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Ich rutschte den Hang hinunter in das eisige Wasser des Flüsschens, das um meine Oberschenkel wirbelte. Der Tunnel war eine Betonröhre von zwei, zweieinhalb Metern Durchmesser. Das Wasser, das herausströmte, sah aus, als wäre es knietief; die Dunkelheit schien undurchdringlich.

Ich klappte mein Handy auf und drückte die Wähltaste, und das Telefon verband mich automatisch mit dem letzten Anrufer, und das war Thornton. Der Anruf ging direkt auf seine Voicemail, was bedeutete, dass er gerade telefonierte. »Hier ist Brockton«, sagte ich. »Isabella hat Novak getötet. Sie weiß, dass wir es wissen. Sie ist in dem Abwasserkanalsystem unter Oak Ridge abgetaucht. Zwischen der Stadtbücherei und dem Polizeirevier. Ich gehe ihr nach. Sagen Sie Emert Bescheid.«

Ich klappte das Handy zu und betrat die Röhre. Das Wasser war nicht so tief wie in dem Bach, doch es hatte mehr Strömung. Ich schob die Hand in die Tasche und holte meinen Schlüsselbund heraus, an dem eine Minitaschenlampe hing – eine winzige Birne, ungefähr so groß wie das Iridium-Pellet, das Leonard Novak zum Verhängnis geworden war. Ich drückte den Schalter seitlich am Gehäuse, und die Birne glühte blauweiß in der Dunkelheit. Sie spendete nicht viel Licht, aber viel Licht brauchte ich auch nicht: Die Tunnelwände waren nur dreißig bis sechzig Zentimeter von mir entfernt, und am Boden wirbelte das Wasser. Ich konnte etwa sechs bis acht Meter weit vage etwas sehen, bevor die grauweiße Röhre im Dunkeln verschwand. Ich hoffte, dass das reichte.

Ich machte mich daran, die Röhre hinaufzuwaten, gegen den Strom, der sich gegen jeden Schritt stemmte und meine Füße nach hinten drückte, sobald ich sie anhob. Es war wie am Strand in die Brandung zu laufen, außer dass die Welle niemals brach und jeder Schritt harte Arbeit war. Ich hob die Knie immer höher und höher, und schließlich fiel ich in einen seltsamen Laufschritt, den ich, das war mir klar, nicht lange durchhalten würde.

Ich war noch nicht weit gekommen – hundert Meter, zweihundert? Es war unmöglich zu sagen, wie weit ich gegen Dunkelheit und Strömung angekämpft hatte –, als ich einen Seitentunnel erreichte, der nach rechts abzweigte. Dieser war kleiner, hatte gut einen Meter Durchmesser, war jedoch immer noch groß genug für einen Menschen – groß genug für Isabella und groß genug für mich –, obwohl man sich darin bücken müsste. Welchen Weg hatte sie nur genommen?

Ich blieb im Haupttunnel – wenn ich fliehen würde, wollte ich so viel Abstand und so viel Platz haben wie nur möglich, und der Haupttunnel schien von beidem mehr zu bieten. Hier und da kam ich an kleinen Röhren vorbei mit Durchmessern zwischen fünfzehn und fünfzig Zentimetern. Ich war dankbar, dass ich wenigstens nicht darüber nachdenken musste, ob sie eine davon genommen hatte, doch sie machten mir mein Vorhaben nicht leichter: Aus ihnen schoss so viel Wasser in die Hauptröhre, dass es an die gegenüberliegende Wand platschte. Ich musste mich hindurchkämpfen, und jeder Wasserschwall schlug mit eisiger Hand nach mir, raubte mir Kraft und Körperwärme. So verzweifelt, wie sie sein musste, staunte ich doch, dass Isabella sich ihren Weg hier hindurchbahnte. Bewegte sie sich in völliger Dunkelheit und blinder Panik, oder hatte sie auch eine schwache Lichtquelle?

Ich kam zu einem weiteren Seitentunnel, doch auch diesmal hielt ich mich an die Hauptröhre. Die Strömung wurde schneller, vielleicht schwanden mir aber auch die Kräfte. Ich konnte die Knie nicht mehr aus dem Wasser heben, es wurde tiefer und strömte schneller, und ich war erschöpft. Meine Zähne fingen an zu klappern. Mein winziges Licht schien auch immer schwächer zu werden, obwohl das vielleicht auch nur eine optische Täuschung war – ein Streich, den mir der dunklere Beton in diesem Bereich der Röhre spielte – oder meine Erschöpfung und Verzweiflung.

Und dann musste ich eine schwere Entscheidung fällen, denn ich kam an eine Y-förmige Gabelung, wo nach rechts und nach links je ein Ein-Meter-zwanzig-Tunnel abging. Keine Hauptröhre mehr, die mir bei der Entscheidung half, hier musste ich zwischen zwei Röhren wählen, ohne zu wissen, was ich in der Röhre, die ich wählte, finden würde und was ich in der, die ich nicht wählte, verpasste.

Als ich an die Gabelung kam, öffneten sich die Wände der Betonröhre zu einer weiten, aus Backsteinen gemauerten Kammer. Eisenstangen ragten aus der Backsteinwand: die Sprossen einer fest in die Wand eingelassenen Leiter. Über mir war eine große schwarze Scheibe, und durch ein Dutzend oder mehr Löcher, die gleichmäßig in den Rand eingelassen waren, strömte Wasser auf mich herunter. Ich befand mich direkt unter einem Gullydeckel und stand jetzt nicht nur vor zwei Alternativen, sondern drei.

Ich richtete mein schwaches Licht darauf. Die Tunnelabzweigung nach rechts gefiel mir nicht besonders, sie schien mehr Wasser zu führen als die nach links, sodass es extrem schwierig sein würde, darin gebückt gegen den Strom voranzukommen. Von den beiden Abzweigungen war ich geneigt, die linke zu nehmen.

Doch dann war da noch der Gullydeckel. Jenseits dieser Eisensperre lag eine Welt der Freiheit, unzählige Wege in die Welt. Ich traf meine Wahl. Ich packte eine Sprosse und machte mich an den Aufstieg.

Als ich mich dem oberen Ende näherte, noch etwa zehn Sprossen, setzten Zweifel und Fragen ein. Hatte sie den Gullydeckel überhaupt gesehen, wenn sie kein Licht dabeihatte? Wäre sie in der Lage gewesen, den schweren Deckel hochzudrücken? Würde ich ihn hochdrücken können? Na, wenn du es nicht schaffst, dann ist es ihr wahrscheinlich auch nicht gelungen, dachte ich. Kannst es genauso gut versuchen.

Mit der linken Hand packte ich die oberste Sprosse, lehnte mich in dem senkrechten Schacht ein wenig zurück und drückte an einer Ecke gegen den Gullydeckel. Er rührte sich nicht. Ich packte fester zu und drückte energischer, und der Gullydeckel hob sich leicht. Ich setzte die Füße auf der eisernen Sprosse um und drückte mit mehr Kraft. Der Deckel kippte nach oben – fünfzehn Zentimeter, dreißig, mehr –, und dann löste sich die eiserne Sprosse in meiner Hand aus dem Mörtel, und ich stürzte. Als ich ins Wasser plumpste, raubte mir der Schock des Sturzes und des Eintauchens in das eiskalte Wasser beinahe die Sinne. Ich bemühte mich, die Füße auf den Boden zu setzen, doch die Strömung war zu stark, die Wände zu glatt und ich zu schwach. Ich spürte, wie ich mitgeschwemmt wurde, die dunkle Röhre hinunter, in eisige Vergessenheit. Und dann, als ich schon merkte, wie ich innerlich in die Dunkelheit glitt, schoss ich in tieferes Wasser, in eine von blauen Stroboskoplichtern erhellte Welt, und unsichtbare Hände brachten mich hinauf in Sicherheit.