25
Thornton hatte Miranda ein Friedenszeichen geschickt: ein Dutzend Iris, noch nicht aufgeblüht, die aussahen wie grüne, in Indigo getunkte Künstlerpinsel. Zwischen den blauen Spitzen steckten sieben kleine Sonnenblumen, die wie eine Woche voller Sommertage leuchteten. Miranda war nicht im Labor, als ich sie entdeckte. Ich wusste, dass sie von Thornton waren, weil neben der Vase eine Visitenkarte lag, auf der sein Name stand, das FBI-Logo und das Wort »Friede?«. Der Mann hatte Gespür, und er schien klug und mutig zu sein, also war er vielleicht doch noch im Rennen. Er war allerdings noch nicht bereit, das Risiko einzugehen, persönlich zu erscheinen, also erklärte ich mich einverstanden, ihn für unsere Fahrt zum Oak Ridge National Laboratory an der FBI-Dienststelle in der Innenstadt von Knoxville abzuholen. Mir war eine Idee gekommen, wo wir bei der Suche nach dem toten Mann auf Novaks Film ansetzen konnten, Thornton wollte mit jemandem vom Radioisotop-Programm sprechen, und so hatten wir beschlossen, zusammen nach Oak Ridge zu fahren.
Sobald wir die Solway Bridge überquert hatten, bogen wir nach Westen auf die Bethel Valley Road, ein langes, gerades, prärieflaches, zweispuriges Band, das zum Laboratorium führte. Acht Kilometer in das Bethel Valley hinein hielten wir an einem Sicherheitsposten, wo ein bewaffneter Wachmann ein Klemmbrett und meinen Führerschein konsultierte und mir dann leicht zunickte. Vor Thorntons FBI-Dienstmarke machte er förmlich einen Kniefall. Nicht dass ich eifersüchtig gewesen wäre oder so.
Die Straße, auf beiden Seiten von Kiefern und Laubbäumen gesäumt, führte weitere drei Kilometer schnurgerade durch das Tal. Sie streifte eine gefrorene Bucht des Melton Hill Lake und führte dann zu dem ausgedehnten Laboratoriumskomplex. Das Oak Ridge National Laboratory – von den meisten Wissenschaftlern, die dort arbeiteten, nur »das Laboratorium« genannt, von den Abkürzungsfanatikern als »ORNL« bezeichnet und von den einfachen Arbeitern als »X-10« – war die einzige Forschungseinrichtung, die während des Manhattan-Projekts in Oak Ridge gegründet worden war. DieY-12-Anlage und die K-25-Anlage waren riesige Produktionsstätten gewesen, wo Heerscharen von Arbeitern wie Beatrice gearbeitet hatten. In dem Laboratorium waren jedoch schon zu Kriegszeiten mehr Physiker, Chemiker und Ingenieure beschäftigt gewesen. Es war um den Graphitreaktor herum gebaut worden – eine gigantische Version von Fermis behelfsmäßigem Reaktor in Chicago –, sodass Leonard Novak und seine Kollegen die Instrumente entwickeln konnten, um waffenfähiges Plutonium zu erzeugen und anzureichern.
Als Thornton und ich von der Bethel Valley Road abbogen und auf den Laboratoriumskomplex zufuhren, fanden wir uns umgeben von schimmernden neuen Gebäuden aus Glas und Stahl. Obwohl das Laboratorium im Besitz der Bundesregierung war – es unterstand dem Energieministerium –, wurde es inzwischen gemeinschaftlich von der University of Tennessee und dem Battelle-Institut – einem privaten, gemeinnützigen Forschungsinstitut mit Regierungsverträgen in Milliardenhöhe – betrieben. Die Partnerschaft war eindeutig fruchtbar, zumindest unter architektonischem Gesichtspunkt.
Nachdem wir geparkt hatten, gingen Thornton und ich an den neuen Gebäuden vorbei, und allmählich kamen die klotzigen Gebäude aus der Zeit des Kalten Krieges in Sicht, an die ich mich von einem Besuch vor vielen Jahren noch erinnerte. Die alten Gebäude waren nicht durch neue ersetzt worden, sie waren nur ergänzt und dem ersten Blick beim Näherkommen entzogen worden. Wir gingen eine einspurige Straße zwischen hoch aufragenden Gebäuden entlang, an denen 4500 NORD und 4500 SÜD stand, und dann traten wir durch eine Eisentür, die in die riesigen Backsteinmauern von 4500 Süd eingelassen war. Drinnen führte eine Treppe in einen Keller und hinauf in zwei Etagen voller Büros und Labore. Wir stiegen eine Etage hoch, dann betraten wir einen Flur, der mit KORRIDOR H beschriftet war. Ich klopfte an die offene Tür des ersten Büros. Es war dunkel, und ich machte mir schon Sorgen, ich hätte mich irgendwie verlaufen, doch eine Stimme rief: »Herein.«
Arpad Vass tauchte aus dem Halbdunkel auf, um mir die Hand zu schütteln und das Licht einzuschalten; die Leuchtstoffröhren waren so hell, dass mir zuerst die Augen brannten, und ich verstand, warum Arpad lieber im Dunkeln saß, zumindest solange er am Computer arbeitete.
Arpad war einer der innovationsfreudigsten Studenten, die ich je gehabt hatte. Statt sich auf physische Anthropologie zu konzentrieren – das heißt im Wesentlichen auf Knochen –, hatte Arpad sich in seiner Doktorarbeit mit Chemikalien befasst. Insbesondere hatte er eine Methode entwickelt, die Chemikalien der Verwesung wie eine Uhr zu interpretieren, an der man die seit dem Tod verstrichene Zeit ablesen konnte.
In den vergangenen fünf Jahren hatte Arpad die Gase eingefangen und analysiert, die Leichen beim Verwesen verströmen. In einer Ecke der Body Farm hatte er in unterschiedlich tiefen Gräbern vier Leichen vergraben. Die Gräber wurden von einem Netzwerk perforierter Röhren durchzogen, die an die Erdoberfläche führten. Seit er die Leichen begraben hatte, hatte er alle zwei Wochen Luftproben von innerhalb und außerhalb der Gräber genommen und die Proben durch einen Gaschromatograph-Massenspektrometer geleitet, ein raffiniertes Analyseinstrument, das die übelriechenden Proben in ihre individuellen Komponenten zerlegte. Im Laufe des Experiments hatte Arpad fast fünfhundert verschiedene Komponenten identifiziert, die Leichen bei ihrer Verwesung abgeben. Viele Komponenten waren allgemein verbreitet, kamen praktisch überall in der Natur vor, doch er hatte auch rund dreißig Schlüsselkomponenten gefunden, die zusammen als Fingerabdruck einer begrabenen Leiche interpretiert werden konnten. Genauer gesagt als Fingerabdruck einer begrabenen Menschenleiche und nicht der verwesten Überreste eines Rehs zum Beispiel, eines Hunds oder eines Schweins.
Doch Arpad hatte nicht nur den chemischen Fingerabdruck begrabener Leichen analysiert, er hatte auch ein Gerät entwickelt, mit dem man diese Fingerabdrücke draußen im Gelände feststellen konnte. Das Ding, das er den »Schnüffler« nannte, war eine mechanische Version der Nase eines Leichensuchhunds, und es war dazu gedacht, verborgene Gräber aufzuspüren. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte, hatte Arpad einen Prototyp des Schnüfflers getestet.
Thornton schüttelte Arpad die Hand und schloss die Bürotür. Arpad – der ungarischer Abstammung war und dunkles Haar und braune Augen hatte – zog fragend die Augenbrauen hoch. Auf Thorntons Bitte hin hatte ich ihm nicht gesagt, warum wir ihn sprechen wollten, nur, dass ein FBI-Beamter und ich ihn gern in einem forensischen Fall zu Rate ziehen würden.
»Es geht hier um eine ziemlich heikle Angelegenheit«, begann Thornton. »Wir haben Beweise dafür, dass während des Manhattan-Projekts in der Umgebung des Labors ein Mord geschah. Wir haben auch den Verdacht, dass Spionage für die Sowjets bei dem Mord eine Rolle gespielt haben könnte.«
»Interessant«, sagte Arpad. »Was sind das für Beweise?«
Thornton nickte mir zu. Ich öffnete den mitgebrachten braunen Briefumschlag, holte die Fotos heraus und legte sie auf Arpads Tisch. Er studierte die Bilder der Leiche und des flachen Trichters und lächelte. »Das sieht mir nach einem ziemlich guten Beweis aus«, sagte er. »Sind die gerade erst ans Licht gekommen?« Ich nickte. »Und die Leiche wurde nie gefunden?« Ich nickte wieder. Arpad lächelte noch einmal. »Sehr interessant.«
»Erzählen Sie mir von diesem Schnüffler, an dem Sie arbeiten«, sagte Thornton. »Wie funktioniert er – und wie gut funktioniert er?«
Wenn ich Arpad nicht so gut gekannt hätte, hätte ich das ungeduldige Flackern in seinen Augen wahrscheinlich gar nicht bemerkt. Es dauerte nur einen Sekundenbruchteil, und dann – fast wie auf Knopfdruck – war er in Präsentationslaune und stellte sich und seine Arbeit dem Beamten vor. »Die Forschung wird vom Justizministerium finanziert«, sagte er. »Wir haben zwei Techniken zum Aufspüren verborgener Gräber erforscht. Eine ist eine ziemlich simple Standardtechnik, die andere ist ein wenig ausgeklügelter; wir entwickeln sie ganz neu für das Ministerium.« Er ging um den Tisch und nahm aus dem Bücherregal an der langen Wand des Büros ein pistolenförmiges Gerät. Anstelle eines Laufs hatte es ein fünfundvierzig Zentimeter langes Gummirohr mit einer Metallspitze am Ende. »Das ist ein TopGun H10X, ein kommerzieller Freon-Detektor«, sagte Arpad, »wie Klimaanlagenmonteure ihn benutzen, um nach Lecks im System zu suchen.« Thornton sah verdutzt aus und ich wahrscheinlich auch, denn diesen Teil von Arpads Präsentationsvortrag hatte ich noch nicht gehört. »Es hat sich herausgestellt«, fuhr Arpad fort, »dass unter den dreißig Schlüsselkomponenten, die eine verwesende Leiche abgibt, auch Freonverbindungen sind. Das ist also eine simple Möglichkeit, mit bereits existierender, preiswerter Technik eine erste grobe Suche durchzuführen. Hier, ich zeig’s Ihnen.« Arpad öffnete einen Aktenschrank und holte ein kleines Glasfläschchen heraus, das mit einem Gummistopfen verschlossen war. Darin war eine kleine Menge von etwas, das aussah wie normale Gartenerde.
»Dies ist eine Bodenprobe von der Oberfläche eines flachen Grabs auf der Body Farm«, sagte er und entfernte den Stopfen. Ich schnüffelte, doch ich konnte keine Verwesung riechen. »Wenn die Leiche obenauf gelegen hätte, würde die Probe richtig stinken«, sagte er, und ich nickte zustimmend. »Aber da wir sie über der Leiche entnommen haben, sind die flüchtigen Fettsäuren nicht in das Erdreich gesickert. Hingegen sind die Gase, die sich in der Leiche unter der Erde gebildet haben, langsam durch die Erde nach oben gewandert. Viel, viel schwächer.« Er kramte in der Aktenschublade herum, holte eine Plastiktüte heraus und tat das Fläschchen in die Tüte. Als Nächstes schaltete er den Detektor ein, der mit einem Geräusch irgendwo zwischen einem Kreischen und einem elektronischen Rauschen zum Leben erwachte. Arpad drehte an einem Schalter, und das Geräusch senkte sich zu einem gelegentlichen Zirpen. Er steckte den Stab des Freon-Detektors in die Tüte und presste die Tütenöffnung dicht um den Stab, damit keine Luft entwich. Nach wenigen Sekunden zirpte der Detektor immer schneller, bis aus dem Zirpen fast wieder ein stetiges Kreischen geworden war.
Thornton nickte, doch das Nicken hatte etwas Zögerndes. »Wenn also jemand eine Leiche für Sie eintütet und Sie stecken den Stab in die Tüte, können Sie die Leiche finden?« Diesmal war die Ungeduld in Arpads Miene nicht zu übersehen.
»Das hier sind ungefähr dreißig Gramm Erde«, sagte Arpad. »Eine Unze. In dieser Probe sind wahrscheinlich wenige Picogramm Verwesungschemikalien. Die Methode ist nicht unfehlbar, aber für den Anfang nicht schlecht, wenn man überlegt, dass man so ein Ding für achtzig Dollar bei eBay bekommt.«
»Dann ist das also nicht der Schnüffler, an dem Sie für das Justizministerium arbeiten?«
»Genau. Der Schnüffler, den wir für das Justizministerium entwickeln, ist hier.« Arpad öffnete einen Schrank und holte ein Instrument heraus, das aussah wie eine Kreuzung zwischen einem Metalldetektor und einem Freischneider. Bei genauerer Betrachtung entdeckte ich, dass es statt einer Suchspule oder einem Mähkopf eine kleine zylindrische Sonde hatte. Arpad drückte am oberen Ende des Geräts einen Schalter, und es klickte langsam, ähnlich wie ein Geigerzähler. »Je nachdem, welche Sensoren wir in der Sonde einsetzen«, sagte er, »können wir nach einer frischen Leiche suchen, einer verwesten oder einer richtig alten.« Er schob die Sonde in die Tüte, und nach wenigen Sekunden verschmolz das Klicken zu einem Maschinengewehrknattern.
Thornton beugte sich vor und musterte den Schnüffler. »Und wie lange würde es dauern, ein Gebiet mit diesem Ding abzusuchen?«
»Kommt darauf an, wie groß das Gebiet ist«, sagte Arpad. »Diese Fotos scheinen die allgemeine Lage anzugeben, aber wir könnten trotzdem noch über ein Gebiet von einem Hektar sprechen. Falls man die Sonde alle dreißig Zentimeter einmal in den Boden stecken will, wären das rund achthunderttausend Proben. Haben Sie monatelang Zeit, um mit dem Ding im Boden zu stochern?«
Thornton zuckte die Achseln. »Wenn es so lang dauert, dauert es eben so lang. Nach Jimmy Hoffa haben wir auch jahrelang gesucht.«
»Also, ich habe nicht jahrelang Zeit«, meinte Arpad. »Ich habe nicht mal eine Woche, denn meine Geldgeber vom Justizministerium sitzen mir im Nacken, einen serienreifen Prototyp von dem Ding zu präsentieren, damit sie anfangen können, es überall im Land an die Polizeistationen zu verteilen.«
»Haben Sie einen Vorschlag«, mischte ich mich ein, »wie wir es so effizient wie möglich einsetzen können?«
»Ich würde vorschlagen, einen Leichenspürhund hinzuzuziehen, der den Bereich schon mal grob absucht, und zu schauen, ob es Stellen gibt, die er interessant findet. Hunde sind da einfach schneller als wir, ein guter Hund könnte uns Tage oder Wochen systematischer Suche ersparen.«
»Ich dachte, es ginge darum, den Hund zu ersetzen«, meinte Thornton.
»Eher, den Hund zu ergänzen«, sagte Arpad. »Hunde haben in Millionen von Jahren tolle Nasen entwickelt. Sie können trainiert werden, noch so schwache Gerüche aufzuspüren – Bomben, Drogen, Trüffel, Tumore, menschliche Knochen. Sie können sie nicht nur finden, sie können sie verfolgen und bildlich gesprochen flussaufwärts zu ihrer Quelle schwimmen. Geruch ist nichts Statisches, Unverrückbares, er hat fast ein Eigenleben, bewegt sich wie Wasser: Er fließt, sammelt sich, sinkt ab, kriecht über unterirdische Felsschichten. Ein guter Leichensuchhund kann diesen Geruchsstrom verfolgen – wenige Moleküle auf einmal –, bis er der Geruchsquelle immer näher kommt. Wenn wir einen guten Leichensuchhund hinzuziehen, können wir den Suchbereich um neunzig Prozent oder mehr eingrenzen.«
»Klingt nach einer guten Idee«, sagte ich. »Kennen Sie zufällig irgendwelche guten Leichensuchhunde?«
»Zufällig ja«, sagte er. »Einen Schäferhund namens Cherokee. Er hat in der Nähe von Bristol einige nackte menschliche Knochen in einem Bachbett gefunden, was nicht besonders erstaunlich ist. Im Big South Fork River hat er einen eben ertrunkenen Mann in sechs Meter tiefem Wasser gefunden, und das ist ehrlich erstaunlich. Ich habe mit Cherokee gearbeitet, um den Schnüffler zu kalibrieren. Ich habe verschiedene Verwesungsproben an ihm vorbeigeführt, um zu schauen, ob er anschlägt, um sicherzugehen, dass er sie als menschliche Überreste erkennt. Dann habe ich den Prozess mit einer synthetischen Labormischung aus einigen wenigen Schlüsselchemikalien der Verwesung wiederholt. Cherokee hat angeschlagen, genau wie der Schnüffler. All das in einem Innenraum. Dann sind wir raus in den Wald gegangen, wo wir dasselbe mit verbuddelten Proben gemacht haben. Der Hund hat sie alle gefunden, genau wie der Schnüffler.«
Thornton lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Finger aneinander. »Also, ich möchte Sie ja nicht kränken«, sagte er, »aber was kann der Schnüffler, was der Hund nicht kann?«
»Er hat Durchhaltevermögen«, sagte Arpad. »Eine Hundenase lässt ziemlich schnell nach – die Neuronen, die Signale ans Gehirn senden, werden einfach müde und hören auf zu senden. Ein Leichensuchhund kann maximal eine halbe Stunde intensiv arbeiten, dann muss er sich ausruhen. Das Einzige, was beim Schnüffler schlappmacht, ist die Batterie, und die auszutauschen dauert sechzig Sekunden.«
Thornton nickte zufrieden. »Glauben Sie, wir können Cherokee in absehbarer Zeit holen, damit er uns hilft, das Suchgebiet einzugrenzen?«
»Ich rufe an und frage«, sagte er. »Wo ist das Suchgebiet?« Er griff nach hinten zu einem Sideboard, das unter dem Fenster stand, und holte eine zusammengerollte topographische Karte des Naturreservats heraus, rollte sie auf seinem Tisch aus und beschwerte sie an den Ecken mit Büchern.
Thornton und ich sahen einander an. »Da liegt der Hase im Pfeffer«, sagte ich. »Wir wissen es nicht genau.« Arpads Blick schwenkte von mir zu Thornton und wieder zurück. Ich legte eines der Fotos auf die Karte. »Wir glauben, er liegt hier begraben, wo das Foto von dieser Scheune gemacht wurde.«
»Und wo ist die Scheune?«
»Das ist es ja«, sagte ich. »Wir wissen nicht, wo sie ist. Oder war.«
Fassungslos sah er uns an. »Sie meinen, sie könnte überall im Naturreservat stehen oder gestanden haben?« Ich nickte verdrießlich. »Und Sie wissen nicht mal, ob es sie überhaupt noch gibt?« Ich nickte wieder. »Sie reden von einem Suchgebiet von, na, zweihundert Quadratkilometern? Das Gebiet mit der Sonde abzugehen würde ein ganzes Leben dauern. Mehrere Leben. Es macht mir nichts aus, nach der Nadel im Heuhaufen zu suchen, aber das sind fünfzigtausend Heuhaufen. Rufen Sie mich an, wenn Sie es auf einen eingegrenzt haben.«
Als wir vom Forschungskomplex wegfuhren, sagte ich zu Thornton: »Arpad ist recht zurückhaltend, aber er findet die Sache hier wirklich aufregend.«
Thornton brach in schallendes Gelächter aus. »Ja«, meinte er, »und Miranda wählt bei der nächsten Wahl die Republikaner.«
Jetzt lachte ich. »Okay, er findet es nicht besonders aufregend«, räumte ich ein. »Ich wollte nur optimistisch sein. Tut mir leid, dass wir den Weg umsonst gemacht haben.«
»Nicht umsonst«, sagte er. »Ich kann Arpads Geldgeber beim Justizministerium anrufen und ihnen sagen, dass das Ding funktioniert. Solange man weiß, wo die Leiche liegt.« Ich schaute wohl erschrocken drein, denn er fügte rasch hinzu: »Nur ein Scherz. Das war ein Scherz.«
Wir fuhren ein, zwei Kilometer ostwärts Richtung Oak Ridge und Knoxville, dann zeigte Thornton auf der linken Seite auf ein Schild. »Da ist es: SPALLATIONSNEUTRO-NENQUELLE«, sagte er. »Da muss ich hin.« Die Straße wand sich in einer Reihe weicher Kurven den Hügel hinauf, und oben auf dem Hügelrücken erstreckte sich ein riesiges neues Gebäude, fünf geschwungene Etagen aus grünem Glas und gebürstetem Aluminium.
»Wow«, sagte ich. »Arpad sollte sich mit den Knaben hier anfreunden. Die haben viel schickere Quartiere.« Ich parkte in der Nähe des Eingangs auf einem Platz, der mit BE-SUCHER gekennzeichnet war, obwohl wir unter Dutzenden von bequemen Plätzen hätten wählen können. »Und mehr Parkplätze.«
»Ich glaube, hier wird noch letzte Hand angelegt«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass die Spallation schon auf vollen Touren läuft.«
»Erklären Sie mir noch mal, was Spallation bedeutet«, sagte ich, als wir auf die Glastüren zugingen.
»Stammt von derselben Wurzel wie Sch-plit«, sagte er und lachte. »Nein, das war schon wieder ein Scherz. Es kommt von spallieren, absplittern, wie Beton. Spallation ist eine subatomare Version von absplitterndem Beton. Das Ding schießt Millionen von Neutronen aus einem riesigen Linearbeschleuniger – sehen Sie den langen, schnurgeraden Erdwall da, der vom Hauptgebäude zu dem kleineren Gebäude ganz da hinten führt? Ich glaube, darunter ist der Beschleuniger. Wie auch immer, er schießt Neutronen auf sogenannte Targets oder Materialien, und dann finden Menschen, die viel klüger sind als ich, alle möglichen wichtigen Sachen über diese Materialien heraus, je nachdem, was passiert, wenn die Neutronen in sie hineindonnern.«
»Hineindonnern?«
»Hineindonnern. Einschlagen. Rumsen. Wie Sie wollen. Das sind alles wissenschaftlich exakte und präzise Begriffe.«
»Exakt.«
»Und präzise.«
»Und beim Hineindonnern produzieren sie hier gelegentlich auch Radioisotope?«
»Hä? Ich glaube nicht«, sagte er. »Wie kommen Sie darauf?«
»Na, Sie haben doch einen Termin mit einem Radioisotop-Menschen«, sagte ich, »und wir sind hier.«
»Ach so«, sagte er. »Kluge Schlussfolgerung, aber leider falsch. Die Isotopen produzieren sie in einem Forschungsreaktor, dem Hochflussreaktor. Aber da sind die Sicherheitsvorkehrungen viel strenger, und hier sind die Quartiere besser. Und der Radioisotop-Mensch hat offensichtlich bessere Verbindungen als Arpad.«
Thorntons »Radioisotop-Mensch« – wie sich herausstellte, der Direktor des Programms, Barry Vandergriff – empfing uns im Atrium und lud uns ein, auf ein paar Sesseln Platz zu nehmen, die in einer Nische des Empfangsbereichs standen. Ich entschuldigte mich und spazierte an einer Reihe von Schautafeln mit Schnittzeichnungen des Beschleunigers, der Neutronenstrahlführungen und anderer experimenteller Einrichtungen vorbei. Einiges war mir viel zu hoch, doch ich begriff, dass Neutronen und die Art und Weise, wie sie abgelenkt oder zerstreut wurden, wenn sie von Materialien abprallten oder durch sie hindurchdrangen, Licht auf die Molekularstruktur von Metallen und Kunststoffen werfen konnte und sogar auf die Proteine, aus denen lebende Organismen aufgebaut sind.
Ich studierte gerade einen großen, quecksilbergefüllten Behälter – das Quecksilber diente anscheinend als riesiger Fanghandschuh, der den Neutronenstrahl stoppte, nachdem er durch sein Target hindurchgegangen war –, als Thornton mir auf die Schulter tippte. »Ich bin fertig«, sagte er. »Sind Sie so weit, oder wollen Sie noch ein bisschen studieren?«
»Ich bin so weit«, sagte ich. »Ich stecke bis zum Hals in Neutronen.«
Als wir das Gebäude verließen, sagte Thornton: »Ich wollte mit diesem Mann reden, um mehr über die Iridiumquellen für die Isotopenarbeitsgeräte zu erfahren – wer diese Quellen herstellt, wie und wo.«
»Und? Konnte er helfen? Hat er geholfen?«
»Er konnte«, sagte er. »Und er hat.«
»Und?«
»Jahrelang war die einzige Quelle für Iridium-192 in den USA der Hochflussreaktor hier in Oak Ridge.«
»Aber jetzt gibt es andere Quellen?«
»Nein. Nicht einmal im Hochflussreaktor wird es mehr hergestellt. Zu teuer. Jetzt wird es aus Reaktoren in Belgien, den Niederlanden und Südafrika importiert.«
»Es ist billiger, es im Ausland herstellen zu lassen und zu importieren?«
»Vermutlich«, sagte er. »Vielleicht subventionieren diese Regierungen die Isotopreaktoren besser, vielleicht sind die Sicherheitsstandards niedriger oder die Arbeitskräfte billiger. Wie auch immer, das verkompliziert unsere Bemühungen, herauszufinden, wo das Zeug herkam, um einiges.«
»Verdammt«, sagte ich. »Wenn das Zeug nur eine Halbwertszeit von vierundsiebzig Tagen hat, wieso ist da Zeit, es um die halbe Welt zu schippern?«
Er zuckte die Achseln. »Die transportieren auch Sushi von Tokio nach New York, und Sushi hat eine noch viel kürzere Halbwertszeit. Man braucht nur ein schnelles, zuverlässiges Liefersystem. Zum Teufel, Iridium-192 könnte per DHL oder FedEx verschickt werden, wenn die Sendung nicht riesig ist und der Behälter sicher.«
Ich wünschte fast, er hätte das nicht gesagt. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Lieferwagen der Paketdienste je wieder mit denselben Augen betrachten würde.