30

Um fünf Minuten vor acht wählte ich die Nummer der Stadtbücherei von Oak Ridge und fragte nach Isabella. »Sir, die Bücherei schließt jetzt«, sagte die junge Frau am Telefon. »Ich glaube nicht, dass sie noch Anfragen entgegennimmt.«

»Es geht nicht um eine Frage«, sagte ich, »sondern um eine Antwort. Es dauert nur eine Sekunde, und sie wird froh sein, wenn sie hört, worum es geht.«

Eine kurze Pause, und dann sagte die Frau, barscher als in meinen Augen notwendig: »Einen Augenblick, Sir, ich schaue, ob ich sie noch erwische.«

Eine weitere Pause, dann ein Klicken. »Bibliotheksauskunft, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Das haben Sie schon«, sagte ich. »Wir haben ihn gefunden.«

Sie lachte. »Ich muss nicht mal fragen, wovon Sie reden. Gratuliere! Sie haben ihn tatsächlich in der Nähe der Scheune gefunden?«

»Ich zeige Ihnen ein Foto«, sagte ich. »Die Bäume sind höher, und die Scheune ist inzwischen aus Wellblech, doch der Blick auf das Silo ist absolut identisch.«

»Wissen Sie, wer er war? Wer ihn umgebracht hat? Warum?«

»Nein«, sagte ich. Ich dachte an das, was Thornton gesagt hatte. »Vielleicht hat er Atomgeheimnisse gestohlen. Vielleicht hat er auch nur der Frau irgendeines Hitzkopfs Avancen gemacht.« Ich wollte weiterreden. Ich stellte mir vor, dass die Lichter in der Bücherei verloschen, während Isabella noch am Auskunftstisch in dem leeren Gebäude saß, mit mir verbunden, der ich in meinem dunklen Wohnzimmer saß. »Die Kugel in seinem Kopf war geformt wie ein Atompilz«, sagte ich. »Als wäre in seinem Kopf eine kleine Atombombe hochgegangen.« Ich lachte. »Oak Ridge ist ein seltsamer Ort«, sagte ich. »Ich glaube, er macht mich auch ein bisschen seltsam.«

Sie schwieg einen Augenblick. »Aber doch bestimmt nicht so seltsam wie Dr. Seltsam, oder?«

»Hmm?« Von dem Knaben hatte ich noch nie gehört, aber Isabella klang, als müsste man ihn kennen. »Dass es für Seltsamkeit heutzutage schon Doktortitel gibt, ist mir neu«, witzelte ich. »Wer ist das denn, ein durchgeknallter Professor?«

»Fast. Wollen Sie wirklich behaupten, Sie hätten noch nie Dr. Seltsam gesehen: Dr. Seltsam oder wie ich lernte die Bombe zu lieben? Ein Klassiker. Sie sind doch während des Kalten Krieges aufgewachsen, wie konnten Sie die größte Satire über den Kalten Krieg verpassen, die je gedreht wurde?«

»Ich habe den Kalten Krieg erlebt«, sagte ich. »Ducken und zudecken. In der Schule unter dem Tisch verkriechen. Zu Hause in den Keller laufen. Ich musste mir das nicht noch auf der Leinwand anschauen.«

»Aber Ihre Erfahrungen mit dem Kalten Krieg sind nicht vollständig, solange Sie diesen Film nicht gesehen haben«, beharrte sie. »Was machen Sie gerade?«

»Hä?«

»Das sagen Sie dauernd«, meinte sie. »Und dann klingen Sie weit weniger intelligent, als Sie eigentlich sind. Was machen Sie gerade?«

»Ich sehe mir Prospekte von Kettensägen an.«

»Oh, gütiger Himmel«, sagte sie. »Ihre cineastische Bildung hat ein Loch so groß wie der Lake Michigan, und Sie vergeuden Ihre kostbare Zeit mit Motorsägen-Porno?«

Ich lachte wieder. »Diese Zeile würde ich ….«

»Ja, ja, ich weiß … nicht mit einer Kneifzange anfassen«, fiel sie mir ins Wort. »Rühren Sie sich nicht vom Fleck. Ich bin in einer Stunde da.«

»Sie kommen her? Zu mir?«

»Ja. Dank des Wunders von MapQuest. Und ich bringe Dr. Seltsam mit. Es sei denn, es ist Ihnen lieber, ich lasse es.« ’

»Nein«, sagte ich.

»Was, nein?«

»Nein, es wäre mir lieber, Sie würden … Also, ja, ich fand’s toll, wenn Sie … Ich meine, bitte, kommen Sie.«

Sie legte ohne ein weiteres Wort auf, und ich starrte belämmert auf den Hörer. Isabella kam zu mir? Um neun Uhr abends? Um mir einen Film zu bringen?

Ich war mir nicht sicher, was es – wenn überhaupt – sonst noch bedeuten könnte. Nachdem ich zu Abend gegessen hatte, hatte ich eine OP-Montur angezogen – aus irgendeinem Grund kam ich mir in einem Schlafanzug immer dämlich vor, aber OP-Kleidung war bequem, ohne dass ich mich darin komisch fühlte. Jetzt zog ich eine Jeans und ein Sweatshirt an.

Fünfundvierzig Minuten später sah ich Scheinwerfer in der Auffahrt, und dann läutete es an der Tür. Als ich öffnete, stand Isabella vor mir, über der Schulter eine Segeltuchbüchertasche.

»Sie sind verrückt«, sagte ich. »Warum haben Sie ihn mir nicht einfach nächstes Mal gegeben, wenn ich in die Bücherei komme, um mit Ihnen zu flirten?«

»Weil ich weiß, dass Sie nie die Zeit finden würden, ihn sich anzusehen, wenn ich ihn Ihnen einfach in die Hand drücken würde«, sagte sie. »Sie würden ihn zur Seite legen und sich Knochen anschauen. Oder Kettensägenprospekte.«

»Und jetzt drücken Sie ihn mir nicht einfach in die Hand?«

»Nie im Leben. Wir setzen uns jetzt hin und schauen ihn uns zusammen an.«

»Was … jetzt? Sie zwingen mich dazu, mir jetzt diesen Film anzusehen?«

»Sie werden mir noch dankbar sein«, sagte sie. »Ihre moralische und intellektuelle Entwicklung steht auf Messers Schneide. Abgesehen davon ist er ungeheuer witzig. Und ungeheuer gruselig, denn die Dinge haben sich nicht so sehr verändert, wie man erwarten könnte.« Sie griff in die Tasche, holte eine DVD-Hülle heraus und reichte sie mir. »Okay, Sie legen die DVD ein, während ich die Mikrowelle einschalte.«

»Warum wollen Sie die Mikrowelle einschalten?«

»Um Popcorn zu machen natürlich.« Sie griff wieder in die Tasche und holte ein Päckchen Pop Secret heraus. Der Name entlockte mir ein Lächeln. Vielleicht war es auch die Art, wie sie die Augenbrauen hochzog, während sie das Päckchen schüttelte. »Für Sie habe ich Diätcola mitgebracht und für mich Original Sin.«

Ich hatte beinahe Angst zu fragen. »Original Sin?«

»Cider«, sagte sie strahlend. »Apfelsaft für Erwachsene. Sollten Sie irgendwann mal probieren.«

»Ich habe Morbus Menière«, erklärte ich ihr. »Gelegentliche Anfälle von Drehschwindel. Das Letzte, was ich brauche, ist noch etwas, wovon mir schwindlig wird.«

»Von einer Flasche Cider wird Ihnen nicht schwindlig«, sagte sie. »Aber hier wird kein Druck ausgeübt. Ich würde mir im Traum nicht einfallen lassen, Ihnen zu sagen, was Sie zu tun haben. Und jetzt legen Sie die DVD ein.«

»Ja, Madam«, sagte ich und zeigte ihr den Weg in die Küche. Kurz darauf hörte ich die Mikrowelle piepsen, als sie irgendwelche Ziffern eingab und auf START drückte. Als der Copyright-Hinweis auf dem Fernsehbildschirm vom Vorspann abgelöst wurde, hörte ich das Stakkatofeuer der explodierenden Maiskörner. Über den Lärm in beiden Räumen rief ich: »Soll ich den Film anhalten?«

»Nein«, rief sie. »Ich habe ihn schon siebenundfünfzig Mal gesehen. Setzen Sie sich hin. Schauen Sie zu.«

Ich setzte mich. Ich sah, wie der Vorspann ablief. »Ich wusste nicht, dass Peter Sellers da mitspielt. Ich liebe die Rosaroter-Panther-Reihe.«

»In dem da spielt er drei Rollen«, sagte sie von der Tür. »Ursprünglich sollten es vier sein, aber er hat sich den Knöchel verstaucht und konnte die vierte nicht spielen.«

Der Film schien schwarzweiß zu sein, was mir seltsam vorkam. »Von wann ist der? Ich dachte, der Farbfilm wurde in den 1930er Jahren erfunden.«

»1964. Er ist schwarzweiß, damit er aussieht wie die Filme aus der Zeit des Kalten Kriegs und des Zivilschutzes und so weiter. Und jetzt, pst! Schauen Sie. Und staunen Sie.«

Ich hielt den Mund. Ich schaute. Und ich staunte. Ausgehend vom Konzept der gegenseitigen Abschreckung – der Strategie des Kalten Krieges, nukleare Waffenarsenale zu schaffen, mit denen man den Planeten mehrfach in Schutt und Asche hätte legen können – führte der Film den Rüstungswettlauf zu seinem logischen Schluss, falls »logisch« das richtige Wort ist, um ein Szenario zu beschreiben, in dem eine Supermacht auf dem ganzen Planeten versteckte Sprengladungen verteilt und die andere Supermacht in die Falle tappt.

Während ich so auf dem Sofa saß, war es fast, als wäre ich zweigeteilt. Ein »Ich« konzentrierte sich eifrig auf den Film. Das andere war sich deutlich der Frau bewusst, die neben mir saß, eine Schüssel Popcorn zwischen uns. Jedes Mal, wenn sie eine Handvoll Popcorn nahm, spürte ich, wie die Schüssel leicht gegen meinen Oberschenkel gedrückt wurde. Ich überlegte, ob sie dasselbe spürte, wenn ich in die Schüssel griff, und ob sie es genauso erregend fand.

Der Film endete schlecht für das Menschengeschlecht: Die Welt lag in Schutt und Asche, und überall stiegen Atompilze auf, unterlegt mit der beschwingten Melodie und den munteren Versen von »We’ll meet again some sunny day«. Trotzdem gelang dem Film der Balanceakt zwischen Entsetzen und Ausgelassenheit. Generäle und Staatsführer zankten sich wie Kindergartenkinder. Der Weltuntergang drohte, weil ein durchgeknallter US-Air-Force-General überzeugt war, dass die Russen das Trinkwasser mit Fluor vergiften wollten. Und Peter Sellers – der einen vornehmen britischen Offizier, einen schwächlichen US-Präsidenten und einen geistesgestörten Ex-Nazi spielte, der die US-Waffenpolitik lenkte – lieferte drei hervorragende Vorstellungen.

»Okay«, sagte ich, als ich aufstand und den Fernseher ausschaltete, »Sie hatten recht. Das war eine beschämende Bildungslücke. Vielen Dank, dass Sie sie geschlossen haben.«

»Ich habe erkannt, was meine Pflicht ist, und sie erfüllt«, erklärte sie, stellte die fettige Schüssel auf den Couchtisch, stand auf und reckte sich. »Ich hätte heute Nacht nicht ruhig schlafen können, wenn ich Sie in Unwissenheit gelassen hätte. Dr. Seltsam nicht zu kennen ist, wie Casablanca oder Citizen Kane nicht zu kennen.«

»Citizen wer?«

»Citizen Kane«, sagte sie. »Bitte, das meinen Sie doch nicht ernst?«

»Oh, Citizen Kane«, sagte ich. »Richtig. Natürlich. Das ist dieser Film über … Sie wissen schon … diesen … Citizen.«

»Diesen Citizen? Oh, mein Gott«, stöhnte sie, »Sie haben auch eine Citizen-Kane-Bildungslücke. Sie sind hoffnungslos.« Sie klopfte mir mit der Handfläche auf die Brust. Einmal. Zweimal. Beim dritten Mal ließ sie die Hand auf meiner Brust liegen. Ich legte meine Hände auf ihre.

»Hoffnungslos? Wirklich?« Ein schiefes, verlegenes Grinsen schien um meine Mundwinkel zu zucken. Machte ich etwa den charmereichen Thornton nach? Oder war das einfach die Art, wie Männer grinsten, wenn sie sich in eine hübsche und kluge Frau verliebten? Würde meine Version dieses Grinsens Isabella so bezaubern, wie Thorntons Miranda zu bezaubern schien?

»Wirklich«, sagte sie. »Was soll ich nur mit Ihnen machen?«

»Nun«, sagte ich, »Sie könnten mich küssen, wenn Ihnen der Sinn danach stünde. Ich habe auch ein Kuss-Defizit, das ich persönlich sehr viel beunruhigender finde als mein Citizen-Kane-Defizit

»Ein Kuss-Defizit?«

Ich nickte ernst. »Ich habe praktisch vergessen, wie es geht.«

Sie machte einen kleinen Schritt auf mich zu, sodass sie nur noch zwei Zentimeter von mir entfernt war. Die Hand ließ sie auf meiner Brust liegen. Ich legte beide Hände auf ihre Schultern. Die Atmosphäre um uns herum veränderte sich, die Haare auf meinen Armen und in meinem Nacken stellten sich auf, als würde gleich ein Blitz vom Himmel fahren, und dann passierte es: Sie neigte leicht den Kopf und hob die Lippen zu meinem Mund. Ihre Lippen waren weicher, als ich mir vorgestellt hätte, weicher, als ich mir überhaupt irgendwelche Lippen vorgestellt hätte. Ich fuhr mit einer Hand über ihr Haar – dichtes, welliges schwarzes Haar –, und dabei zitterte sie.

Sie zog sich von dem Kuss zurück, legte auch die andere Hand auf meine Brust und ließ den Kopf an meine Schulter sinken. Ihr Atem ging schnell und flach, und sie zitterte immer noch. »Du meine Güte«, murmelte sie. »Ich frage mich, wie es wäre, wenn du noch in Übung wärst.«

»Ich weiß nicht«, sagte ich, »aber ich würde es gern herausfinden.«

Ich beugte mich über sie, um sie noch einmal zu küssen, doch sie wandte das Gesicht ab und schob mich ein wenig von sich. »Warte«, sagte sie, und ich fürchtete schon, ich wäre zu weit gegangen, hätte in meinem Eifer eine Grenze überschritten. Sie fummelte mit den Händen in ihrem Nacken herum. Sie löste eine schwarze Schnur und legte eine Halskette ab, die sie unter dem Pullover getragen hatte. Der silberne Anhänger war recht auffällig – eine abstrakte Wiedergabe von etwas Realem, eine Figur, die eckig war und gekrümmt und uralt und modern zugleich. Sie schob ihn in die Tasche ihrer Jeans. Dann küsste sie mich wieder, und mein Interesse an der Halskette verflog. Ich fasste wieder in ihre Haare und fuhr mit den Fingern hindurch wie mit einem Kamm – einem Kamm, der sich sanft drehte und zupfte, als er durch die Strähnen strich –, und dabei stieß sie einen leisen Laut aus, halb Seufzen, halb Wimmern. Es war der erregendste Laut, den ich je gehört hatte. Ich holte tief Luft und griff fester zu. Ihr Körper begann wieder zu zittern.

Sie schlich sich irgendwann hinaus, während ich schlief, ich weiß nicht, wann. Alles, was ich weiß, ist, dass ich am Morgen zu einem blutorangeroten Sonnenaufgang wach wurde.