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Beatrice musterte die Kopie des Fotos, die ich in der Stadtbücherei gemacht hatte. Sie schaute von mir zu Emert.
»Jonah war ein gutaussehender Mann, nicht wahr? Ja«, sagte sie, »ich hatte eine Affäre mit ihm.« Sie wandte sich an mich. »Deswegen musste ich abtreiben lassen. Wie konnte ich ein Kind bekommen, dessen Vater sich meinetwegen erschossen hatte?«
Ich stutzte über die Beiläufigkeit, mit der sie das sagte, doch Emert schüttelte nur den Kopf. »Ich glaube Ihnen nicht«, sagte er. »Warum sollte er sich Ihretwegen erschießen? Warum haben Sie nicht die Militärpolizei gerufen, als es passiert ist? Wie haben Sie die Leiche so weit da raus in die Nähe des Uranbunkers geschafft?« Der Mann feuerte Fragen ab wie Maschinengewehrsalven.
Jetzt war es an Beatrice, den Kopf zu schütteln. »Begreifen Sie denn nicht, dass der Skandal Leonards Karriere zerstört hätte, wenn ich es gemeldet hätte, und dass das Leonard zerstört hätte? Leonard hat die Leiche begraben. Um uns beide zu beschützen.«
Ich kam mir vor, als hinkte ich zehn Schritte hinterher und hätte große Mühe mitzuhalten. »Aber Leonard steckte doch sowieso in einem starken Gewissenskonflikt wegen seiner Mitarbeit am Bau der Atombombe«, sagte ich. »Vielleicht wäre er auch erleichtert gewesen, aus dem Projekt entlassen zu werden.«
»Nein, da täuschen Sie sich«, sagte sie. »Leonards moralisches Dilemma wegen der Bombe war seine Privatsache. Für einen so sensiblen Mann wie Leonard wäre eine öffentliche Bloßstellung unerträglich gewesen.«
»Wollen mal schauen, ob ich es verstehe«, sagte Emert. »Sie behaupten, er war zu sensibel, um sich einer so peinlichen Situation zu stellen, aber nicht zu sensibel, um eine Leiche im Wald zu verbuddeln?«
»Ganz genau«, sagte sie. »Leonard war es gewohnt, Geheimnisse zu hüten, und er war es gewohnt, sich selbst die Schuld zu geben. Er hatte etwas von einem Märtyrer an sich – aber er wollte sich selbst ans Kreuz nageln und nicht von jemand anderem daran festgenagelt werden. Seine feinziselierten Schuldgefühle hatten auch etwas Arrogantes an sich.«
Irgendetwas ließ mir keine Ruhe. Etwas, was in vier Worten auf ein kleines Blatt Papier geschrieben worden war. »Beatrice, haben Sie mit Novak gesprochen, nachdem Sie von dem Mann gehört hatten, der den Dokumentarfilm über Atomgeheimnisse drehen wollte?« Sie wirkte verdutzt.
»Ich … ich glaube nicht«, sagte sie. »Ich kann mich wirklich nicht erinnern.«
»Die Aufzeichnungen der Telefongesellschaft können uns verraten, ob Sie beide kürzlich miteinander telefoniert haben«, sagte Emert.
»Vielleicht«, sagte sie. »Warten Sie, ja, das habe ich. Kurz. Leonard rief an und fragte, ob ich diesem schrecklichen Mann vom Fernsehen irgendetwas über … irgendwas gesagt hätte. Ich habe gesagt, nein. Ich habe ihm gesagt, er solle sich keine Sorgen machen … der Mann sei nur auf Skandale aus. Aber Leonard war sehr besorgt. Er sagte, der Mann hätte ihn sogar beschuldigt, während des Zweiten Weltkriegs Informationen über die Bombe an die Russen weitergegeben zu haben.«
Emert beugte sich vor. »Und, hat Leonard den Russen Informationen über die Bombe zugespielt?«
»Leonard? Im Leben nicht«, sagte sie. »Aber bei Jonah würde es mich nicht wundern. Ich war nicht seine einzige Freundin, wissen Sie. Er hat viel zu viel Geld für Frauen und Whiskey ausgegeben. Ich weiß gar nicht, wie er sich bei seinem Unteroffizierssalär so viel Lasterhaftigkeit leisten konnte.«
Emert starrte sie unverwandt an. »Lady, ich glaube, Sie lügen. Ich möchte, dass Sie morgen Nachmittag runter auf die Polizeidienststelle kommen und eine Aussage machen. Ich werde Sie auch bitten, einen Lügendetektortest zu machen, es sei denn, Sie fürchten, der könnte Sie belasten.«
Ihre Reaktion darauf verblüffte Emert und mich. Beatrice lachte. »Fürchten? Detective, ich glaube jedes Wort, was ich gesagt habe. Warum um alles in der Welt sollte ich Angst vor einem Lügendetektor haben?« Plötzlich ruckte ihr Kopf nach unten und dann wieder hoch. »Ach du je, das war ganz schön ermüdend«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte ein wenig. »Haben die Gentlemen etwas dagegen, wenn eine alte Frau jetzt zu Bett geht? Es klingt, als hätte ich morgen einen aufreibenden Nachmittag vor mir.«
Emert blickte finster drein, doch er erhob sich, also stand ich ebenfalls auf. »Ein Uhr«, sagte er. »Bringen Sie einen Anwalt mit, wenn Sie einen brauchen.«
»Was ich brauche, ist eine Zeitmaschine, Detective«, sagte sie, stand mühsam auf und brachte uns schlurfenden Schrittes zur Tür.