21
Vier Stunden nach dem Krach im Knochenlabor wollte ich gerade nach Oak Ridge aufbrechen, um mit Beatrice einen weiteren Ausflug in die Vergangenheit zu unternehmen, als es leise an meine Tür klopfte. Ich schaute auf und war überrascht, Miranda zu sehen. Normalerweise platzte sie einfach herein und hatte meistens noch einen witzigen Spruch auf den Lippen – gewöhnlich auf meine Kosten. Ihre Augen waren gerötet, und sie wirkte völlig verloren. Ich zeigte auf einen freien Stuhl, der vor der Heizung unter dem Fenster stand.
»Nichts für ungut«, sagte ich, »aber Sie sehen nicht gerade heiß aus.«
»Ich sehe noch um einiges besser aus, als ich mich fühle«, meinte sie. Ich war beunruhigt – bekam sie erste Symptome der Strahlenkrankheit? –, doch sie sah meine Sorge und winkte rasch ab, ihr Problem sei nicht medizinischer Natur.
»Möchten Sie darüber reden?« Ich dachte, ich könnte die Frage ruhig stellen, schließlich hatte sie an meine Tür geklopft, doch sie wirkte so zerbrechlich, dass ich es langsam angehen wollte.
»Über einen Teil davon«, sagte sie. »Über die Ideen. Nicht die Sache mit Männlein und Weiblein.«
Ich wusste nicht recht, was sie meinte. »Die Ideen?«
»Die Ideen. Die Ideale. Die Menschen. Patrioten und Verräter. Schwere Entscheidungen und teuflische Kompromisse.«
»Vielleicht sollten wir uns eine Pizza bestellen«, schlug ich vor. »Und einen Sechserpack Philosophen.«
Sie ließ sich seufzend auf den Stuhl plumpsen. »In gewisser Weise läuft das ganze Problem auf den Unterschied zwischen Groves und Oppenheimer hinaus«, sagte sie. »Und es steht alles in ihren Augen geschrieben.« Ich sah sie stirnrunzelnd an. »Groves kommt mir vor wie der ultimative Macher«, sagte sie. »Die Dampfwalze des Manhattan-Projekts. Mach, mach, mach. Ganz egal. Er und sein geheimes Projekt hatten unglaublich viel Macht. Groves hatte die Autorität zu nehmen, was immer er brauchte, zu bauen, was immer notwendig war. Nicht genügend Kupfer zum Bau des Y-12-Calutrons? Kein Problem, wir nehmen einfach fünfzehntausend Tonnen Silber aus dem US-Schatzamt. Nicht sicher, ob das Calutron genügend Uran produzieren kann? Wir bauen auch noch eine Gasdiffusionsanlage, die größte Fabrik der Welt. Nicht sicher, ob Uran das Richtige ist? Dann produzieren wir auch Plutonium. Er hat nie alles auf eine Karte gesetzt, und am Ende hat es sich ausgezahlt.« Ich nickte. Um das Risiko des Scheiterns zu minimieren, hatte Groves in der Tat mehrere Weg zum Bau der Bombe beschritten, und alle hatten zum Ziel geführt. »Aber sehen Sie ihn sich an, Dr. B.«
Sie holte ein Foto von General Groves aus einem Aktenordner, den sie mitgebracht hatte, und legte es auf den Tisch. Es war ein berühmtes Foto; seit ich Novak aus dem Eis gesägt hatte, hatte ich es unzählige Male betrachtet. Das Foto zeigte Groves, wie er die Karte von Japan studierte. Nein, nicht studierte, eher, wie er mit seinem Blick ein Loch hineinbrannte. Der Bauch des Generals war teigig und seine Backen schlaff, doch seine Augen waren wie Laser, fest auf ihr Ziel gerichtet. »Der Horizont des Mannes ging nicht einen Zentimeter über Japan hinaus«, sagte sie. »Bau die Bombe, wirf die Bombe ab.«
»Er war der richtige Mann für die Aufgabe«, sagte ich.
»Und jetzt sehen Sie sich Oppenheimer an«, sagte sie und holte ein weiteres Foto aus dem Aktenordner. Der Physiker trug den runden Filzhut, der sein Markenzeichen gewesen war, fast wie der abgewetzte Schlapphut von Indiana Jones. In Oppenheimers Mundwinkel hing eine Zigarette, und ein Rauchfetzen wehte links an seinem Gesicht vorbei. Um seinen mageren Hals war eine schmale Krawatte geknotet – von Hängebacken bei ihm weit und breit keine Spur –, und auf den knochigen Schultern hing ein Tweedjackett. In der Mitte des Fotos waren zwei gehetzte, eindringliche Augen. Sie starrten direkt in die Linse, doch sie schienen auf etwas zu blicken, das weit dahinter lag. »Sehen Sie? Das sind die Augen eines Mannes, der an einen Felsen gekettet ist, eines Mannes, der in die Ewigkeit starrt«, sagte sie. »Wo ist die Grenze zwischen Amerika und Japan oder Amerika und Russland, wenn man in die Ewigkeit blickt?«
»Sind Sie sicher, dass er so weit schauen kann, Miranda? Sind Sie sicher, dass Sie in seine Seele blicken können?«
»Kommen Sie schon, Dr. B. Als der Trinity-Test funktionierte, hat dieser Mann nicht ›Juhuu‹ oder ›Verflucht‹ oder ›Oh, Mist‹ gesagt. Dieser Mann hat gesagt: ›Ich bin der Tod, der alles raubt, Erschütterer der Welten.‹ Er war verzweifelt. Er hat sich nach dem Krieg dafür eingesetzt, Atomwaffen zu begrenzen, und dafür hat man ihn als Verräter beschimpft.«
»Er hat es versucht«, sagte ich. »Aber erst nach dem Krieg.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß«, sagte sie, »und das ist ja mit das Tragische an ihm. Er hat die Bombe gebaut, und dann hat er das, was er getan hatte, und das Wettrüsten, das es in Gang gesetzt hatte, verabscheut. Und das hat ihn letztlich seinen Posten als Regierungsberater gekostet. Und dann werfen Sie mal einen Blick auf Werner von Braun. Von Braun war der Kopf hinter den V-2-Raketen, die während des Krieges auf London niederregneten, doch er wurde zum amerikanischen Helden, weil er anfing, Raketen für uns zu bauen statt für Hitler. Was mich gewissermaßen zu Klaus Fuchs bringt. War er ein Patriot oder ein Verräter?«
»Verräter«, sagte ich. »Ohne Zweifel. Er hat atomare Geheimnisse an unsere Feinde verkauft.«
»Aber er war Jude«, sagte sie. »Für ihn war der eigentliche Feind Hitler. Und wenn der Feind deines Feindes dein Freund ist, dann ist Russland dein Freund. Abgesehen davon waren es unsere Verbündeten. Wenigstens theoretisch.«
»Gewaltiger Unterschied zwischen Theorie und Praxis«, sagte ich. »Stalin war ein Tyrann und Schlächter, vor dem Krieg genauso wie hinterher.«
»Ja. Aber welches Land der Welt hat je bei kriegerischen Handlungen Massenvernichtungswaffen eingesetzt? Die Vereinigten Staaten. Zweimal.«
»Das haben wir getan, um Menschenleben zu retten, Miranda«, sagte ich. »Nicht nur das Leben von US-Bürgern, auch von Japanern. In einer Nacht im März 1945 haben wir Brandbomben über Tokio abgeworfen. Der Feuersturm hat einundvierzig Quadratkilometer des Stadtgebiets vollkommen zerstört und mehr als hunderttausend Zivilisten das Leben gekostet. Die Luftangriffe auf Tokio haben Japan nicht dazu bewegt zu kapitulieren. Es erforderte die Symbolkraft der Atombombe, um den Krieg zu beenden.«
»Äußerst fraglich«, sagte sie. »Die Japaner haben Ende Juli, vor Hiroshima, Kapitulationsangebote gemacht. Doch wir haben sie vom Tisch gewischt, denn an diesem Punkt hatten wir die Bombe bereits getestet. Wir wussten, dass sie funktionierte, und wir wollten sie abwerfen. Nicht nur, um den Sieg über Japan zu sichern, sondern auch, um die Russen einzuschüchtern, denn wir wussten schon, dass sie unser nächstes großes Problem sein würden.«
»Aber so eingeschüchtert waren sie gar nicht«, wandte ich ein. »Denn inzwischen hatten sie von Fuchs in Los Alamos Blaupausen der Bombe bekommen. Und von George Koval Beschreibungen von Urananreicherungsanlagen. Wer weiß, vielleicht hatten sie von Leonard Novak sogar Blaupausen für einen Plutoniumreaktor.«
Miranda stöhnte. »Verdammt«, sagte sie. »Ein … einziges … Rätsel.« Es war eine Phrase aus einem alten Broadwaymusical – Der König und ich –, die sie oft zitierte, und ich musste lächeln. Wenn sie schon wieder Musicaltexte zitierte, hatte sich ihre Angst ein wenig gelegt. »Okay …«, sie seufzte, »… ich weiß, dass es Ihnen das Herz brechen wird, aber ich muss jetzt nach Hause gehen und Immanuel Kat füttern.«
»Bedeutet das, dass wir jetzt doch nicht den Lieferdienst für Pizza und Philosophen anrufen?«
»Heute Abend nicht«, sagte sie. »Vielleicht morgen, wenn wir uns den Problemen Völkermord und Hungertod in Afrika widmen.«
»Ich kann’s kaum erwarten«, sagte ich, und sie verschwand.
Doch sie steckte den Kopf noch einmal zur Tür herein. »Also, ähm …«
»Jaaa?«
»Thornton«, meinte sie. »Eine Schande. Irgendwie mochte ich ihn.«
Ich unterdrückte ein Lächeln. »Ich glaube, er mochte Sie auch. Und ich habe gehört, er ist notorisch wählerisch.«
»Mist«, sagte sie und verschwand wieder im Flur.
Dann tauchte sie noch einmal auf. »Das grundlegende moralische und ethische Problem«, sagte sie, »ist Folgendes. Ich vermute, Thornton ist Republikaner. Ich könnte nie mit einem Republikaner ins Bett gehen.«
»Gütiger Himmel, nein«, sagte ich. »Das wäre ein teuflischer Kompromiss.«