32
Es war drei Tage her, dass ich mit Isabella zusammen Dr. Seltsam angesehen hatte, zweieinhalb Tage, seit ich in der Morgendämmerung allein, aber zufrieden, aufgewacht war. Mein erster Impuls an diesem Morgen war gewesen, ihr Blumen zu schicken, doch irgendetwas riet mir, ihr etwas Freiraum zu lassen. An dem Abend, als wir zusammen bei Big Ed Pizza gegessen hatten, hatte sie einen Rückzieher gemacht, und jetzt war sie vermutlich noch nervöser. Und so hatte ich so lange gewartet, wie ich es aushielt, und sie dann angerufen und zum Mittagessen eingeladen. »Die Soup Kitchen soll gut sein«, sagte ich, »und es ist das richtige Wetter für heiße Suppe und knuspriges Brot.«
Sie zögerte, und ich bekam schon Panik, doch dann ließ sie sich erweichen. »Ich habe nur eine halbe Stunde Mittagspause«, sagte sie, »von zwölf bis halb eins, also muss ich nach dem Essen gleich wieder los.«
»Kein Problem«, sagte ich, dankbar, dass sie meine Einladung nicht ausgeschlagen hatte. »Wenn du länger bleiben würdest, würdest du bei mir nur alle möglichen anderen grässlichen Bildungslücken finden. Soll ich dich an der Stadtbücherei abholen?«
Diesmal zögerte sie nicht. »Wir treffen uns dort«, sagte sie. »Ich muss auf dem Weg dahin noch am Geldautomaten vorbei.«
Überspann den Bogen nicht, sagte ich mir. »Okay, dann treffen wir uns dort um, wann, zehn nach zwölf?«
»Klingt gut. Danke. Tschüss.« Sie hatte eindeutig nichts für ausgedehnte Abschiedsszenen übrig.
Ich erwartete halb, dass sie gar nicht käme, doch kaum hatte ich drei Stunden später Posten vor einem niedrigen, weiß gestrichenen Gebäude bezogen, das aufgrund des appetitanregenden Dufts und der beschlagenen Scheiben gleich zu erkennen war, kam sie auch schon flotten Schrittes um die Ecke und wäre beinahe in mich hineingerannt. »Oh!«, sagte sie.
»Du auch hier? Was für ein Zufall!«, meinte ich und merkte, wie sich auf meinem Gesicht ein törichtes Grinsen breitmachte.
Sie wich meinem Blick aus, und wieder bildete ihr Haar einen Vorhang, der ihr Gesicht verbarg. »Ich bin in Wirklichkeit viel schüchterner, als du glaubst«, sagte sie. Ich meinte, ein Lächeln zu erkennen, und griff mit einer Hand unter ihr Kinn, um ihr Gesicht mir zuzuwenden. Sie wurde rot und senkte wieder den Kopf, doch was das Lächeln anging, musste ich nicht mehr zweifeln.
»Ich versuche, keine hastigen Bewegungen zu machen«, sagte ich und öffnete inmitten von Dampfschwaden die Tür. Als wir zum Tresen gingen, merkte ich, dass mein Magen grummelte und meine Speicheldrüsen zum Leben erwachten.
Die Soup Kitchen servierte Suppen und Salate und Brot im Stil einer Cafeteria. Die Tagessuppen – normalerweise sieben an der Zahl, doch als wir kamen, gab es nur noch fünf- waren mit Boardmarker auf eine Weißwandtafel hinter der Theke geschrieben. Ich bestellte Chili mit Maischips und geriebenem Cheddar, Isabella wählte eine Spinatcremesuppe, die so sahnig war, dass man sich mit einer einzigen Portion sämtliche Arterien verstopfen konnte. Sie bekam zu ihrer Suppe einen kleinen, runden dunkeln Brotlaib serviert, bei mir dienten wohl die Maischips als Brotersatz.
Das Chili war würzig, aber nicht zu scharf und enthielt genau die richtige Mischung aus Tomaten, Hackfleisch, Zwiebeln und Garnierung. Ich nickte anerkennend. »Sehr kluger Vorschlag, dieses Lokal«, sagte ich.
»Das hab nicht ich vorgeschlagen, sondern du.«
»Na dann«, sagte ich, »dann war ich so klug, dieses Restaurant vorzuschlagen.«
»Ja. Es ist das zweitbeste Restaurant in Oak Ridge.«
In diesem Augenblick klingelte mein Handy. Ich runzelte die Stirn über die Störung, doch als ich die Nummer sah, entschuldigte ich mich murmelnd bei Isabella und nahm den Anruf entgegen. »Ich werde Sie gleich zu einem glücklichen Mann machen«, sagte Jim Emert. »Zu einem sehr glücklichen Mann.«
»Verstehen Sie mich nicht falsch, Detective, ich bin geschmeichelt«, sagte ich, »aber ich fühle mich einfach nicht auf diese Weise zu Ihnen hingezogen. Ich habe eine ausgeprägte Vorliebe für Frauen.« Ich zwinkerte Isabella über den Tisch hinweg zu, doch sie war viel zu sehr damit beschäftigt, ihr Brot zu schneiden und zu buttern, um es zu bemerken.
»Sehr witzig«, sagte er. »Ach, vergessen Sie es einfach.«
»Vergessen, was?«
»Vergessen Sie die wunderbare Nachricht, die ich Ihnen gerade überbringen wollte.«
»Sie haben den Typ, der Novak umgebracht hat?«
»Das hier finden Sie wahrscheinlich noch besser«, sagte er.
»Sie sind dahintergekommen, wer Novak umgebracht hat und wer GI Doe auf dem Gewissen hat?«
»Besser«, sagte er.
»Das Geheimnis des Weltfriedens?«
»Besser, besser, besser«, sagte er.
Plötzlich traf es mich wie ein Schlag. »Ehrlich? Im Ernst?«
»Ja«, sagte er.
»Phantastisch.«
»Ich wusste, dass Sie es zu würdigen wüssten«, sagte Emert. »In zehn Minuten haben wir sie sicher in den Händen.«
»Ich bin gleich da.«
Er lachte. »Lohnt es sich, dafür mit dreihundert Sachen von Knoxville hierher zu hetzen?«
»Würde es«, sagte ich, »aber das muss ich gar nicht, ich bin nämlich schon in Oak Ridge. Ich bin nur zwei Blocks den Hügel runter. Isabella und ich essen in der Soup Kitchen zu Mittag.«
»Sehr praktisch«, sagte er. »Kommen Sie einfach her, wenn Sie fertig sind.«
Ich klappte das Handy zu. »Großer Durchbruch im Fall Novak«, sagte ich. Sie machte große Augen. »Sie lassen endlich den Swimmingpool ab. Ich bekomme meine Kettensäge wieder.«
Einen Augenblick lang wirkte sie vollkommen verwirrt, dann schüttelte sie den Kopf ganz kurz, wie um einen dichten Nebel oder einen kräftigen Schlag abzuschütteln. Dann lachte sie ungläubig. »Niemand hat größere Liebe, denn der …«
»Nicht eifersüchtig sein«, neckte ich. »Ich würde ungern wählen müssen. Ich würde dich vermissen.«
Sie verdrehte die Augen, brach ein Stück Brot ab und warf es nach mir.
Nur einen Steinwurf von der Soup Kitchen entfernt führte eine Treppe durch einen kleinen Garten – jedenfalls durch das, was wohl zu jeder anderen Jahreszeit ein kleiner Garten war – nach oben zum Jackson Square, der während des Krieges das Herz von Oak Ridge gewesen war. Seit den ersten Tagen der Stadt hatte die Jackson-Square-Apotheke Medikamente ausgegeben, und das Gemeindetheater hatte Tragödien und Komödien gegeben. Noch ein Stück den Hügel hinauf standen die Kapelle und das Alexander Inn, dramatische Erinnerungen daran, wie die Vergangenheit eines Ortes in Ehren gehalten oder dem Verfall preisgegeben werden konnte.
Ich überquerte die Straße und trat auf den Gehweg, der hinauf zu dem verlassenen Hotel führte. Mir fiel auf, dass durch den Rinnstein am Straßenrand dunkles, brackiges Wasser lief. Ein Feuerwehrschlauch war an einen Ablauf angeschlossen worden, der in den Damm unterhalb des Swimmingpools eingelassen war, und der Schlauch spuckte den Inhalt des Pools jetzt in den Rinnstein. Gurgelnd und strudelnd stürzte das brackige Wasser durch ein schmiedeeisernes Gitter in einen Straßenablauf. Ich hörte ein fernes Platschen – entweder war das Abwasserrohr riesig, oder es mündete in einen tiefen Schacht –, und ich dachte daran, wie Isabella von dem komplizierten Netzwerk aus Tunneln und Röhren erzählt hatte, das die Armee beim Bau der Stadt unter Oak Ridge angelegt hatte.
Ein kleiner Gerätewagen mit der Aufschrift FEUER-WEHR OAK RIDGE parkte am Swimmingpool neben Emerts Wagen. Am Ende des Pools stand Emert in einem roten Parka, ins Gespräch mit einem Feuerwehrmann vertieft. Der Detective hob eine Hand und winkte, als ich näher kam. »Gutes Timing«, sagte er. »Wir kommen allmählich an den Boden. Es sei denn, es ist der tiefste Hotelswimmingpool, der je ausgehoben wurde.«
Mein Blick fiel auf einen mit Wasser gefüllten Behälter, der zwischen Emert und dem Feuerwehrmann stand. Es war der Mülleimer, den ich Emert an der Laderampe des Krankenhauses gegeben hatte, an dem Tag, als er Leonard Novaks Brieftasche und Führerschein aus dessen Hosentasche geangelt hatte. Nur zehn Tage waren seither verstrichen, doch es kam mir vor, als wäre inzwischen sehr viel Zeit und sehr viel Unschuld unter der Brücke hindurchgeflossen. Zwei Menschen, an denen mir sehr viel lag – ein Arzt, dem ich höchsten Respekt zollte, und eine Studentin, der ich mich verbunden fühlte wie kaum einem anderen Menschen auf der Welt –, befanden sich im siebten Vorhof der Hölle, während sie darauf warteten, ob sie Fingerspitzen oder Hände oder womöglich sogar das Leben verlieren würden. Falls Garcias Knochenmark und Immunsystem sich nicht erholten, konnte die kleinste Infektion eskalieren und ihn das Leben kosten. Selbst wenn er überlebte, konnte es sein, dass er für den Rest seines Lebens verunstaltet war, seine Verletzungen konnten das Ende seiner Karriere bedeuten und seinem Lebensmut einen vernichtenden Schlag versetzen und sein Familienleben zerstören.
Ich schob diese Gedanken von mir. Ich konnte nichts für Garcia und Miranda tun, und es gab keinen Grund, Emert mit meinen Sorgen zu belasten. »Okay«, sagte ich, »reden wir über die Strategie. Wie bekommen wir die Säge ganz schnell aus dem Pool in den Eimer?« Ich zeigte auf die Leiter am Schwimmbeckenrand. »Die führt nur halb hinunter, und Sie wissen, dass der Beton glitschig sein wird wie der Teufel.«
»Da sind wir Ihnen ein gutes Stück voraus, Doc«, versetzte er und zeigte auf den Zaun hinter sich. Dort lag eine lange Aluminiumstange, die Rettungsschwimmer-Variante eines Hirtenstabs. »Die haken wir einfach unter den Sicherheitsbügel der Säge«, sagte er, »und hieven sie hoch. Rettung erfolgreich abgeschlossen.«
Einen Augenblick später stupste ich ihn an. Der gebogene Sicherheitsbügel der Säge kam in Sicht, als das Wasser zurückging, gefolgt von dem oberen Teil des orangefarbenen Gehäuses, das unter der Schlammschicht allerdings nicht mehr so bunt war wie ehedem.
Der Feuerwehrmann nahm die Stange und fuhr mit dem Haken unter den Sicherheitsbügel. Dann stellte er sich breitbeinig hin, um einen guten Stand zu haben, und hob die Stange Zug um Zug, als würde er einen Fisch einholen. Als die Säge über dem Rand des Swimmingpools schwebte, packte ich sie trotz Schlamm und allem, hakte sie los und versenkte sie, mit dem Motor voran, in dem sauberen Wasser in dem Mülleimer.
»Den Göttern sei gedankt«, sagte ich.
»Ich werd verrückt«, sagte Emert.
Ich sah ihn verwirrt an, doch er sprach nicht mit mir. Er hatte den Blick auf den Boden des Swimmingpools gerichtet, wo das Wasser, das stetig weiter zurückging, den unverkennbaren Umriss einer weiteren Leiche freilegte. Aus ihrer Brust ragte der Griff eines Messers.