NEUNUNDDREISSIG
Sie hatten Lily.
Walker stieß Moira in die Mitte des Ausstellungsraums. Die Möbel waren beiseitegeschoben worden, um Platz für den großen, aufwendigen rituellen Kreis zu schaffen, durch den die Sieben wieder eingefangen werden sollten. Im Zentrum befand sich Lily, die an einen erhöhten Altar gefesselt war.
Wut kochte in Moira hoch, sie wehrte sich dagegen, gefesselt zu werden, und schlug ihren Hinterkopf absichtlich gegen Walkers Kinn. Er stöhnte auf, verstärkte aber seinen Griff und zog sie an sich. »Du machst es nur noch schlimmer. Schau nur: Wir haben noch eine Überraschung für dich!«
Fiona stolzierte, dramatisch wie immer, in einem fließenden silbrigen Samtkleid, das ihren Körper umwehte, in den Raum, an ihrer Hand Pater Philip. »Sieh doch nur, wen ich hier habe!«, frohlockte sie und lachte.
Am Kopf des Paters prangte eine Schnittwunde, und er war ungewöhnlich blass. Er erblickte Moira, und Traurigkeit umhüllte seine Augen.
»Pater …« Moira hielt ihre Tränen der Angst zurück. Sie wollte ihnen ihre Panik nicht zeigen. Es schwebte schon genug Angst im Raum, und Dämonen labten sich an diesem Gefühl.
»Ja!«, rief Fiona. »Du erinnerst dich an ihn!«
»Geht es Ihnen gut?«, fragte sie ihn.
»Tu, was du tun musst«, gab er hintersinnig zurück.
»Genug geplaudert!«, verkündete Fiona. »Er ist nur ein bisschen aufgebracht, weil Anthony bei einem tragischen Brand ums Leben kam.« Sie tat so, als würde sie sich eine Träne aus den Augen wischen. »So traurig!«
Auch wenn Moira der gequälte Ausdruck im Gesicht des Paters wehtat, verriet sie ihm nicht, dass Anthony die Explosion überlebt hatte. Würden ihre Mutter und ihresgleichen das erfahren, zögen sie sofort los und würden Jagd auf ihn machen, und er würde nicht rechtzeitig an das Tabernakel herankommen.
Rafe war ihnen vor zwei Nächten auf den Klippen zahlenmäßig weit unterlegen gewesen, dennoch hatte er sie aufhalten können. Es war also möglich.
Garrett Pennington stand mit zwei Männern auf der einen Seite des Kreises. Er sah aus, als wollte er sie gleich umbringen. Sein hübsches Gesicht war blutig und hatte von dem Kampf mit Moira Schrammen davongetragen. Es schien, als hätte sie ihm auch die Nase gebrochen. Sie hoffte, sie würde krumm wieder zusammenwachsen.
Mehrere Frauen befanden sich in dem Raum, in hauchdünne weiße Kleider gehüllt, darunter auch Nicole Donovan, die Lehrerin, und Elizabeth Ellis, Lilys Mutter. Die anderen kannte Moira nicht. Es waren Männer und Frauen unterschiedlichen Alters anwesend, vom Teenager bis hin zum Hexer zwischen fünfzig und sechzig. Moira zählte elf … zwölf… Nein, es waren vierzehn von ihnen da. Hexenzirkel umfassten nicht immer dreizehn Mitglieder, obwohl viele die Gruppe lieber kleiner hielten.
Moira fühlte die Blicke aller auf sich ruhen, aber eine Person starrte sie an und versuchte, sie dabei heimlich mit einem Zauber zu belegen. Moira erkannte den Zauber nicht, doch sie spürte ihn bis in die Tiefen ihrer Seele. Sie stärkte ihren Willen und wandte den Kopf.
Serena starrte mit ausdrucksloser Miene zu ihr hinüber. Als Moiras Blick sie traf, lächelte sie.
»Es sind alle da«, meinte Fiona und hielt ihre und Pater Philips Hand gemeinsam hoch. »Lasst uns beginnen!« Sie lächelte zuerst Moira und dann Matthew Walker zu. »Mein Schatz«, sagte sie, »ich habe dich vermisst.«
Walker schob Moira in die Mitte des Kreises. Weihrauch brannte in sieben Kelchen, die sich zusammen mit Lily auf einem Altar befanden. Diese Kräuter bestanden aber nicht aus schützendem Weihrauch, der außerhalb des Kreises brannte. Sie zogen Dämonen an. Hiermit ist es amtlich, dachte Moira, diese
Leute sind wahnsinnig. Kann ja sein, dass sie eine oder mehrere der sieben Todsünden anziehen, damit aber auch alle anderen unberechenbaren Dämonen, die in der Gegend umherstreifen. Wie wollten sie diese kontrollieren? Wie konnten sie nur denken, dass das funktionierte?
»Ihr seid alle verrückt!«
Walker quetschte Moiras Arm. »Ich habe gesehen, was du gemacht hast! Ich will das von dir lernen. Nur deshalb habe ich dich vorhin nicht getötet.«
»Was habe ich denn gemacht?« Sie hatte keine Ahnung, wovon Walker sprach.
Er antwortete nicht, sondern drückte sie nach unten.
Neben dem Altar lagen zwei Stahlkugeln mit Kette und Fußfessel. Für einen Augenblick dachte Moira, sie wären aus Eisen, was einen gewissen Schutz gegen Geister geboten hätte.
»Sie sind aus Blei, meine Liebe, nicht aus Eisen«, klärte Fiona sie auf, als sie zu Pater Philip in den Kreis ging. »Ich bin nicht dumm. Hättest du dich daran erinnert, hättest du nicht versucht, mich zu finden.«
»Ich habe es nicht versucht«, widersprach Moira, »ich habe es geschafft, dich zu finden. Komisch, du hast sieben Jahre nach mir gesucht und nie herausgefunden, wo ich war, trotz all deiner schwarzen Magie und deines Dritten Auges. Vielleicht liegen deine besten Tage schon hinter dir, Cailleach.«
Fiona drückte Pater Philip grob nach unten. Er stolperte, stürzte auf die Knie, und ihm fiel die Brille von der Nase. Moiras Herz schlug schneller, als sie sah, wie der alte Mann zu Boden ging. Sie wollte nach ihm greifen, doch Walker zog sie von ihm weg, noch bevor sie ihn berühren konnte.
Fiona trat auf die Brille des alten Mannes und zermalmte die Gläser mit den Pfennigabsätzen ihrer Schuhe auf dem Zementboden. »Dort, wo er jetzt hingeht, wird er sie nicht mehr brauchen.«
Walker legte eine der Bleikugeln Pater Philip an und die andere Moira. Dann schloss er Fiona in seine Arme und küsste sie innig. »Ich habe dich mehr vermisst als du mich, mein Liebling«, sagte er zu ihr.
Serena trat zu ihnen in den Kreis. Matthew drehte sich zu ihr und drückte sie an sich. »Dich habe ich auch vermisst, mein Kind. Die vielen Monate ohne euch waren das Schlimmste für mich!«
»Ich bin froh, dass du wieder da bist, Dad.« Serena lächelte und drehte sich zu Moira um, während sie sich diebisch freute.
Dad?! Moiras Ungläubigkeit musste ihr wohl ins Gesicht geschrieben stehen, denn Serena fragte sie: »Wieso fällt dir so schwer, das zu glauben? Nur weil ich dir davon nichts erzählt habe? Ich kann auch Geheimnisse für mich behalten.«
Walker lachte. »Tut mir leid, Moira. Serena ist zwar meine Tochter, aber du nicht, was mich jedoch nicht weiter bekümmert.« Sein Lachen erstarb, und er raunte ihr zu: »Du hast meinen Frauen jahrelang viel Ärger und Kummer bereitet. Jetzt ist es an der Zeit, dass ihr – du und deine Freunde – dafür bezahlt!«
Moira schätzte die Lage ein. Matthew Walker hatte zwar schon fast – aber noch nicht ganz – die Kontrolle von Fiona übernommen. Diese schien es nicht zu bemerken, und Moira wäre entsetzt gewesen, wenn sie es billigend hingenommen hätte. Ihre Mutter ordnete sich nie jemandem unter – weder einem Mann noch einer Frau oder einem Dämon. Dennoch hatte sie verzückt geseufzt, als Walker sie in die Arme genommen und geküsst hatte, und die Rolle der liebestollen Frau gespielt. Sie liebte niemanden außer sich selbst.
Dennoch … war mit Walker irgendetwas anders, und Moira hatte plötzlich mehr Angst vor ihm als vor irgendjemand anders in dem Raum.
»Fiona, meine Liebe, bist du bereit?« Er winkte ihr mit einer dramatischen Geste zu und verbeugte sich dabei fast bis zum Boden. Die drei entfernten sich aus dem Kreis.
Fiona strahlte und begann mit der Beschwörung.
»Ich habe die Sieben auf die Erde berufen. Ich habe die Sieben durch ein mit dem Blut der Gerechten geweihtes Tor aus der Hölle gerufen. Es ist richtig und gerecht, dass die Sieben in der für sie geweihten Arca aufbewahrt werden, um so wie in der Vergangenheit auf der Erde zu leben und sich bewegen zu können.«
»So wie es unten ist, so ist es auch oben«, riefen die Frauen außerhalb des Kreises.
Serena hob einen Kelch und sprach in einer alten Sprache. Die magische Energie stieg augenblicklich auf das Doppelte an. Moira konnte sie spüren. Sie fuhr wie eine heiße elektrische Ladung über ihre Haut.
»Pater?«, fragte Moira. »Was sagt sie da gerade?«
Walker rief: »Ruhe!« Er hob seine Hand, zog Energie in sie hinein und schleuderte sie ihr entgegen. Sie traf Moira wie der Schlag einer Gewehrkugel an ihrer Schulter, und sie schrie auf. Die Magie schoss schmerzhaft durch ihren Körper, und sie löste sie auf, indem sie ein Gebet auf Hebräisch murmelte.
Serena fuhr fort. Die gesungenen Antworten des Hexenzirkels wurden lauter, während Moira derweil die Kette mit dem Schloss daran untersuchte. Es war alt; mit einem Dietrich, einer Haarklammer oder etwas Ähnlichem wäre es in zwei Sekunden offen, doch sie hatte weder das eine noch das andere dabei. Sie besaß nichts – Walker hatte ihr die Jacke abgenommen und damit all ihre Waffen, sogar ihr Medaillon und ihr Kreuz.
Die Möbel bebten, und sie fragte sich, warum sie sich keine Sorgen machten, dass die schweren Stücke durch den riesigen Raum fliegen und sie töten könnten.
Sie musterte die Mitglieder des Hexenzirkels, sah, wie konzentriert und bedacht sie waren, das Ritual unter ihrer Kontrolle zu halten. Selbst Matthew Walker beachtete sie nicht mehr weiter, sondern setzte seine kraftvolle Magie ein, um die dämonischen Elemente in Schach zu halten.
Moira rückte näher zu Pater Philip und hörte, wie er etwas sagte, jedoch nicht zu ihr. Er sprach Latein, und sie begriff erst nach einem Vers, dass es sich um Psalm 54 handelte, ein Gebet der Zuversicht, das im Angesicht großer Gefahr und drohenden Todes gebetet wird.
»Er wird die Bosheit meinen Feinden bezahlen, verstöre sie durch deine Treue.«
Lily sah starr vor Entsetzen zur Decke. »Lily, hab keine Angst, Hilfe ist auf dem Weg!«, flüsterte sie dem Mädchen zu. Sie betete darum, recht zu haben, und hoffte, Anthony und Rafe könnten sowohl das Tabernakel holen als auch einen Weg ins Innere von Rittenhouse finden … Mist! Das waren ziemlich viele Hoffnungen, Träume, Wenns. Aber wen außer ihnen gab es noch? Skye war Polizistin, weder eine Teufelsaustreiberin noch Dämonenjägerin. Gewehrkugeln konnten gegen Dämonen nichts ausrichten, würden das Opfer aber sicherlich töten.
»Pater, was sagt Serena da?«
Philip raunte ihr zu: »Das pure Böse aus der Conoscenza.«
»Welche Sprache ist das?«
»Die Sprache der Dämonen.« Er sah sie an. »Nur du kannst die Conoscenza vernichten.« Tränen schossen ihm in die Augen.
Langsam dämmerte ihr, warum nur sie das konnte. »Weil ich eine Hexe bin«, brachte sie entsetzt hervor, ihre Augen brannten. »Betrachten Sie mich als solche?«
»Nein, mein Kind. Ich betrachte dich nur mit den Augen der Liebe.«
Ein Schrank fiel um, und Moira zuckte zusammen. Sie musste sich von diesen Fesseln befreien. Angebunden wie ein Tier konnte sie nichts ausrichten.
Ihr Blick fiel auf die zerbrochenen Brillengläser von Pater Philip. Und auf das verbogene Drahtgestell.
Sie schaute sich um. Die Hexen sangen inbrünstig, während Serena das Ritual fortführte. Zentimeter für Zentimeter rückte Moira vor, bis sie das Brillengestell erreicht hatte und es unauffällig mit ihrer Hand umschloss.
Pater Philip bemerkte, was sie tat, und half ihr, ihre Hände vor den Blicken des Hexenzirkels um sie herum zu schützen. Während sie zusammengedrängt auf dem Boden saßen, erhitzte sich die Luft im Raum und wirbelte um die Dämonenfalle.
Moira brach einen Bügel des Gestells ab und ließ den Hexenzirkel dabei nicht aus den Augen. Vorsichtig führte sie das gedrehte Ende des Bügels in die Fußfessel ein. Verdammt, das war nicht so einfach, wie sie gedacht hatte!
Der Pater betete weiter, Lily stöhnte auf. »Moira«, schluchzte sie, »ich spüre etwas. Es kommt, um mich zu holen. Bitte, hilf mir! Bitte! Lieber Gott, bitte!«
Das Schloss von Moiras Fessel sprang fast unmerklich auf. Statt sich aber sofort zu erheben, machte sie sich daran, Pater Philips Fesseln zu lösen. »Wie vernichte ich die Conoscenza?«, fragte sie leise. »Ist sie hier?«
»Ja, aber ich habe sie nicht gesehen.«
»Wie?«
»Mit Blut und Feuer.«
Sie erschauderte. »Das hört sich wie etwas an, das sie tun würden.«
»Du wirst niemanden opfern müssen, mein Kind. Aber …«
Moira verstand. »Es muss mein Blut sein. Aber warum? Warum meins und nicht Fionas?«
»Weil Magie das Buch nicht zerstören kann. Ich kenne nicht alle Antworten, doch – es ist gefährlich.« Pater Philips Fessel schnappte auf. Er sagte: »Der Kardinal kennt die Antworten.«
»Wer? Der Kardinal? Welcher Kardinal?«
Bevor er etwas erwidern konnte, rauschte eine schwarze Wolke durch die Lüftung oberhalb des Kreises, verbreitete sich in dem Doppelkreis und wirbelte um den Altar.
Moira hatte in ihrem Leben schon viele eigenartige übernatürliche Phänomene gesehen, aber so etwas durch und durch Böses wie das hier war ihr noch nie begegnet. Dieses heiße, niederträchtige und nach Verfall riechende Etwas zog an ihr vorbei, doch war es nicht sein bösartiges Wesen, das ihr Angst einjagte, sondern seine Intelligenz. Sie begriff, dass sie es nie bezwingen konnten – nicht eine einzige der Sieben und ganz bestimmt nicht alle.
Es gab keine Chance, zu überleben. Sie wollte sich nur noch zusammenrollen und Gott um einen schnellen Tod bitten.
Doch es war nicht nur ihre Seele, die auf dem Spiel stand. Zuzusehen und nichts zu tun stellte keine Alternative dar.
Moira sprang auf, schüttelte ihre Fußfesseln ab, die sie erst vor ein paar Augenblicken hatte aufbrechen können, trat die Kerzen aus und warf die sieben Kelche aus dem Kreis. Doch das nützte nichts mehr. Es war zu spät.
Der Dämon Neid war eingetroffen.