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Die Obduktion des dritten Opfers aus Oak Ridge – Fall 09-03 – war beinahe überflüssig, schließlich hatte die Todesursache aus der Brust des Mannes geragt. Laut dem Medical Examiner aus Nashville enthielt die Lunge eine geringe Menge Wasser, was andeutete (aber nicht zwingend bewies), dass das Opfer gerade eingeatmet hatte, als sein Herz krampfte und stehen blieb. Darüber hinaus enthielt der Obduktionsbericht nichts Außergewöhnliches, obwohl er ein wenig Licht auf das Leben des Mannes warf: ein Weißer mittleren Alters, einen Meter zweiundfünfzig groß, blaue Augen, lichtes blondes Haar und grauer Bart. Dünne, weißliche Narben deuteten auf ältere Operationen am rechten Knöchel und an der linken Schulter. Eine Reihe von Ganzkörperröntgenaufnahmen brachte zahlreiche verheilte Frakturen zum Vorschein – vier Rippen auf der rechten Seite der Brust waren gebrochen gewesen sowie sechs Rippen auf der linken, zwei davon mehrfach. Der rechte Oberschenkelknochen wies Spuren eines Bruches in der Kindheit auf, hieß es in dem Bericht, und war sechs Millimeter kürzer als der linke. Die Wirbelsäule wies, insbesondere im Bereich des Nackens, osteoarthritische Knochenauswüchse auf- gezackte Ränder an den Halswirbeln, die für einen Mann seines Alters überraschend ausgeprägt waren. Wegen der vielen Knochenbrüche war mein erster Gedanke: Zu viele Kneipenschlägereien. Doch das Opfer hatte eine gut entwickelte Beinmuskulatur und – bis die Messerklinge eingedrungen war – einen stabilen Kreislauf. Vielleicht doch keine Kneipenschlägereien, dachte ich. Vielleicht ein Fahrradunfall. Wie dem auch war, der Mann schien einiges eingesteckt und sich nicht geschont zu haben.

Miranda, Emert, Thornton und ich drängten uns im Polizeirevier Oak Ridge um einen Tisch mit trockenen Keksen und dünnem Kaffee. Ich kam direkt aus dem kriminaltechnischen Labor, und Miranda war mit Thornton gekommen. Genau genommen gab es keinen zwingenden Grund für ihre Anwesenheit, doch es war wichtig, Miranda irgendwie zu beschäftigen. Ihre drei verbrannten Fingerspitzen wurden schlimmer, aus den Bläschen waren offene, nässende Wunden geworden, eingewickelt in Verbandmull, und sie hatte die fieselige Rekonstruktionsarbeit an dem Skelett aufgeben müssen.

Sie konnte auch ihre Angst um Garcia nicht abschütteln. Obwohl das Personal auf der Intensivstation alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte, hatte er eine Infektion bekommen, und sein Zustand war prekärer denn je. Er konnte weder essen noch trinken, und seine Eingeweide wurden von Krämpfen und blutigem Durchfall gefoltert, während die Darmauskleidung sich ablöste. Sie konnte sich in den kommenden Wochen und Monaten langsam wieder aufbauen, doch sicher war das nicht. Sein Knochenmark war praktisch zerstört, und man war auf der Suche nach einem passenden Knochenmarkspender, doch die Aussichten waren nicht gut. Selbst wenn ein Spender gefunden wurde, war Garcia in einem so labilen Zustand, dass er die Transplantation womöglich nicht überlebte.

»Der Mann im Pool hatte keinerlei Ausweise bei sich«, sagte Emert. »Keine Brieftasche, keine Kreditkarte, keine Autoschlüssel. Ein bisschen Wechselgeld in der rechten Gesäßtasche, ein Päckchen Kaugummi in der linken.« Er unterbrach sich. »Aber er hatte das hier in der Hemdtasche.« Der Detective schob einen Druckverschlussbeutel in die Mitte des Tisches, in dem ein kleiner, rechteckiger weißer Zettel steckte, fleckig von schmutzigem Wasser und verschmierter Tinte. Emert drehte ihn um, um die andere Seite zu zeigen. Thornton, Miranda und ich beugten uns neugierig vor. Dort waren, trotz der Flecken, noch vier Worte lesbar: »Ich kenne dein Geheimnis.«

»Verdammt«, sagte ich.

»Interessant«, meinte Thornton.

»Gruselig«, sagte Miranda. »Diese Nachrichten kommen mir vor wie eine moderne Version der Berichte, die die Leute in Oak Ridge während des Manhattan-Projekts an die Postfachadresse geschickt haben. Nur dass sie sie jetzt statt an Acme Wiehießdasnoch …«

»Credit«, warf Thornton ein. »Acme Credit Corporation.«

»Richtig. Wie auch immer«, sagte sie. »Statt an Acme gehen die Briefchen jetzt direkt an die Leute, die ausspioniert werden.« Sie runzelte die Stirn. »Wissen Sie, woran mich das noch erinnert? Sie kennen doch sicher alle die ›MELDEN SIE VERDÄCHTIGE AKTIVITÄTEN‹-Schilder an der Interstate? Die mit der 800er-Nummer, die man anrufen soll … 800-irgendwas-TIPPS – falls man etwas Verdächtiges mitkriegt?«

»800-492-TIPS«, sagte Thorton.

»Macht mich irgendwie nervös, dass Sie die im Kopf haben«, sagte sie. »Ich meine, stellen Sie sich doch mal vor, Sie fahren auf der I-40 und plötzlich klingelt Ihr Handy, und eine Stimme flüstert Ihnen ins Ohr: ›Ich sehe, was du machst.‹ Daran erinnern mich diese Zettel. Das ganze Spionieren und Verpetzen jagt mir eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken.«

»Spricht die Frau mit dem schlechten Gewissen«, sagte ich. Es war nur ein bisschen Fopperei, und ich war überrascht, als sie rot wurde. Mir kam ein Gedanke, und ich warf einen Blick auf Thornton, um zu sehen, ob auch er rot wurde, doch das Gesicht des FBI-Beamten war ein Musterbeispiel an Nonchalance. Oder gab er sich nur gleichgültig, um Miranda nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen? Ich wusste es nicht, und es ging mich auch nichts an, wenn sie sich geküsst und versöhnt hätten, ideologisch oder anderweitig. Ich wandte mich wieder an Emert. »Und wie wollen Sie herausfinden, wer unser moderner John Doe ist?«

»Nun, die Liste vermisster Personen in Oak Ridge hat uns da leider auch nicht weitergebracht«, sagte er. »Und weder in Knoxville noch in den angrenzenden Counties wird jemand vermisst, auf den die Beschreibung auch nur annähernd zuträfe. Wir ziehen auch das NCIC zu Rate, das Kriminalinformationssystem des FBI, um zu sehen, ob irgendwo anders im Land jemand vermisst wird, auf den die Beschreibung passt. Aber das NCIC hat seine Mängel.« Er sah Thornton an. »Nichts für ungut.«

»Kein Problem«, meinte Thornton. »Das NCIC ist eine Schöpfung des FBI, nicht meine persönliche. Wir wissen, dass es nicht perfekt ist – wenn etwa in einer Vermisstenmeldung das Alter eines Vermissten mit siebenunddreißig angegeben ist und ein Polizist gibt beim Alter dreißig bis fünfunddreißig ein, stellt das System zwischen der Information und der Anfrage keine Verbindung her. Aber wenn der Polizist anschließend eine zweite Anfrage macht mit der Altersangabe sechsunddreißig bis vierzig, bekommt er den Bericht, den er braucht. Nichts ist vollkommen, aber es ist eine Hilfe.«

»Sicher«, sagte Emert. »Wie dem auch sei, wir gleichen die Fingerabdrücke des Mannes mit dem automatischen staatlichen Fingerabdruckidentifikationssystem ab sowie mit der Datenbank des FBI. Wenn er also je verhaftet wurde und seine Abdrücke im System sind, haben wir Glück und können ihn auf diese Weise identifizieren. Außerdem erscheint heute Nachmittag im Oak Ridger ein Bild von ihm.«

Das überraschte mich. Das Gesicht des Toten – mit offenem Mund und glasigen Augen, die Haut weich und in Auflösung begriffen – war für eine Kleinstadtzeitung harter Tobak. »Wenn die Abonnenten das Foto sehen, werden sie den Kopf des Herausgebers fordern«, sagte ich.

»Kein Foto«, sagte er. »Wir haben einen Künstler eine Zeichnung anfertigen lassen. Hat keine absolute Ähnlichkeit, ist womöglich aber eher wiederzuerkennen und weniger gruselig als die Fotos. Irgendjemand wird uns schon sagen können, wer der Mann ist.«

Thornton hatte enttäuschende Neuigkeiten über das Isotopenarbeitsgerät zu berichten. Pipeline Services, die Firma in Louisiana, in deren Besitz das Gerät gewesen war, hatte zwei Wochen zuvor einen Antrag auf Gläubigerschutz eingereicht – wahrscheinlich innerhalb weniger Tage oder Wochen, nachdem die frische Iridium-192-Quelle nach New Iberia geschickt und in das Isotopenarbeitsgerät eingelegt worden war. Die Türen des Pipeline-Serviceunternehmens waren mit Vorhängeschlössern verschlossen worden, und wie es schien, hatte niemand bemerkt, dass das Gerät fehlte. »Wir haben ein Fenster gefunden, das nicht verschlossen war«, sagte er, »und die Tür zu dem Raum, wo das Ding aufbewahrt wurde, war aufgestemmt.«

»Verdammt«, sagte ich. »In so einer kleinen Stadt hat sicher ein Haufen Leute gewusst, dass die Firma Pleite gemacht hat. Fast jeder hätte das Ding stehlen können, nicht?«

»Theoretisch schon«, sagte er, »aber ich bezweifle es. Überlegen Sie mal: Jemand, der zufällig in Louisiana in der Pampa lebt, sieht plötzlich die Chance, sich mit einem Isotopenarbeitsgerät aus dem Staub zu machen, das er schon immer haben wollte? An solche Zufälle glaube ich nicht. Wir durchkämmen die Personalakten und werden sämtliche Angestellten befragen. Und ihre Nachbarn und Freunde. Und all die, die nicht ihre Freunde sind. Ich fliege heute Nachmittag runter. Wir kommen der Sache näher«, sagte er, »ich rieche es förmlich.«

Dann war ich an der Reihe, von GI Doe zu erzählen. »Wenn wir Glück haben, können wir ihn anhand seiner Zähne identifizieren«, sagte ich. Drei untere Backenzähne des Soldaten hatten Füllungen, erklärte ich, darunter einer der dritten Molaren oder Weisheitszähne. Ich hoffte, dass das Loch in dem dritten Molar – ein Zahn, der ungefähr mit achtzehn herauskommt – von einem Zahnarzt bei der Armee gefüllt worden war. Wenn dies der Fall war, gab es vielleicht eine Zahnarztakte. Das Kunststück war nur, sie unter Millionen von anderen Zahnarztakten der Armee zu finden.

»Zuerst haben wir den Film entdeckt«, sagte Emert, »dann die Knochen. Aller guten Dinge sind drei. Sie finden sie. GI Doe möchte identifiziert werden.«

Als die Besprechung zu Ende war, gingen Miranda, Thornton und ich nach draußen. Thornton hatte vor dem Gebäude geparkt, ich dahinter. Zu dritt standen wir auf den Stufen vor der Stadtverwaltung. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich kurz in die Bücherei gehe?«, fragte ich Miranda.

»Warum sollte es?«

»Na, Sie haben es vielleicht eilig, zurück zum Campus zu kommen.«

»Ich bin mit Thornton hergekommen«, versetzte sie, »also ist es egal.«

»Aber ich dachte, Sie würden mit mir zurückfahren«, sagte ich. »Ich dachte, Thornton müsste sein Flugzeug nach Louisiana kriegen.« Ich sah Thornton an, der wiederum Miranda ansah.

»Aber … ich habe mein Auto auf dem Weg hierher bei der Jiffy-Lube-Servicestation auf Bearden Hill abgegeben«, sagte sie. »Thornton … wollte auf dem Rückweg da vorbeifahren.«

»Aber Bearden Hill liegt gleich bei mir um die Ecke«, sagte ich. »Ich kann Sie doch gut heute Abend nach der Arbeit auf dem Heimweg da absetzen. Bis dahin ist das Auto auf jeden Fall fertig. Oder ich bringe Sie gleich hin. Wir wollen doch nicht, dass Thornton sein Flugzeug verpasst.«

»Kein Problem«, sagte er ein wenig schneller als nötig. »Es liegt praktisch auf dem Weg zum Flughafen. Und ich habe Zeit.«

»Okay, wunderbar«, sagte ich ein wenig fröhlicher, als mir zumute war. Bearden lag für ihn alles andere als auf dem Weg, aber es hatte keinen Sinn, ihn darauf hinzuweisen. Sie wollten eindeutig zusammen sein, wollten es aber nicht zugeben. »Kann auch gut sein, dass ich den restlichen Nachmittag in der Stadtbücherei arbeite. Miranda, könnten Sie später etwas für mich suchen? Die Magisterarbeit von Isabella Morgan über Oak Ridge?«

»In Anthropologie?«

»Nein, Geschichte.«

»University of Tennessee?«

»Ja«, sagte ich. »Nein, warten Sie, vielleicht auch nicht. Vielleicht Tulane University, New Orleans oder Louisiana State University.«

»Geht’s noch ein bisschen vager?«

»Tut mir leid«, sagte ich. »Vergessen Sie’s einfach.«

»Nein, ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Ich schaue mal, ob ich was finde.«

»Danke«, sagte ich. »Dann bis morgen.«

»Okay«, sagte sie. »Bis morgen. Wiedersehen.«

»Wiedersehen«, sagte ich. Gut möglich, dass es das erste Mal war, dass wir etwas so Formelles wie »Wiedersehen« zueinander gesagt hatten. Und es fühlte sich so seltsam an, dass ich hoffte, dass es auch das letzte Mal gewesen war.

 

Ich war immer noch ein wenig aus dem Takt, als ich die Stadtbücherei betrat und zum Auskunftstisch ging. Der Stuhl war verlassen, doch der Hörer lag neben dem Telefon, und ein Blinken verriet mir, dass noch jemand in der Leitung wartete, also hoffte ich, dass Isabella irgendwo in der Nähe war, um die Antwort auf die Frage des Anrufers nachzuschlagen. »Ich bin gleich für Sie da«, sagte eine Stimme hinter mir, und eine mir unbekannte grauhaarige Frau trat hinter den Tisch, nahm den Hörer und drückte auf die blinkende Taste. »Er wurde am 13. November 1855 geboren«, sagte sie. »In St. Joseph in Missouri. Ja, ich glaube, das war der östlichste Punkt der Pony-Express-Route. Sehr gern. Freut mich, dass ich Ihnen weiterhelfen konnte.« Sie lächelte, als sie den Hörer auflegte. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich wollte eigentlich zu Isabella«, sagte ich.

»Sie arbeitet heute nicht. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

»Es geht mir nicht um eine Auskunft«, sagte ich. »Ich … ich bin ein Freund von Isabella. Ich wollte nur Hallo sagen.«

In ihren Augen blitzte Wiedererkennen auf. »Oh, natürlich«, sagte sie. »Ja. Also, sie war hier, aber dann musste sie ziemlich plötzlich weg. Anscheinend ist ihr Vater sehr krank geworden.« Nachdem sie das gesagt hatte, wirkte sie nervös, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie es mir hätte erzählen sollen; wenn ich es nicht schon wusste, war ich dann autorisiert, es zu erfahren? Melden Sie verdächtige Aktivitäten, dachte ich und stellte mir vor, wie die Bibliothekarin zum Telefon griff und die TIPPS-Nummer wählte.

»Schade«, sagte ich. »Vielen Dank. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie gestört habe.« Als ich die Bücherei verließ und den Hügel zu meinem Auto hinaufging, machte ich mir einerseits Sorgen um Isabella, andererseits war mir vor Überraschung und Verwirrung ganz schwindelig. Ich wusste so wenig über sie. Sie hatte etwas über ihre Großmutter und den Graphitreaktor erzählt, aber sie hatte es nur beiläufig erwähnt, und wir waren nicht mehr darauf zurückgekommen. Es war mir nie in den Sinn gekommen, sie nach ihren Eltern zu fragen. Vielleicht hatte ich schlicht auch noch keine Gelegenheit dazu gehabt. Wir hatten bei Fotos und Essen geflirtet, wir hatten die aufregende Suche nach dem Uranbunker geteilt, wir hatten eine leidenschaftliche Nacht zusammen verbracht. Aber was ich über sie wusste, war im Vergleich zu dem, was ich nicht wusste, sehr wenig. Isabella war ein strahlend schönes Rätsel.