, als er mir erzählt hatte, dass es in der Spenderdatenbank keinen passenden Knochenmarkspender gab und dass Carmens Mutter aus Bogotá zu Besuch kam, um sich eine Weile um den Kleinen zu kümmern.
»Beatrice, hier spricht Bill Brockton«, sagte ich. »Bitte verzeihen Sie, dass ich so früh anrufe. Ich habe überlegt, ob ich Sie heute Morgen besuchen könnte?«
»Sie und dieser abscheuliche Polizist?«
»Nein«, sagte ich, »ich allein. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir noch eine Geschichte erzählen.«
»Verstehe«, sagte sie. »Sie behalten mich wegen meines Unterhaltungswerts in Ihrer Nähe. Wie dieser persische König, wie hieß er noch?«
»Welcher König?«
»König Wiehießernoch? Ich erinnere mich nicht an seinen Namen. Niemand erinnert sich an seinen Namen. An die Geschichtenerzählerin erinnern wir uns sehr wohl. Scheherazade.«
»Ach ja«, sagte ich. »Tausendundeine Nacht. Um nicht zum One-Night-Stand zu werden, hat sie Geschichten gesponnen, die niemals endeten.«
»Nicht nur, dass sie niemals endeten«, sagte sie. »Sie verwoben sich zu einem Teppich, Geschichten, die mit anderen Geschichten verwebt waren. Wie das Leben, Bill, aber ohne die langweiligen Teile. Scheherazade, die Königin der Cliffhanger. Jeden Tag zur Morgendämmerung, wenn er ihr den Kopf abhacken wollte, ließ sie die Handlung an einer spannenden Stelle abbrechen.«
»Ich bin auch sehr gespannt auf das eine oder andere«, sagte ich.
Sie schwieg. »Ich könnte schon noch ein Kapitel hervorkramen«, sagte sie schließlich. »Wie bald soll ich Sie erwarten?«
»Ich könnte in einer halben Stunde bei Ihnen sein, aber wenn Ihnen das lieber ist, kann ich auch noch ein bisschen warten.«
»Nicht nötig. Tempus fugit, Bill. Sic transit gloria mundi.«
»Was?«
»Die Zeit vergeht, ebenso wie der Ruhm der Welt. Ich mache die Tür auf und schenke mir schon mal einen Wodka ein.«
»Beatrice, es ist erst neun Uhr vormittags.«
»Irgendwo in der Welt ist es fünf Uhr nachmittags. Die Welt ist groß, Bill. Ziehen Sie Ihre Grenzen nicht zu eng.« So früh am Tag lag der Gehweg vor ihrer Haustür tief im Schatten des Dachvorsprungs und der immergrünen Bäume. Die Redwoodvertäfelung glühte jedoch schon warm in der Morgensonne, die durch die Fenster hineinströmte. Ich läutete, hauptsächlich, um den klaren, hohen Ton zu hören, der erklang, wenn man am Klöppel zog. Dann trat ich wie gewohnt ein und rief: »Beatrice? Ich bin’s, Bill.«
Sie antwortete nicht, also ging ich in Richtung Wohnzimmer. Sie saß in ihrem Lehnsessel, und als ich eintrat, hob sie zum Gruß ein Glas Wodka.
Sie winkte mich zu meinem Sessel, und ich setzte mich und fing an zu schaukeln. Eine dampfende Tasse Tee stand auf dem Beistelltisch. Ich nahm den Becher und legte die Hände darum, froh über die Wärme, denn innerlich war mir kalt.
Sie musterte mich mit wässrigen Augen. »Was für eine Geschichte möchten Sie heute hören?«
»Heute würde ich gern eine wahre Geschichte hören«, sagte ich und erwiderte ihren Blick. »Die wahre Geschichte über den Tod von Jonah Jamison.«
»Wie meinen Sie das?«
»Mir ist heute etwas aufgegangen«, sagte ich. »Vielleicht habe ich auch etwas gehört. Es war, als würden Jonahs Knochen mir etwas zuflüstern, als hätte auch er eine Geschichte zu erzählen.«
»Und was war das für eine Geschichte? Was hat er geflüstert?«
»Er hat geflüstert, dass er sich nicht selbst erschossen hat.«
Sie beugte sich vor und neigte leicht den Kopf – wahrscheinlich exakt die Pose, in der ich ihr in den vergangenen zwei Wochen stundenlang zugehört hatte. Dann runzelte sie die Stirn und schüttelte den Kopf. »Zurück«, befahl sie mir. »Sie sind gerade direkt zum Schluss gehüpft. Fangen Sie ganz vorne an.«
Ich war verwirrt. »Wo ganz vorne?«
»Am Anfang der Geschichte, die Jonahs Knochen Ihnen erzählt haben. ›Es war eine finstere und stürmische Nacht im anthropologischen Labor …‹ oder wie auch immer. Beschreiben Sie die Szene, lassen Sie sie sich entfalten. Haben Sie denn nichts von mir gelernt?«
»Ah«, sagte ich. »Also, wer wird hier wegen des Unterhaltungswerts in der Nähe gehalten? Ich bin kein so guter Geschichtenerzähler wie Sie.«
»Niemand ist so gut wie ich.« Sie lächelte. »Aber Sie müssen es weiter versuchen. Das ist die einzige Möglichkeit, besser zu werden.«
Ich überlegte einen Augenblick, dann holte ich tief Luft und fing an. »Der Hund des Nachbarn hat mich heute vor der Morgendämmerung geweckt«, sagte ich. »Nicht weil er laut gebellt hat – es war nur ein leises Aufjaulen –, sondern weil ich schon halb wach war. Ich habe schlecht geschlafen. Weil ich mich über irgendetwas aufgeregt habe. Ich wusste nicht mal, was es war, aber ich wusste, wo es war. Es lag auf meinem Tisch unterhalb des Stadions. Unten in dem Labyrinth, dessen Fenster aussehen, als wären sie seit der Zeit des Manhattan-Projekts nicht mehr geputzt worden.«
Sie nickte. »Viel besser«, sagte sie. »Fahren Sie fort.«
»Immer wenn ich das Gefühl habe, ich übersehe in einem Fall etwas, lege ich die Knochen so auf dem Tisch aus, dass ich sie gut sehen kann. Ab und zu unterbreche ich das, was ich gerade tue – Klausuren benoten, einen Artikel in einer Fachzeitschrift lesen oder ein Sandwich essen –, und betrachte die Knochen. Ich versuche, den Kopf so leer zu machen, wie es nur irgend geht, und nur zu schauen, in der Hoffnung, dass mich etwas Neues überrascht. Sich mir präsentiert. Zu mir spricht. Es ist, als versuchte ich, mich an etwas heranzuschleichen, was ich tief im Innersten schon weiß, aber nicht zu fassen kriege.«
»Es ist gut, so eine Fähigkeit zu kultivieren«, sagte sie. »Die braucht man immer öfter, wenn man älter wird und den Überblick verliert – Namen und Gesichter und wo man die Lesebrille hingelegt hat und warum man ins Wohnzimmer gegangen ist.«
Ich hatte das Gefühl, sie versuchte, meine Geschichte in die Länge zu ziehen, und ich konnte es ihr nicht verdenken. »Ich betrachte Jonah Jamisons Schädel inzwischen seit einer Woche auf diese Weise«, fuhr ich fort, »aber es hat nicht funktioniert. Nichts Neues. Heute habe ich mich um sechs Uhr zur Arbeit geschleppt, und immer, wenn ich den verdammten Schädel angeschaut habe, bin ich richtig wütend geworden. Fast als wäre er absichtlich unkooperativ. Zu wachsam, als dass ich mich an ihn heranschleichen könnte, oder so.«
»Nun, er ist während des Krieges in einer streng geheimen Stadt gestorben«, sagte sie. »Sie können ihm eigentlich keinen Vorwurf machen, dass er wachsam ist, oder?«
»Aber genau das habe ich«, sagte ich. »Am Ende war ich so sauer, dass ich ihn in die Kiste gelegt und den Deckel zugemacht habe.«
»Na, da haben Sie’s ihm aber gezeigt.«
»Und da habe ich es gesehen.«
»Was?«
»Seinen linken Arm.«
»Seinen linken Arm? Was war damit?«
»Er war stark.«
Sie runzelte die Stirn und überlegte. »Er war jung. Er war Soldat. Natürlich war er stark.«
»Ich meine«, sagte ich, »dass sein linker Arm stärker war als sein rechter.«
»Aber woher wollen Sie denn wissen, welcher Arm stärker war? Die Muskeln sind doch längst verwest, oder?«
»Ja. Aber die Muskeln haben ihre Geschichte am Knochen hinterlassen.« Sie wirkte verwirrt, also tippte ich auf die Tischplatte des kleinen Kiefernholztischs zwischen uns. »Sehen Sie die beiden Knoten im Holz?« Sie nickte. »Da sind zwei Äste aus dem Baumstamm gewachsen, richtig?« Sie nickte. »Welcher dieser beiden Äste war wohl größer und kräftiger?« Sie tippte auf den Knoten näher bei ihr, der so groß war wie das Ziffernblatt meiner Armbanduhr – im Durchmesser doppelt so groß wie der andere Knoten. »Die Stellen, wo die Muskeln an den Knochen befestigt sind, nennt man Muskelansatzpunkte, kein besonders phantasievoller Name, aber für die Studenten leicht zu merken.« Ich winkelte den linken Arm an und blähte den Bizeps so weit wie möglich auf, was nicht besonders weit war. Dann drückte ich die Spitze des rechten Zeigefingers in die Armbeuge und wackelte damit. »Die Sehne des Bizepsmuskels ist genau hier mit dem Unterarmknochen verbunden, sodass sie, wenn Sie den Bizeps anspannen, den Unterarm hochzieht.« Sie stellte ihr Glas ab und tat es mir nach.
»Fühlt sich an wie Zweige und Zwirn«, sagte sie. »Niemand würde das je für einen starken Arm halten.«
»Nun, vielleicht nicht«, schloss ich. »Aber Sie sind Rechtshänderin, also sind die Zweige und der Zwirn am rechten Arm ein wenig stärker und dicker als am linken. Folglich sind auch die Muskelansatzpunkte an Ihrem rechten Arm ein wenig kräftiger als an Ihrem linken. Also, Footballspieler oder Arnold Schwarzenegger oder jeder mit einem richtig dicken Bizeps haben große, kräftige Muskelansatzpunkte, wie Beulen oder Wulste, wo der Knochen verstärkt wird, um die Last zu tragen.«
»Dann wird der Knochen, genau wie eine Nation oder eine Generation«, sagte sie, »auf die Probe gestellt und gestärkt, wenn man ihn fordert.«
»Ganz genau«, sagte ich. »Und was mir heute aufging, ist, dass Jonah Jamison konsequent – tagein, tagaus, dreißig Jahre lang – seinen linken Arm mehr gefordert hat als seinen rechten. Das verrät, dass er Linkshänder war. Genau wie die Armbanduhr, die er am rechten Handgelenk trug. An seiner Händigkeit kann ich erkennen, dass er ermordet wurde.«
Sie ließ beide Hände in den Schoß sinken und schaute darauf. »Seine Händigkeit«, sagte sie. »Was für ein winziges Detail, um eine ganze Geschichte darauf aufzubauen.«
»Ja«, sagte ich. »Winzig, aber entscheidend. So winzig, dass ein Mensch keinen Augenblick darüber nachdenken würde, wenn er vorhätte, sich das Gehirn wegzupusten. Er wäre mit Wichtigerem beschäftigt – würde überlegen, wie es nur dazu gekommen ist, sich fragen, ob er die Kugel wohl spürt, überlegen, ob er wirklich mutig oder verzweifelt genug ist, um abzudrücken. Es würde ihm niemals in den Sinn kommen, sich zu fragen, mit welcher Hand er die Waffe halten würde. Er würde sie automatisch, instinktiv in die bevorzugte Hand nehmen. Wenn er Jonah Jamison wäre, würde er sie mit der linken Hand nehmen und an seine linke Schläfe drücken. Nicht an die rechte.«
»Ja, das klingt logisch«, sagte sie.
»Die Geschichte, um die ich Sie bitte«, sagte ich, »ist also die Geschichte von Jonah Jamisons Ermordung. Und kehren Sie nicht auf einem Umweg zurück und behaupten, Novak hätte ihn erschossen, denn Jonah war bereits als ›unerlaubt von der Truppe entfernt‹ gemeldet, als Novak von Hanford zurückkehrte.«
Lange Zeit saß sie vollkommen reglos. Das einzige Geräusch im Zimmer war das hohle Ticken einer Wanduhr. Das langsame, stetige Ticken der verstreichenden Zeit. »In Ordnung«, sagte sie. »Eine letzte Geschichte.«