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Ich hoffte, die Knochen würden uns mehr über den toten Soldaten erzählen als der Papierstapel. Offiziell war er Fall 09-02, der zweite forensische Fall im Jahr 2009, doch eine Nummer war ein jämmerlicher Ersatz für einen Namen.

Ein Kollege vom Fachbereich Landwirtschaft an der University of Tennessee, ein Wissenschaftler am Institut für Forstwirtschaft, hatte bestätigt, dass der rechteckige Klumpen, den wir aus dem Grab geborgen hatten, tatsächlich ein Stapel Papier war. Anhand der Dicke schätzte er ihn auf vier- bis fünfhundert Seiten, und er sagte, es scheine sich um ein minderwertiges Schreibmaschinenpapier zu handeln, viel Holzzellstoff, wenig Leinenfasern. Weil es billig und zellstoffhaltig war, neigte es dazu, zu Klumpen zu zerbröckeln, statt sich in einzelnen Blättern abschälen zu lassen. »Einige Bruchstücke konnte ich lösen«, erklärte er mir, »aber ich fürchte, die geben nicht viel her. Tintenflecke und Moder. Was auch immer auf diesen Seiten geschrieben stand, es hat die Zeit nicht überdauert.«

Die Knochen hatten sich jedoch gut gehalten. Nachdem wir sie einen Tag lang in heißem Wasser, Biz und Downy-Weichspüler gekocht und anschließend mit einer Zahnbürste behutsam abgeschrubbt hatten, hatte Miranda die sauberen, karamellfarbenen Knochen von GI Doe – so hatte sie 09-02 scherzhaft getauft – im osteologischen Labor in anatomisch korrekter Anordnung auf einem Tisch ausgelegt. Zudem hatte sie die Knochen schon mit einem digitalen 3D-Messfühler vermessen. Nachdem sie die Maße in die forensische Datenbank eingegeben hatte, hatte sie ForDisc damit gefüttert, eine Software, die von einem computerbegeisterten Kollegen an der University of Tennessee entwickelt worden war. Laut der ForDisc-Analyse der Daten – unter anderem der Größe des Schädels, des Zwischenraums zwischen den Augenhöhlen, der Breite der Nasenöffnung und der Länge und des Durchmessers verschiedener Knochen – war GI Doe ein Weißer und ungefähr einsachtzig groß. Das überraschte mich nicht, schließlich war ForDisc so programmiert worden, dass es schnell und automatisch die Art von Berechnungen und Analysen anstellte, die wir physischen Anthropologen sonst mit Tastzirkeln, Rechenschiebern und Taschenrechnern mühselig errechneten und wofür man Jahre brauchte, um es zu lernen.

ForDisc war jedoch nicht darauf programmiert, das Alter zu schätzen. Für eine Altersschätzung musste man verschiedenste Merkmale des Skeletts betrachten und zuweilen komplizierte oder subjektive Urteile über den Grad der Entwicklung oder die Reife bestimmter Knochen fällen. Das waren keine automatischen Berechnungen, wie ein Computerprogramm sie durchführen konnte.

Wenn ich eine forensische Untersuchung eines Skeletts vornahm, hielt ich gewöhnlich den Mund, bis meine Studenten die Knochen hinreichend studiert und mir gesagt hatten, was sie davon hielten. Miranda war daran gewöhnt und bedurfte nicht mehr Aufforderung als einem Neigen des Kopfes und einem fragenden Hochziehen der Augenbrauen. Sie fing damit an, dass sie den Schädel umgedreht auf ein ringförmiges Kissen legte, sodass die obere Zahnreihe und das Mundhöhlendach zu sehen waren. Dann nahm sie mit der linken Hand den Unterkiefer und zeigte mit dem kleinen Finger der rechten Hand auf die Zähne.

»Also. Beide dritten Molaren im Unterkiefer sind vollkommen durchgebrochen«, sagte sie, »was auf einen Erwachsenen hinweist.« Sie hielt den Unterkiefer noch in der linken Hand und berührte mit dem kleinen Finger die Weisheitszähne, die klein waren und ein gutes Stück unterhalb der Ebene der zweiten Molaren. »Die dritten Molaren im Oberkiefer sind noch nicht durchgebrochen«, sagte sie, »doch scheinen sie impaktiert zu sein und wären wahrscheinlich nie durch das Zahnfleisch gebrochen. Also, diese Zähne verraten uns, dass er wohl mindestens achtzehn Jahre alt war.«

Sie legte den Unterkiefer weg und nahm den Schädel von dem Kissen, auf dem er geruht hatte, hielt ihn in der linken Hand und fuhr mit der Spitze einer Messsonde an den vier Nähten im Mundhöhlendach entlang. Eine davon, die palatomaxilliäre Naht, führte von einer Seite des Mundhöhlendachs zur anderen, als hätte man zwischen den beiden zweiten Molaren eine Linie gezogen. Eine andere, die Sutura incisiva, führte ebenfalls von einer Seite zur anderen, direkt hinter den vier Schneidezähnen an der Vorderseite des Kiefers. Zwei Nähte führten über die Mittellinie des Mundhöhlendachs: die Zwischenkieferknochennaht erstreckte sich von der Vorderseite des Munds bis zu der Kreuzung mit der palatomaxilliären Naht, und die Gaumenknochennaht führte von dieser Kreuzung in den hinteren Bereich des Mundhöhlendachs. Bei den meisten Subadulten – Menschen unter achtzehn – waren diese vier Nähte nicht vollkommen geschlossen; die Verbindungen wurden immer noch mit neuem, wachsendem Knochen gefüllt. Mit achtzehn jedoch waren sie im Allgemeinen miteinander verschmolzen, und während der Jahrzehnte des Erwachsenseins glätteten sich die Nähte allmählich und verwischten sich und verschwanden manchmal sogar ganz. Bei 09-02 waren die Oberkiefernähte gänzlich verschmolzen, doch ihre Linien waren noch deutlich gezeichnet. »Die Oberkiefernähte sind voll verschmolzen, also wissen wir, dass er erwachsen war«, sagte Miranda, »aber wahrscheinlich war er ein junger Erwachsener. Kein alter Knacker, so viel ist sicher.« Ich lächelte über die Art, wie Miranda zwischen wissenschaftlichem Jargon und Umgangssprache hin und her wechselte.

»Ich spare uns hier jetzt ein wenig Zeit«, sagte ich. »Ich weiß, dass Sie die Grundlagen draufhaben. Wahrscheinlich können Sie inzwischen das ganze Osteologie-Handbuch auswendig, stimmt’s?«

»Ein paar Spezifika auf Seite zwei sind mir noch nicht ganz klar«, sagte sie.

»Was steht auf Seite zwei?«

»Das ganze Zeug über die Library of Congress und das Copyright«, sagte sie.

»Ich würde mir Sorgen machen, wenn Sie darauf Hirnschmalz vergeudeten. Okay, weiter geht’s. Statt mir das ganze Skelett zu erklären, zeigen Sie mir, woran wir Ihrer Meinung nach das Alter präziser bestimmen können.«

»An drei Dingen«, sagte sie. »Erstens, dem vorderen Beckenkamm.« Sie zeigte auf den großen, gebogenen Rand des Hüftknochens und fuhr mit dem Finger eine Linie am Rand entlang. Dort markierte eine schwache Naht ein Gelenk in dem breiten Knochen, als hätte der Schöpfer befunden, die Hüfte wäre einen Hauch zu schmal, und hätte sich noch einmal drangesetzt und am äußeren Rand einen Knochensplitter hinzugefügt. Es war natürlich kein nachträglicher Einfall, sondern eine Epiphyse, ein Gelenk, das offen war, solange die Knochen wuchsen, und sich nach dem letzten Wachstumsschub schloss. »Die Epiphyse ist vollständig geschlossen, das deutet darauf hin, dass er mindestens Anfang zwanzig war, vielleicht auch Mitte zwanzig oder älter. Mit anderen Worten, im besten Alter.« Sie wackelte mit den Augenbrauen, und ich lächelte. Miranda war zwischen Mitte und Ende zwanzig.

»Bis jetzt folge ich Ihnen«, sagte ich, »obwohl mein Hirn weit über seine Blütezeit hinaus ist. Zweitens?«

»Zweitens, die Schambeinfuge.« Sie hob die beiden Hälften des Schambeins hoch und zeigte mir die Stelle, an der sie in der Mittellinie des Körpers aufeinandertrafen. »Die Schambeinfuge zeigt sehr viel Abschrägung im ventralen Bereich«, meinte sie und zeigte auf den hinteren Teil des Gelenks. »Das deutet auf Ende zwanzig oder älter.«

»Basiert diese Einschätzung auf der Arbeit von Todd, McKern und Steward oder Suchey?«

»Auf allen miteinander«, sagte sie.

Ich lächelte. »Gute Antwort. Drittens?«

»Drittens ist immer das Wichtigste«, sagte sie. »Drittens, die Klavikula.« Sie nahm das linke Schlüsselbein, das in der Nähe der Tischkante lag, und zeigte auf eine schwache, glatte Naht in der Nähe jenes Endes, das mit der Schulter verbunden war. »Diese laterale Epiphyse ist vollständig verschmolzen, was zu erwarten ist, da der Kerl erwachsen ist. Doch die mittlere Epiphyse …«, sie zeigte auf eine ausgefranste, unvollständige Naht am anderen Ende des Knochens, »… ist noch nicht ganz zu, sie unterläuft noch letzter Verwachsung.«

»Und das lässt Sie welchen Schluss ziehen?«

»Dass GI Doe dreißig war. Plus, minus ein, zwei Jahre.«

»Bravo«, sagte ich. »Ich bin ganz Ihrer Meinung. Und jetzt sehen wir uns die Traumata an. Haben Sie, abgesehen von der Kopfwunde, irgendwelche Skeletttraumata entdeckt?«

»Nichts«, antwortete sie. »An einigen Wirbeln finden sich geringe osteoarthritische Knochenauswüchse, doch das sind nur beginnende altersbedingte Abnutzungserscheinungen, keine Traumata. Nein, ich glaube, ein Schuss in den Kopf hat ihn erledigt.«

Ich nahm den Schädel und maß mithilfe eines Tasterzirkels die Eintrittswunde an der rechten Seite. Das Loch war fast vollkommen rund, aber nicht ganz. An der weitesten Stelle maß es gut acht Millimeter – ungefähr die Größe einer Kugel Kaliber zweiunddreißig. An der schmalsten Stelle jedoch, und das war die entscheidende Größe, maß das Loch nur etwas mehr als sechs Millimeter. Damit war es zu klein, um von etwas Größerem als Kaliber zweiundzwanzig zu stammen. Ohne den Schädel aufzusägen, gab es keine Möglichkeit, den Greifzirkel in den Schädel hineinzubekommen, um den Durchmesser des Loches dort zu messen, wo das Geschoss durch den Knochen gebrochen und in das Gehirn eingedrungen war, doch ich leuchtete mit der Minitaschenlampe an meinem Schlüsselbund hinein und schätzte den inneren Durchmesser wegen der konischen Schrägung, die bei Schüssen stets entsteht, auf fast dreizehn Millimeter. Die Wucht des Einschusses hatte auch zu drei kleinen Frakturen geführt, jede etwa fünfundzwanzig Millimeter lang, die von dem Loch nach außen strahlten.

Auf einem Tablett neben dem Schädel lag ein kleines, deformiertes Metallklümpchen. Ich legte den Schädel ab und nahm das Klümpchen zur Hand. Obwohl es klein war, fühlte es sich schwer und weich an. »Sie haben die Kugel rausgekriegt«, sagte ich.

»Ja«, sagte sie. »Ich habe sie durch das Hinterhauptloch rausgeschüttelt.« Das war die Öffnung an der Schädelbasis, durch die das Rückenmark führte. »Hat mich daran erinnert, wie ich als Kind immer Münzen aus meinem Sparschwein geschüttelt habe.«

Ich nahm die deformierte Kugel genauer in Augenschein, denn ihre Form irritierte mich. »Erinnert Sie das an irgendetwas?«

»Erinnert mich daran, mir nicht in den Kopf schießen zu lassen«, sagte sie.

»Nein, ich meine die Form.«

Sie nahm mir die Kugel aus der Hand und hielt sie zwischen den Fingerspitzen, und die Geste schnürte mir das Herz ab. Genau so hatte Garcia im Leichenschauhaus das Iridium-Pellet gehalten und betrachtet. Genau so hatte Miranda ihm das tödliche Pellet aus der Hand genommen, mit diesen Fingerspitzen. Die jetzt mit weißem Verbandmull verbunden waren.

»Also, da laust mich doch der Affe«, sagte Miranda. »Diese Kugel erinnert verdammt an einen Atompilz.«