7

Ein Klopfen an meiner Bürotür ließ mich auffahren. Ich war wohl eingeschlafen. Miranda und ich waren einige Stunden bei Carmen Garcia gewesen und gegen Mitternacht ins Krankenhaus zu ihrem Mann zurückgekehrt, wo wir bis sechs Uhr geblieben waren, bis es Zeit für unsere nächste Blutabnahme war. Carmen war außer sich gewesen, als sie erfuhr, dass ihr Mann, der das Haus morgens nach dem Frühstück wie gewohnt verlassen hatte, nachdem er sich von ihr und dem Baby mit einem Kuss verabschiedet hatte, jetzt im Krankenhaus lag und seine Hände und womöglich sogar sein Leben durch eine seiner Leichen in Gefahr geraten waren, die er obduziert hatte.

Garcia arbeitete noch kein Jahr als Medical Examiner; er war aus Dallas nach Knoxville gekommen, um nach Jess Carters Ermordung deren Stelle zu übernehmen. Anfangs hatte ich Garcia nicht besonders gemocht, ich hatte ihn pedantisch und herablassend gefunden, doch ich hatte bald erkannt, dass das, was ich als Pedanterie missverstanden hatte, eigentlich nur ein äußerer Anstrich von Förmlichkeit war, vielleicht sogar Schüchternheit. Er war ein schmächtiger, gutaussehender Mann, aufgewachsen in einer wohlhabenden Familie in Mexico-City, bevor man ihn in die USA aufs College und auf die Medizinische Fakultät geschickt hatte. Seine Frau Carmen war eine kolumbianische Schönheit, und ihre lateinamerikanischen Gene hatten zusammen ein wunderbares Kind hervorgebracht, Tomas, mit dichten, schwarzen Locken und riesigen braunen Augen. Miranda passte inzwischen einmal die Woche abends auf den Kleinen auf. Sie behauptete, sie wolle den geplagten Eltern die Möglichkeit geben, sich im Restaurant und Kino zu entspannen, aber ich hatte eher den Verdacht, dass sie schlichtweg vernarrt war in den Kleinen.

Wieder klopfte es; wieder schreckte ich hoch. Ich war nach dem ersten Klopfen tatsächlich noch einmal eingenickt. »Tut mir leid«, sagte ich und rieb mir die Augen. »Herein.«

»Wie geht es Dr. Garcia?«

»Das lässt sich noch nicht sagen«, antwortete ich, inzwischen munter geworden. »Aber es sieht nicht gut aus. Sind Sie Special Agent Thornton?«

»Ja, Sir. Charles Thornton.«

Er trat in mein Büro und begrüßte mich mit festem Händedruck. Thornton war groß und schlaksig, an die ein Meter neunzig und fünfundneunzig, vielleicht auch hundert Kilo schwer, denn er schien einiges an Muskelmasse an seinem Skelett zu tragen. Sein rotblondes Haar war kurz geschnitten, doch er schien mir ein wenig eitel zu sein, denn er hatte sich Strähnchen machen lassen und auch nicht mit Styling-Gel gespart. Und dann die Krawatte: Er trug eine, aber er trug sie locker, wie einen nachträglichen Einfall oder einen ironischen Kommentar, als könnte er sie jederzeit ablegen. Die Krawatte war mit einem abstrakten Muster bedruckt, das entweder das Werk eines genialen Künstlers war oder das eines Zweitklässlers. Der Typ war fast ein Bulle, aber nicht ganz. Zu metrosexuell, falls ich den Begriff richtig verstanden hatte. Ich konnte mir vorstellen, dass einige seiner eher konservativen Kollegen beim FBI seine Garderobe mit Argwohn betrachteten.

Thornton sah sich in meinem Büro um, musterte die schmutzigen Fenster, das Gitterwerk aus sich überkreuzenden Trägern draußen und die Schädel drinnen auf dem breiten Fensterbrett. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Sir. Ich habe schon viel über die Body Farm gehört, von den forensischen Bergungsmannschaften, die bei Ihnen ausgebildet wurden. Es ist eine tolle Gelegenheit für sie.«

»Wir sind immer gern behilflich«, sagte ich. »Und Sie müssen mich nicht mit ›Sir‹ anreden. Zum Teufel, schließlich sind Sie das hohe Tier aus dem FBI-Hauptquartier.«

Er setzte ein schiefes, leicht befangenes Lächeln auf. »Sektion für Massenvernichtungswaffen klingt beeindruckend, nicht wahr? Aber in Wirklichkeit stehe ich in der Hackordnung ziemlich weit unten.«

»Also, Captain Sievers hat praktisch vor Hanks Handy salutiert, als Sie gestern mit ihm gesprochen haben«, meinte ich. »Was sagen Sie, um so einen Eindruck zu machen?«

»Nicht viel«, sagte er. »Je mehr ich sage, desto weniger Eindruck mache ich damit, normalerweise jedenfalls.« Das entlockte mir ein Lachen, selbst in meinem müden Zustand. »Die Sektion für Massenvernichtungswaffen gehört zur Abteilung Nationale Sicherheit. Ich habe Captain Sievers nur gesagt, dass es bei diesem Vorfall auch um Terrorismus und die Nationale Sicherheit gehen könnte und dass wir es sehr zu schätzen wüssten, wenn er uns helfen könnte, die Sache unter Verschluss zu halten, bis wir geklärt haben, ob es eine größere Bedrohung gebe.«

»Haben Sie nur Nebelkerzen gezündet, damit Sievers spurt? Oder könnte es tatsächlich eine größere Bedrohung geben?«

»Seit dem 11. September«, sagte er, »betrachten wir jeden verdächtigen Vorfall mit radioaktiver Strahlung als Terrorismus und gehen so lange von einer potenziell größeren Bedrohung aus, bis wir uns vom Gegenteil überzeugt haben.«

Thornton holte eine kleine, auf Hochglanzpapier gedruckte Broschüre aus einer Jackentasche und reichte sie mir. Massenvernichtungswaffen – Weapons of Mass Destruction (WMD). Eine kurze Einführung lautete der Titel. Drinnen wurden auf einer Seite verschiedene Waffen erklärt – explosive, chemische, biologische und atomare –, während auf einer zweiten Seite die Bundesgesetze aufgeführt waren, gegen die Terroristen verstießen, wenn sie Massenvernichtungswaffen einsetzten. Die Innenseite umriss, wie das FBI einschätzen würde, welche Gefahr von einem tatsächlichen oder angedrohten Angriff mit Massenvernichtungswaffen ausgehen würde.

»Ach du Schande«, sagte ich. »Gut zu wissen, dass Sie vorbereitet sind, aber gruselig, dass man so etwas in hohen Auflagen drucken muss. Genauso gruselig wie die Tatsache, dass Sie vom Schlimmsten ausgehen müssen.«

»Wir lassen uns gern vom Gegenteil überzeugen«, sagte er. »Wir haben die Strahlungsquelle ans Savannah River National Laboratory geschickt, wo wir ein forensisches Strahlungslabor haben. Das Labor müsste in der Lage sein, uns zu sagen, woher die Strahlungsquelle stammt und wann sie erzeugt wurde.«

»Sie ist schon da? Das ging aber schnell.«

Er zuckte die Achseln. »Wir dachten, wenn wir eh schon ein Flugzeug nach Knoxville schicken, könnten wir es auch dafür einsetzen. Vor rund dreißig Minuten sind zwei Kollegen von mir damit in South Carolina gelandet. Das ist übrigens nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, aber Sie sollen wissen, dass wir in dieser Angelegenheit einigen Aufwand betreiben.«

»Gut zu wissen«, erwiderte ich. »Hören Sie, ich wollte gerade in die Klinik, um nach Dr. Garcia zu sehen. Möchten Sie mich begleiten?«

»Danke, aber ich denke, das muss ich ablehnen«, sagte er. »Ich sollte allmählich mal schauen, was wir in Oak Ridge herausbekommen können.«

»Verstehe«, sagte ich. »Viel Glück.«

In diesem Augenblick hörte ich Mirandas Stimme im Flur. »Hey, Chef, sind Sie bereit, wieder über den Fluss zu fahren?«

»Kann’s kaum erwarten«, sagte ich, als sie in der Tür stand. »Miranda, dies ist Special Agent Charles Thornton. Agent Thornton, darf ich Ihnen meine Forschungsassistentin Miranda Lovelady vorstellen?«

Thornton streckte die Hand aus – mit mehr Eifer als bei mir vorhin, fand ich – und sagte: »Chip. Nennen Sie mich Chip.«

»Miranda leitet das Knochenlabor und arbeitet mit mir an forensischen Fällen«, sagte ich. »Sie war gestern im Sektionssaal dabei.«

»Tut mir leid, Sie unter solchen Umständen kennenzulernen«, erklärte er. »Dr. Brockton hat mich eingeladen, mit Ihnen rüber ins Krankenhaus zu Dr. Garcia zu fahren. Wir können uns unterwegs unterhalten.« Miranda sah mich fragend an, ich antwortete mit einem leichten Achselzucken. Thornton hatte offensichtlich beschlossen, dass seine Nachforschungen in Oak Ridge noch ein wenig warten konnten.

 

Trotz aller Schläuche und Drähte, an die er angeschlossen war, sah Eddie Garcia um einiges besser aus als vierzehn Stunden zuvor in der Notaufnahme. Seine Übelkeit und sein Durchfall waren besser geworden, und aus seiner Miene sprach weniger Panik als ganz normale Erschöpfung.

»Sie sehen ziemlich gut aus«, sagte ich. »Sind Sie ganz sicher, dass Sie nicht einfach nur was Falsches gegessen haben?« Miranda stieß mir tadelnd in die Rippen und drückte Garcias Arm. In mir stieg Panik auf, als sie das tat – konnte das ihre Strahlenexposition erhöhen? –, doch dann erinnerte ich mich an die Szene mit der ängstlichen Krankenschwester in der Notaufnahme und schämte mich. Garcia war nicht verseucht oder ansteckend, ermahnte ich mich, er war nur der Strahlung ausgesetzt gewesen und dadurch in Gefahr. Erstaunlich, dachte ich, wie leicht sich Angst über jegliche Logik hinwegsetzt. Ich stellte ihm Thornton vor, der Garcia darauf die Hand schüttelte und dann für ihn und Miranda je eine der praktischen kleinen Broschüren zückte.

»Na, prima«, sagte Miranda. »Jetzt geht’s mir doch gleich besser.« Thornton warf mir einen Blick zu, doch ich lächelte nur. Andere Menschen reagierten offenbar nicht so pessimistisch auf die Broschüre wie Miranda und ich. Sie wedelte mit der Hand in Richtung von Garcias Gerätschaften. »Was hat man Ihnen da alles angehängt, seit wir vor ein paar Stunden bei Ihnen waren?«

»Die Kabel hier führen zu den EKG-Elektroden, die mein Herz überwachen«, sagte er. »In dem Tropf sind Elektrolyte und physiologische Kochsalzlösung, um das zu ersetzen, was es mir oben und unten rausgehauen hat. Mit dem Schlauch können sie mir Blut abzapfen, ohne dass sie mich jedes Mal pieksen müssen. Die Krankenschwester mit dem Katheter konnte ich mir bis jetzt noch vom Leib halten.«

»Jeder Sieg zählt«, sagte ich. »So gut, wie Sie aussehen, Eddie, sind Sie morgen um diese Zeit bestimmt schon wieder draußen.«

Er schüttelte den Kopf. »Bei der Strahlenkrankheit täuscht die äußere Erscheinung«, sagte er. »Und Sie haben gehört, was Dr. Sorensen gesagt hat: Die Symptome verschwinden zwar, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mit Macht wiederkommen. Sorensen hat viele Fälle von Strahlenkrankheit gesehen; wenn er sich Sorgen um mich macht, stecke ich wirklich in Schwierigkeiten.« Ich zuckte zusammen ob seines schonungslosen Realismus, doch ich bewunderte auch den Mut, mit dem er sich der Situation stellte.

Miranda drehte sich um und sah Thornton an. »Wer kann so etwas nur getan haben und warum, um Gottes willen? Es erscheint doch vollkommen sinnlos. Warum hat man den Alten nicht erschossen oder erwürgt? Oder einfach an Altersschwäche sterben lassen?« Ihre Stimme zitterte vor Zorn und Mitgefühl.

»Unsere Psychologen von der Täterprofilgruppe, die Profiler, befassen sich just in diesem Augenblick mit genau diesen Fragen.« Er sah aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, doch dann überlegte er es sich noch einmal und schwieg.

Miranda sah das Zögern und hakte nach. »Was?«

»Nichts, wirklich«, sagte er. »Es ist nur … Kennen Sie das Rätsel des Albatros?«

Sie wirkte verdutzt. »Ähm, hat das etwas mit einem Matrosen zu tun, der einen Vogel erschießt und Unglück über ein ganzes Schiff heraufbeschwört?«

»Nein, das ist ein Gedicht«, sagte Thornton. »Ich meine ein Rätsel. Ein Mann kehrt von einer Reise zurück, betritt ein Restaurant, setzt sich und bestellt Albatros. Der Kellner bringt ihn, der Mann nimmt einen Bissen, eilt aus dem Restaurant, geht nach Hause und bringt sich um. Warum?«

»Kommt mir vor wie eine Überreaktion«, sagte ich. »Das muss ja ein sehr schlechter Albatros gewesen sein.«

»Es ist ein Ratespiel«, sagte Thornton. »Sie müssen raten, was passiert ist, bevor er das Restaurant betreten hat. Sie können mir Fragen stellen, die ich mit ja oder nein beantworten kann.«

»War es ein sehr schlechter Albatros?«

»Nein«, antwortete er lachend.

Miranda: »Aber seine Reaktion hatte etwas mit dem Albatros zu tun?«

»Ja.«

Ich: »War es ein leicht schlechter Albatros?«

»Irrelevant.«

»Das ist kein Ja oder Nein«, beharrte ich.

»Aber es ist hilfreich«, meinte Miranda, »und wir brauchen alle Hilfe, die wir kriegen können. Hatte er je zuvor Albatros gegessen?«

»Nein.«

Garcia: »War es von besonderer Bedeutung, dass es ein Albatros war?« Ja. »Hatte der Mann Schuldgefühle, weil er einen Albatros aß?« Nein.

Eine Reihe von Fragen von mir: »War der Mann schon niedergeschlagen, bevor er die Suppe probiert hat?« Ja. Ich dachte an Jess. »Hatte der Mann einen geliebten Menschen verloren?« Ja. »Und hatte der Albatros etwas mit diesem Verlust zu tun?« Ja. »Hatte er seine Frau verloren?« Ja. »War sie auf der Reise gestorben?« Ja.

Miranda: »Hatten sie Schiffbruch erlitten?« Ja. »War sie beim Schiffbruch umgekommen?« Ja. »War der Mann auf einer verlassenen Insel gestrandet?« Ja. »Ganz allein?« Nein. »Waren sie lange Zeit gestrandet?«

»Kommt darauf an, wie man das definiert«, sagte er. »Fragen Sie gezielter.«

Ich: »Länger als einen Monat?« Nein. »Länger als eine Woche?« Ja.

Garcia: »Hatten sie Nahrungsmittel vom Schiff?« Nein. »Haben sie Fische gefangen?«

»Nein. Jedenfalls nicht genug.« Thornton hielt sich nicht ganz an die Regeln, vielleicht, weil wir so langsam waren.

Miranda: »Haben sie auf der Insel anderes Essen gegessen?« Ja. »Albatros?« Nein. »Hat der Mann gedacht, es wäre Albatros?«

Auf Thorntons Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Ja, hat er.«

»Gütiger Himmel«, sagte Miranda. »Kein Wunder, dass er sich umgebracht hat.«

Ich verstand gar nichts mehr. »Was?« Ich schaute von einem zum anderen. »Verzeihung, aber sind Sie beide in Wirklichkeit Zwillinge, die zwar bei der Geburt getrennt wurden, die aber eine Geheimsprache und eine seltsame Zwillingslogik haben, die nur Sie beide verstehen?«

»Die Überlebenden haben auf Kannibalismus zurückgegriffen«, sagte sie. »Sie haben seine tote Frau gekocht und ihm erzählt, es wäre Albatros.«

»Hä?«

»Aha«, sagte Garcia. »Und als er im Restaurant den Albatros probiert hat, ist ihm aufgegangen, dass er noch nie Albatros gegessen hatte, und da dämmerte ihm, dass sie auf der Insel seine Frau gegessen hatten.«

»Hm«, meinte ich. »Ich finde immer noch, der Kerl hat überreagiert.«

»Uns mag das vorkommen wie eine Überreaktion«, sagte Thornton. »Aber für ihn schien es die einzig denkbare Reaktion zu sein. Dasselbe gilt für den Iridium-Mord oder -Selbstmord. Sobald wir den Hintergrund kennen, wissen wir auch, warum diese bizarre Mordmethode gewählt wurde.« Er sah Garcia an. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er. »Wir kriegen den Kerl schon, der Ihnen das angetan hat.«

Garcia schenkte Thornton ein seltsames, trauriges Lächeln. »Danke, Agent Thornton«, sagte er. »Aber den, der mir das angetan hat, habe ich bereits evisziert.«

Thornton wurde knallrot. »Wow«, sagte Miranda zu Garcia, »Sie brauchen nicht mal ein Skalpell, um einen Mann zu eviszieren.«

Der FBI-Beamte blinzelte, während er Garcias Witz und Mirandas Reaktion darauf verarbeitete. »Mann, hier kriege ich ja keinen Fuß auf den Boden«, sagte er. »Ich rufe wohl besser im Hauptquartier an und bitte sie, das A-Team runter nach Tennessee zu schicken.«

»Verdammt gute Idee«, sagte Miranda. »Aber machen Sie sich keine Sorgen. Bis die hier sind, gehen wir schonend mit Ihnen um.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, und wieder lief Thornton rot an. Doch diesmal wirkte er um einiges fröhlicher.