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Die bunten Zelte, die sich auf der Lichtung drängten, auf der ich stand, hätten auf einem Rummelplatz oder einem Renaissance-Markt durchaus nicht fehl am Platze gewirkt. Was für eine interessante Ironie: ein Renaissance-Fest, ein Fest der Wiedergeburt – ausgerechnet hier auf dem Gelände der Body Farm der University of Tennessee, dem einzigen Ort der Welt, wo sich alles um das Studium der Toten und ihrer Verwesung drehte.
Die Zelte – weiß, rot, grün, gelb, blau – rangelten um jeden Zentimeter. Den Spitznamen »Body Farm« hatte die anthropologische Forschungseinrichtung vor Jahrzehnten von einem FBI-Beamten bekommen, als er die Leichen gesehen hatte, die auf den drei Morgen Land verstreut lagen. Der Name war hängen geblieben und diente jetzt sogar als Inspiration für die Benennung einer ähnlichen Einrichtung. Eine ehemalige Absolventin der University of Tennessee war soeben dabei, in San Marcos in Texas eine ähnliche Forschungseinrichtung zu gründen. Noch bevor die erste Leiche zu Forschungszwecken auf dem Gelände ankam, hatte die Einrichtung in Texas schon den Namen »Body Ranch« weg.
Mehrere der dicht beieinander stehenden Zelte hatten Stützrahmen aus aufblasbaren Elementen, die übrigen spinnenartige Bögen aus geometrischen Hohlstangen – Nissenhütten im Stil des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Normalerweise standen hier keine Zelte; abgesehen von dem Gras und dem Laub an den Bäumen, war der bunteste Farbfleck normalerweise eine große blaue Plane, die über unserer Materialhütte aus Wellblech und dem kleinen, betonierten Vorplatz gespannt war. Die Zelte – die mit ihren fröhlichen Farben nicht recht in die kahle Winterlandschaft und die bittere Kälte passen wollten – waren gerade mal vor vierundzwanzig Stunden aufgestellt worden und würden in weiteren vierundzwanzig Stunden auch schon wieder verschwunden sein. Trotz ihres Budencharakters wurde in den Zelten das alptraumhafte Szenario eines der denkbar finstersten Ereignisse aufgeführt: eines atomaren Terroranschlags.
Auf einer Fahrtrage in dem größten Zelt lag mit dem Gesicht nach oben eine nackte männliche Leiche, deren runzlige Haut in den drei Wochen im Kühlraum im Leichenschauhaus der Medizinischen Fakultät der University of Tennessee, jenseits des Holzzauns und der kahlen Baumreihe der Body Farm gerade noch zu sehen, grau und schimmelig geworden war. Vierzehn weitere Leichen – im Laufe der vergangenen Monate ausgewählt und gelagert – waren in einem Sattelschlepper eingeschlossen, der außerhalb des Zauns parkte. Die insgesamt fünfzehn Leichen standen für hunderte oder sogar – Gott behüte – tausende von Opfern, die es geben würde, falls es Terroristen eines Tages irgendwo in einer Stadt in den USA gelingen sollte, einen atomaren Terroranschlag zu verüben.
Fünf Menschen standen um die Fahrtrage herum. Schutzbrillen und Atemmasken verbargen ihre Gesichter, und die bauschigen Schutzanzüge, deren weiße Tyvek-Ärmel und Beine mit Klebeband an schwarze Gummihandschuhe und -stiefel geklebt waren, ließen kaum ahnen, ob es Männer oder Frauen waren. Eine der weißgewandeten Gestalten hielt ein kastenartiges beigefarbenes Instrument in einer Hand und in der anderen einen Metallstab, der mit dem Kasten verbunden war. Während sie mit dem Stab in einigen Zentimetern Entfernung über den Kopf, die Brust und den Bauch und dann über die Arme fuhr, stieß der Kasten gelegentlich ein Klicken aus. Als sich der Stab dem linken Knie näherte, wurde das Klicken schneller, dann verschmolz es zu einem anhaltenden Summen. Da meine Kindheit in die Zeit des Kalten Kriegs gefallen war – wie oft hatte ich bei Zivilschutzübungen »ducken und zudecken« geübt, als könnte mein hölzernes Schulpult mich vor einer sowjetischen Wasserstoffbombe schützen –, war mir das aufdringliche Klicken des Geigerzählers wohl vertraut.
Während der Stab verweilte, beugten sich die anderen vier Gestalten vor, um das Knie zu inspizieren. Einer fotografierte, zwei andere machten sich daran, den Körper mit einer seifigen Flüssigkeit einzusprühen und die Haut abzuwaschen, wobei sie dem Knie besondere Aufmerksamkeit schenkten. Während sie schrubbten, entfernte einer eine kleine orangefarbene Scheibe, etwa so groß wie ein Vierteldollar, und reichte sie dem Teamleiter. Ein winziges, in eine Sicherheitskapsel eingeschlossenes Stückchen radioaktives Strontium – genug, um den Geigerzähler Alarm schlagen zu lassen, doch nicht genug, um irgendeine Gefahr darzustellen – simulierte die Kontamination der Leiche. Sobald sie fertig waren mit Abwaschen, überprüfte der Techniker mit dem Geigerzähler das Knie noch einmal. Diesmal zeigte das langsame Ticken des Geräts nur die normale Umgebungsstrahlung an. Auf ein Zeichen des Leiters hin wurde die Leiche aus dem Zelt gerollt und zu dem Hänger mit den anderen vierzehn Leichen gebracht, die bereits einer ähnlichen Untersuchung und Dekontamierung unterzogen worden waren.
Eine nach der anderen spülten sich die Gestalten in den Tyvek-Anzügen unter der kältesten Dusche der Welt ab: einem Sprühnebel aus Seifenwasser, dem wegen der Frosttemperaturen an diesem Tag in letzter Minute noch Alkohol zugesetzt worden war. Die Kontamination des Teams war, wie die der Leichen, nur simuliert, doch es ging darum, die Übung so realistisch wie möglich zu gestalten, wobei die bittere Kälte die Sache erheblich erschwerte. Erst nach dem Duschen wurden die Schutzbrillen und Atemmasken abgelegt. Einem der weißen Anzüge entstieg meine rotgelockte, sommersprossige Forschungsassistentin Miranda Lovelady, einem anderen kurz darauf Art Bohanan, der ortsansässige Fingerabdruckexperte bei der Polizei von Knoxville. Der Teamleiter war der Strahlenschutzexperte Hank Strickland. Hank arbeitete in einer Einrichtung in Oak Ridge namens REAC/TS – dem Notfall- und Ausbildungszentrum für Strahlungsunfälle –, die medizinische Einsatztruppen in alle Ecken der Welt schickte, um bei Strahlenunfällen zu helfen.
Doch Hank war, genau wie Miranda und Art, heute als freiwilliges Mitglied von DMORT hier, dem Disaster Mortuary Operational Response Team. DMORT war in den 1990er-Jahren gegründet worden, um bei Katastrophen mit einer großen Zahl von Todesopfern wie Flugzeugunglücken oder Wirbelstürmen bei der Identifikation der Opfer zu helfen. Es war zwar Teil des öffentlichen Gesundheitswesens der USA, doch die Teams setzten sich aus Freiwilligen mit spezialisierten und zuweilen auch recht makabren Fähigkeiten zusammen. In ihren Reihen fanden sich Bestattungsunternehmer, Leichenbestatter, Ärzte, forensische Anthropologen, Polizeibeamte und Feuerwehrleute, Menschen, die den Umgang mit Leichen und Knochen gewohnt waren. DMORT-Freiwillige, darunter auch Studenten von mir, hatten auf Ground Zero nach dem Terrorangriff auf das World Trade Center heroische Arbeit geleistet und nach der Zerstörung von New Orleans und der Golfküste durch den Wirbelsturm Katrina im Jahr 2005 dort zwei Monate lang Leichen geborgen und identifiziert.
Art selbst war nach Katrina sechs Wochen lang in Louisiana gewesen, um aufgeblähten, halb verwesten Leichen Finger- und Handabdrücke abzunehmen. In einem Fall hatten sie es mit der Leiche eines Mannes zu tun gehabt, der vom steigenden Wasser auf einem Speicher gefangen worden war. Mehr als hundert Tage, nachdem der Mann auf dem Speicher ertrunken war – was man wirklich nur als Ironie des Schicksals bezeichnen kann –, hatten Art und ein Kollege einen Abdruck abnehmen und ihn identifizieren können.
DMORT-Teams waren mit Tod und Verwesung vertraut. Doch diese Übung heute stand für eine schreckliche, neue Wende in der Arbeit von DMORT, eine Reaktion auf den Albtraum vom 11. September 2001. Kurz nach 9/11 war speziell für den Einsatz bei Katastrophen durch Massenvernichtungswaffen das WMD-Team von DMORT gebildet worden – in bitterer Anerkennung der Tatsache, dass Terroristen, die zivile Flugzeuge zu fliegenden Bomben umfunktionieren, auch chemische, biologische und atomare Terroranschläge von gigantischem Ausmaß unternehmen könnten. Die Kontamination der Opfer bei solchen Anschlägen würde bei der Bergung und Identifizierung der Leichen einzigartige Probleme aufwerfen. Die Übung des WMD-Teams hier auf der Body Farm war ein erster Schritt, um Verfahrensweisen für den Umgang mit radioaktiv verseuchten Leichen zu entwickeln und zu testen – Kontaminationen, wie sie zum Beispiel ausgelöst würden, wenn im Hafen von New York eine radiologische oder »schmutzige« Bombe explodieren würde.
Obwohl es mich bekümmerte, dass Pläne für den nuklearen Katastrophenfall entwickelt werden mussten, erfüllte es mich mit Stolz, dass meine Forschungseinrichtung ihren Beitrag dazu leisten konnte. Die Body Farm war der einzige Ort in der Welt, wo eine Katastrophe mit einer großen Zahl von Todesopfern realistisch mit zahllosen Leichen simuliert werden konnte. Obwohl fünfzehn nur ein winziger Bruchteil derer war, die bei einer tatsächlichen Explosion einer schmutzigen Bombe in New York sterben würden – Schätzungen zufolge würde die Zahl im schlimmsten Fall bei fünfzigtausend und mehr liegen –, waren fünfzehn ein Anfang, und das waren weit mehr Leichen, als DMORT irgendwo anders für eine solche Übung verwenden konnte.
Miranda und Art traten unter der Dekontaminierungsdusche heraus, stampften mit den Füßen auf und rieben sich die Arme, und ihr Atem dampfte in der bitterkalten Luft. »Gütiger Himmel, ist mir kalt«, sagte Miranda. Ich musste mich nicht mit kaltem Wasser absprühen lassen, doch mir war auch kalt, denn ich hatte vor etwa sechs Monaten ein künstliches Hüftgelenk bekommen, nachdem der obere Teil meines linken Oberschenkelknochens von einer Kugel zerschmettert worden war, und das kalte Titanimplantat schmerzte tief in meiner Hüfte. Miranda fing an, mit den Zähnen zu klappern. »Wer hatte eigentlich die glorreiche Idee«, fragte sie, »diese Sache am kältesten Tag des schlimmsten Kälteeinbruchs aller Zeiten zu veranstalten?«
»Es ist nicht so nett, wie am Kamin zu sitzen und zu lesen«, sagte Art, »aber solange wir die Terroristen nicht dazu überreden können, nur bei schönem Wetter anzugreifen, ist es durchaus sinnvoll, unter den schlimmsten denkbaren Bedingungen zu üben.«
»Ich weiß, ich weiß«, grummelte Miranda. »Aber mir ist so kalt. Nach der Dusche da habe ich wahrscheinlich nie wieder einen schmutzigen Gedanken.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie je einen hatten«, meinte Art lakonisch. »Ich dachte, Doktoranden hätten für so was keine Zeit.«
»Nur in den Frühjahrsferien«, sagte ich.
»Frühjahrsferien? Welche Frühjahrsferien?«, fragte Miranda in einer Mischung aus gespielter Verwirrung und Empörung. »Ich will nur die nächsten sechs Monate in einer warmen Badewanne verbringen.«
In diesem Augenblick klingelte mein Handy. Ich zog einen dicken Handschuh aus, angelte das Telefon aus meiner Tasche und klappte es auf. Die Kälte biss an meinen Fingerspitzen. Laut Display kam der Anruf von Peggy, der Sekretärin des anthropologischen Instituts. »Hi, Peggy«, sagte ich. »Ich hoffe, Sie rufen an, um mir zu sagen, dass in den nächsten fünf Minuten eine Hitzewelle über uns hereinbricht.«
»Leider nicht«, sagte sie. »Ich rufe an, um Ihnen zu sagen, dass ich einen aufgeregten Polizeileutnant aus Oak Ridge in der Leitung habe.«
Oak Ridge war eine Kleinstadt rund vierzig Kilometer westlich von Knoxville und Heimat einer breiten Palette von Hightech-Forschungseinrichtungen und verarbeitender Industrie, doch ihr Ruhm gründete vor allem auf ihrer zentralen Rolle beim Manhattan-Projekt, dem Wettlauf um die Entwicklung der Atombombe während des Zweiten Weltkriegs. »Hat der Leutnant gesagt, worüber er sich so aufregt?«
»Sie haben gerade eine Leiche gefunden und möchten, dass Sie einen Blick darauf werfen«, sagte sie. »Anscheinend finden sie in Oak Ridge nicht viele Leichen.«
»Nein, die Radioaktivität schützt sie«, sagte ich. »Mörder haben Angst vor Leuten, die im Dunkeln glühen.« Das war ein alter, müder Witz, den die Leute aus Knoxville gern über die Einwohner von Oak Ridge machten – wobei die Leute aus Oak Ridge ihnen dabei manchmal in einer Art Präventivschlag trotzigen Bürgerstolzes sogar zuvorkamen.
»Nun, seien Sie vorsichtig«, sagte sie. »Die vielen Zäune und Wachtürme und Kernreaktoren und Bombenfabriken machen mir Angst.«
Sie stellte mir den Beamten von Oak Ridge durch, Polizeileutnant Dewar. Als ich auflegte, sagte ich zu Miranda: »Das mit der warmen Badewanne war doch sicher nicht ernst gemeint, oder?«
»Nein, selbstverständlich nicht«, sagte sie, denn sie hatte das Ende meines Gesprächs mit angehört. »In Wirklichkeit bin ich ganz scharf auf meine vollständige Verwandlung in einen menschlichen Eisblock.«
»Gut«, sagte ich. »Da habe ich genau die richtige Aufgabe für Sie.«