VIERUNDDREISSIG

Freitag, Spätnachmittag, und niemand befand sich in oder in der Nähe der Kirche. Was für ein Glück, dachte Moira, als sie das Schloss an der Hintertür der Kirche mit einem Dietrich öffnete. In letzter Sekunde fiel ihr ein, dass hier eine Alarmanlage installiert sein könnte, und sie schaute sich halb besorgt nach einer Schalttafel, Bewegungsmeldern oder etwas anderem um, das auf einen akustischen oder stillen Alarm deutete. Nichts.

Die Kirche bestand aus einem einzigen großen Raum, der zwar nicht mehr stark, aber dennoch eindeutig mit Resten von Zauberei belegt war. Moira spürte sie und vermutete, dass sie vom letzten Sonntag stammten. Irgendetwas hatte seine magische Energie beibehalten. Sie sah sich rasch um und nahm jede Einzelheit auf.

In dem Gebäude musste sich früher einmal ein Geschäft befunden haben. Das deuteten zumindest die vielen Steckdosen in den Holzdielen an, an die Geräte und Telefone angeschlossen werden konnten und wo wahrscheinlich einmal zwanzig Schreibtische oder Arbeitsplätze gestanden hatten. Das Büro eines Immobilienmaklers, vermutete Moira. Jetzt füllten gepolsterte Klappstühle den Raum; der Teppich war neu und flauschig, und der Altar bestand aus einem einfachen, glänzenden Holztisch mit einem goldenen Kreuz, das an der Decke darüber hing. Moira wollte nicht allzu lange bleiben – zwar wurde es langsam dunkel, da die Sonne allmählich unterging, doch die Vorderseite der »Kirche« bestand ganz aus Glas. Trotzdem blickte sie kurz mit ihrer Taschenlampe unter den Tisch.

Genau wie sie vermutet hatte: ein Siegel. Das Siegel – ein dämonenartiges Wesen in einem Hexagramm – war unverwechselbar und wahrscheinlich der »Schutzdämon« von Penningtons Orden. Moira wusste nicht, ob es das Siegel von Fiona oder ein besonderes Zeichen nur für Pennington darstellte. Sie drehte sich um und sah über jedem Eingang Schutzvorkehrungen  – Kräuter in Form von Trockensträußen oder eingerahmte Plakate, auf denen zum Beispiel geschrieben stand: »Mit Gott ist nichts unmöglich«. Sie war sicher, auf deren Rückseite okkulte Symbole zu finden. Vielleicht ging von ihnen die Magie aus, die sie spürte. Einfache schützende Zauber, um die Geister und Dämonen in Schach zu halten.

Vom Hauptraum gingen vier kleinere Räume ab, die sich alle auf der nördlichen Seite des Gebäudes befanden. Der vordere Raum – der mit der Glasfront – bestand aus einem Klassenzimmer und einer Kindertagesstätte. Der Raum daneben sah wie ein Besprechungszimmer aus. Die zwei hinteren Räume waren Büros. Moira durchsuchte beide. Sie wusste nicht, wonach sie suchte, hoffte jedoch, einen Hinweis zu erkennen, wenn er ihr in die Hände fiel.

Da Pennington zu den zwölf zählte, die an dem Ritual teilgenommen hatten, musste er zu Fionas innerem Kreis gehören und somit wissen, wo sie wohnte. Bestimmt nicht in einem Hotel. Die Auswahl war in Santa Louisa sehr begrenzt, und es gab weit und breit keines mit fünf Sternen. Außerdem befand Fiona sich seit einer ganzen Weile in der kleinen Stadt – mehrere Monate schon. Vielleicht war sie erst nach den Morden in der Mission nach Santa Louisa gekommen, doch Moira hätte ihr ganzes Geld darauf verwettet, dass sie bereits länger hier war, viel länger. Selbst ihrem engsten Kreis hätte sie nicht sämtliche Details ihrer Pläne verraten. Sie wollte in der Nähe sein – um zu beobachten, zu überwachen und zu kritisieren.

Pennington war im August gekommen. Die Priester starben im November. War er an ihrer Ermordung beteiligt gewesen? Sie hatte Rafe nicht gedrängt, ihr Einzelheiten zu erzählen, was sie vielleicht hätte tun sollen. Sie hatte ihre eigene Theorie zu den Morden entwickelt, basierend auf dem, was sie tatsächlich wusste, auf Zeitungsartikeln und den Aussagen von Anthony und Rafe. Doch sie kannte keine Details, und wenn sie etwas übersehen haben sollte …

Sie durchsuchte beide Büros. Die Computer waren mit einem Passwort geschützt. Auch wenn Moira in der Lage war, jedes Schloss aufzubrechen und fast jedes Auto kurzzuschließen, hatte sie so gut wie keine Ahnung von Technik oder wie man Codes knackte. Die Aktenschränke waren verschlossen, doch stellten sie für Moira keine Schwierigkeit dar. Sie enthielten nicht sehr viel Brauchbares – wenngleich ein Ausdruck des Mitgliederverzeichnisses sich als nützlich erweisen könnte. Sie griff danach und warf einen Blick auf die mehr als dreihundert Namen umfassende Liste. Sie betete, dass es sich nicht bei allen um Hexen handelte und nur ein paar tatsächlich Zauberei ausübten. So wie Elizabeth Ellis.

Der Schreibtisch in Penningtons Büro zog Moira besonders an, da eine starke, mächtige Magie von ihm ausging. Eine Sekunde lang dachte sie voller Schrecken, sie würde beobachtet. Sie musste all ihren Willen aufbringen, um nicht einen Schild um sich herum herbeizuzaubern. Er hätte sie zwar für diesen Augenblick beschützt, doch die durch ihn erzeugte Magie hätte Fiona ihren Aufenthaltsort verraten, das wusste Moira.

Sie bezwang ihr Gefühl, durchsuchte das Büro und stieß auf einen Zauberbeutel, der jeden unerlaubten Eindringling verfluchen sollte. Sie schüttete den Inhalt des Beutels aus, sprach ein Gebet und verließ das Büro.

Pennington wohnte oben. Noch eine Tür, noch ein Schloss, und sie war drinnen.

Er lebte nicht tatsächlich dort – das erkannte sie sofort, als sie die muffigen Zimmer betrat, die einmal Büros gewesen, jetzt aber zu Wohnräumen umfunktioniert worden waren. Sie waren sauber, rochen nach Reinigungsmitteln und waren mit billigen, aber modernen Möbeln eingerichtet. Hinter der Tür lag das Wohnzimmer – in dem zwei Sofas und ein paar Stühle standen. Die Küche ohne Fenster befand sich in der Mitte, das Schlafzimmer hinten. Die Fenster zeigten zur Straße. Moira schaltete kein Licht ein; es war noch nicht ganz dunkel, und ein paar Autos fuhren gerade vorbei. Die Kirche und die Wohnung lagen in einer Seitenstraße, einer Sackgasse, an deren Ende sich ein Park befand. Es gab nur wenige Geschäfte, von denen die meisten um 17:00 Uhr schlossen. Außer einem kleinen Café an der Ecke, das sie vom Schlafzimmerfenster aus kaum sehen konnte und in dem nicht viel los war, schien alles bereits geschlossen zu haben.

Dennoch wollte Moira kein Risiko eingehen. Sie lief durch die Küche und schaute in den Kühlschrank, der außer ein paar Coladosen, Wasserflaschen und abgelaufenem Orangensaft nichts weiter enthielt. Das Eisfach bot eine größere Auswahl, wahrscheinlich aß Pennington von der Tiefkühlkost, wenn er aus irgendeinem Grund hierbleiben musste.

Eines der beiden Schlafzimmer war in ein Büro verwandelt worden und wirkte, im Gegensatz zu Penningtons Büro unten, benutzt. Sie durchsuchte zuerst seinen Schreibtisch, auf dem zwar kein Computer stand, sich aber ein Druckerkabel befand, das an einen Laptop und an den in der Nähe stehenden Drucker angeschlossen werden konnte. Außer einer verschlossenen Schublade bot der Schreibtisch nichts Interessantes.

Die Schublade war verhext und verströmte dunkle Energie. Moira zögerte einen Augenblick, brach dann aber doch das Schloss auf und zog sie auf. Der Gestank des Bösen schlug ihr entgegen, und eine Welle heißer Luft streifte sie. Sie schüttelte sich unwillkürlich und hätte die Schublade am liebsten wieder zugeschoben.

Eine Holzschatulle, so dick wie ein Ries Papier, aber halb so groß, lag darin. Ein Siegel war darauf eingeritzt, das so ähnlich aussah wie das unter dem Altar im Hauptraum – vielleicht waren sie sogar identisch. Das Holz war dunkel und alt, die Ecken abgenutzt und schwarz. Ein dunkeloranges Augenpaar, ähnlich zwei Flammen, blickte in unterschiedliche Richtungen, schien Moira aber dennoch anzuschauen – durch sie hindurchzusehen. Sie hatte das Gefühl, als wäre der Dämon lebendig, und unterdrückte einen Schrei.

Die Schatulle war mit einem Zahlenschloss versehen – die sieben Ziffern darauf so alt, abgenutzt und dunkel, dass sie sie kaum erkennen konnte. Sie wollte die Schatulle schon mitnehmen, doch als sie danach griff, schlugen all ihre Instinkte Alarm. Sie wünschte sich, Anthony wäre bei ihr, denn er wüsste genau, was sich darin befand und wie das Schloss zu handhaben war.

So fotografierte Moira die Schachtel mit ihrem Handy und schickte Anthony folgende Nachricht:

 

Dieses Ding hier ängstigt mich zu Tode; ich will es nicht anfassen. Es verströmt schwarze Magie – die schwärzeste, die du dir vorstellen kannst. Wenn du aber möchtest, dass ich es mitnehme, mache ich’s.

 

Sie drückte auf Senden, steckte ihr Handy wieder in die Tasche und wandte sich den Aktenschränken zu. Sie stöberte die Unterlagen auf der Suche nach Hinweisen auf eine Immobilie durch – wo lebte Pennington wirklich? Sie hätte ihr letztes Hemd verwettet, dass er bei Fiona wohnte. Sie scharte ihren inneren Kreis gerne um sich.

Die Kirche des Guten Hirten besaß viele Immobilien, nicht nur in Santa Louisa, sondern im ganzen Land. Moira hätte gerne alles mitgenommen, konnte es aber nicht tragen, und so konzentrierte sie sich auf das, was in und um Santa Louisa lag.

Fiona lebte sicher irgendwo abgeschieden. Am liebsten am Meer, obwohl das für ihre Mutter kein Muss darstellte. Im Gegensatz zur Größe des Hauses – das musste großzügig bemessen sein. Opulent. Sie lebte gerne auf großem Fuß und war geschickt darin, Menschen zu manipulieren, sodass sie ihr das gaben, was sie wollte. Alles, einschließlich Geld. Moira fragte sich, über welche Mittel die Kirche des Guten Hirten wohl verfügte  – mit ihren dreihundert Mitgliedern war sie weder groß noch klein.

Sie brauchte einige Minuten, doch dann fand sie drei Immobilien in Santa Louisa, die Fionas Ansprüche, zumindest auf dem Papier, zu erfüllen schienen. Moira rief auf ihrem iPhone Google Earth auf und schaute sich Bilder der drei Häuser an. Bei dem ersten handelte es sich um ein viktorianisches Haus in der Innenstadt von Santa Louisa mit einem riesigen Grundstück von zweitausend Quadratmetern, das aber an einer belebten Ecke lag. Das zweite wirkte vielversprechend – es lag in den Bergen, sogar an der gleichen Straße, die zur Mission führte. Diese Ironie würde Fiona gefallen.

Doch als Moira die letzte Immobilie aufrief, wusste sie sofort, dass diese es war. Sie befand sich im Süden, kurz hinter der Bezirksgrenze, und im Umkreis von einer Meile wohnte niemand. Die Schnellstraße war in der Nähe, doch standen keine weiteren Häuser dort. Fiona konnte das Meer sehen, und neben dem Haupthaus, das über sechs Schlafzimmer und acht Bäder verfügte, gab es noch drei weitere abgeschlossene Gebäude. Das war es.

Sollte Fiona dort sein, dann war es auch Rafe. Irgendwie musste Moira herausfinden, wo man ihn festhielt, ohne ihre eigenen magischen Fühler auszufahren.

»Setz all deine Sinne ein, aber konzentriere dich auf dein Gefühl! Du kannst Dinge erspüren, wenn du zulässt, du selbst zu sein«, hatte Rico ihr mehr als ein Mal erklärt. »Fahr deine Schutzschilde herunter und spüre deine Gefühle! Suche nach ihnen!«

Rafe hatte Angst. War verletzt. Sie könnte es schaffen, ihn zu finden. Sie wollte ihre Schutzschilde nicht herunterfahren – sie hatte Jahre gebraucht, um sie aufzubauen und so die Gefühle anderer nicht zu spüren –, doch für ihn würde sie es tun.

Nur für den Fall, dass sie sich irrte, schnappte sie sich die Unterlagen aller drei Häuser, bevor sie das Zimmer verließ.

Unten angekommen, bemerkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte.

Die Wände strahlten Magie, aktive Magie aus. Moira konnte praktisch sehen, wie sich die Energie in dem Zimmer aufbaute. Woher kam sie? Sie war nicht auf sie gerichtet und kam von überall her. Sie drang in das Gebäude ein.

Sie befand sich in der Mitte eines Energiewirbels. Jemand lenkte Energie in das Haus, denn so etwas geschah nicht von selbst.

Es war aber niemand da.

Sie horchte und nahm eine Stimme wahr, die sang. Kam das von unten? Gab es etwa einen Keller?

Moira suchte nach einer weiteren Tür, doch im Haus existierte keine. Sie stellte sich den Weg neben der Kirche vor. Rechts neben dem Hintereingang der Kirche hatte sie eine Tür gesehen. Die hätte sie mal besser überprüft, doch war ihr Plan nicht gewesen, so lange zu bleiben.

Sie lief nach draußen. Die Tür war zu, aber nicht verschlossen. Sie sprach ein Gebet, das ungefähr lautete: Ich hoffe, du da oben bist bester Laune und hilfst mir, denn das hier fühlt sich gerade alles andere als gut an!

Moira stieß die Tür auf. Weihrauch schlug ihr entgegen, als sie leise eintrat. Ganz unten flackerte Kerzenlicht.

Sie bemerkte bereits oben auf der Treppe, dass dies ein Ort war, an dem ständig Rituale stattfanden. Es ging so viel Zauberei von ihm aus, dass Moira vor lauter Angst am liebsten weggelaufen wäre. Wie sollte sie, eine einzelne Person, so viel schwarze Magie bekämpfen können?

Sie hielt inne und horchte auf die Stimmen. Spürte die Magie um sich herum. Viele der Zaubersprüche waren alt. Sie schwebten zwar immer noch im Raum, waren aber harmlos. Sie konzentrierte sich auf den Zauber, der gerade gesprochen wurde. Auf die Energie, die in den Raum gelenkt wurde. Auf die Energie, die sie oben sah. Auf den Wirbel.

Ari Blair.

War Jared noch bei ihr? Moira konnte durch die Schatten und das Kerzenlicht nicht genau erkennen, was da unten vor sich ging. Dann hörte sie eine männliche Stimme, die zusammen mit Ari sang. Jared. Sie wusste nicht, ob sie erleichtert, wütend oder besorgt sein sollte. Wahrscheinlich alles drei.

Sie hörte, wie Ari verschiedene Namen rief und sie um Hilfe bat. Dabei sprach sie abwechselnd Latein und Englisch, was bei den Laien der Wiccas üblich war. Moira lauschte ihren Worten und wusste bereits nach nur einem Moment, was Ari gerade tat.

Sie sprach einen Umkehrzauber, der an sich ganz schlicht und einfach war, wenn eine Hexe einen Fluch oder eine Krankheit rückgängig machen wollte. Doch die sieben Todsünden auf diese Weise zurückzurufen? Ari würde nicht nur sich selbst umbringen, sondern auch riskieren, dass noch mehr Dämonen freigelassen würden.

Moira eilte die Treppe hinunter. Ari und Jared knieten innerhalb eines Pentagramms, das von einem Doppelkreis umschlossen war. Um sie herum standen überall Kerzen.

»Hört auf!«, rief sie.

Ari schaute von dem Kelch hoch, über dem sie den Zauber sprach. In ihrem Gesicht war zuerst Angst und dann Verärgerung zu lesen. Jared erblickte Moira und seufzte erleichtert auf.

Ari sah Moira finster an. »Gehen Sie, Sie müssen von hier weg!« Sie versuchte, entschlossen zu klingen, doch Moira hörte das Zögern in ihren Worten.

»Du musst sofort damit aufhören! Dreh den Kelch um und sag mir, wo die drei Altäre stehen, damit ich sie vernichten kann!«

»Nein!« Ari starrte Moira wütend an. »Sie haben Chris umgebracht!«

»Eine der sieben Todsünden hat Chris umgebracht. Und wenn du nicht aufhörst, mit schwarzer Magie herumzuspielen, wird dich das gleiche Schicksal ereilen, oder eine oder mehrere von ihnen werden dich in Besitz nehmen.«

»Ich bin eine weiße Hexe.«

Moira schüttelte den Kopf. »Das habe ich auch einmal von mir gedacht, bis ein Dämon mich benutzte, um meinen Freund zu töten.«

Ari unterdrückte ein Schluchzen. »Ich habe Chris nicht umgebracht!«

»Wäre aber möglich. Er ist mit einem Dämon von den Klippen in Berührung gekommen.«

»Chris war nicht auf den Klippen.«

»Aber du, doch du hattest den schützenden Kreis um dich herum. Jeder sonst auf der Welt schwebt in Gefahr.«

Ari hörte zu, was Moira erleichtert zur Kenntnis nahm. Jetzt, da das Ritual unterbrochen war, konnte der Zauber sich nicht weiter aufbauen und verharrte auf seinem jetzigen Stand.

Doch Ari war noch nicht überzeugt. »Deshalb ist das, was ich hier mache, so wichtig! Ich schicke die Dämonen zurück, damit sie niemandem mehr etwas antun können. Ich wusste nicht, was alles passieren würde. Ich wollte nie jemandem wehtun!«

Moira ging weiter nach vorn. Sie stand außerhalb des Kreises. »Das glaube ich dir. Du willst niemandem Schaden zufügen.«

»Richte keinen Schaden an. Daran glauben wir.«

»Daran glaubst du. Und das ist sehr edel von dir. Du willst niemandem wehtun. Ich glaube nicht, dass du vorhattest, die Dämonen freizulassen.«

Ari nickte. »Ich möchte Gutes tun. Ich habe den Energiewirbel geschaffen. Ich habe ihn erforscht, ihn geplant, und er funktioniert! Spüren Sie ihn nicht?« Sie hob ihre Arme. Die Kristalle an ihren Handgelenken zogen die Energie an und versetzten sie in einen Rausch.

Moira spürte, wie ihr das Gespräch entglitt. »Ich spüre ihn. Und deswegen musst du ihn sofort stoppen!«

»Nein!«, fauchte Ari sie an und senkte ihre Arme wieder.

Zu Jared gewandt sagte Moira: »Komm mit mir!«

»Moira, bitte geh nicht!«, flehte Jared. »Sie haben Lily und werden ihr auf die gleiche Weise wehtun wie Abby!«

Sie erwiderte: »Jared, Lily ist bei Anthony, in Sicherheit. Niemand kann zu ihr.« Hoffe ich. »Ari spielt mit dem Feuer und möchte die Wahrheit nicht hören.«

»Lily geht’s gut?«, fragte Jared, erhob sich dabei vom Boden und ging zu Moira hinüber.

»Nein, Jared!«, rief Ari. »Geh nicht! Ihr versteht nicht die Macht, die ich besitze!«

Moira verlor die Geduld. »Meinst du? Die verstehe ich besser als irgendjemand anders, sogar besser als Fiona. Ich weiß, was Macht mit Menschen anstellt. Mit Menschen, die ich liebe und die mir wichtig sind. Ich weiß auch, was sie mit dir macht. Du denkst, du wärst unschlagbar. Du hast wahrscheinlich deinen Körper verlassen, bist über Wolken geschwebt und hast Menschen beobachtet. Das hat mir am meisten gefallen, als ich Zauberin war: das Fliegen. Und ich vermisse es immer noch.«

»Dann helfen Sie mir, wenn Sie können!«

»Das versuche ich gerade.«

»Sie versuchen, mich aufzuhalten, nicht, mir zu helfen!«

»Nur so kann ich dir helfen. Das hier muss aufhören!« Moira spürte seit einigen Minuten, wie sich die neutrale in schwarze Energie verwandelte und auf sie zuwaberte. Sie musste Ari davon überzeugen, den Kreis zu durchbrechen und den Kelch zu vernichten. Würde Moira den Kreis betreten, würde sie die Energie aufgrund ihres Blutes nur auf sich ziehen. »Die Energie verändert sich. Spürst du das nicht auch, Ari?«

Doch Ari war schon trunken vor Macht und verkündete: »Ich werde stärker.«

»Du verlierst die Kontrolle!«

Ari hob ihre Arme und sagte die Sprüche für das Ende des Rituals auf.

»Los, unter die Treppe!«, rief Moira Jared zu. Das musste sie ihm nicht zweimal sagen.

Ein Wirbelsturm aus dunkelgrauem Rauch drehte sich entlang des Kreises, in dem Ari kniete. Sie hielt ihre Hände hoch und befahl dem Geist, dorthin zurückzukehren, woher er gekommen war.

Das Böse wirbelte noch schneller umher. Die Kerzen erloschen, außer denen innerhalb des Kreises. Moiras Haar wehte in sämtliche Richtungen; sie konnte in dem Sog kaum noch gerade stehen. Sie hielt ihre Taschenlampe in der Hand, doch das war das Einzige, woran sie sich klammern konnte.

So wie Moira befürchtet hatte, gehorchte das Wesen Aris Befehlen nicht. Moira hatte keine Ahnung, ob der Dämon einer der Sieben war oder ein völlig anderer Teufel. Da aber sämtliche Energie in die Mitte von Aris Kreis gezogen wurde, bemerkte der Dämon Moira und Jared nicht oder sie waren ihm egal.

Solange der Dämon noch keine körperliche Gestalt angenommen hatte, war Moiras Arsenal an Waffen nutzlos. Sie kannte das Gebet zur Teufelsaustreibung auswendig, doch der Dämon war nicht in einer Falle gefangen. Er würde auf sie losgehen, sobald sie damit begann. Und tot könnte sie weder Ari noch Jared helfen oder Rafe retten.

Ari hielt einen Kristall hoch.

»Wirf ihn auf den Boden!«, rief Moira ihr zu. »Mach ihn kaputt, und du wirst den Zauber durchbrechen!«

Moira wusste nicht, ob Ari sie über den dämonischen Wind hinweg nicht hören konnte oder nicht hören wollte, denn sie sprach: »Ich befehle dir, so wie es unten ist, ist es auch oben. Ich befehle dir zu kommen …«

»Nein!«, schrie Moira hilflos. »Tu das nicht!«

Es war zu spät. Ari hatte den Dämon zu sich in den Kreis gerufen. Das Mädchen schrie stumm auf, als dieser in ihren Körper eindrang. Die Stille, die danach einsetzte, als wäre dem Raum sämtliche Luft entzogen worden, versetzte Moira in Angst und Schrecken.

Die besessene Ari starrte sie mit ihren dunklen, rotstichigen Augen an.

»Ich kenne dich«, sagte der Dämon.

 

Fiona belegte den Kreis mit einem Zauber, doch nichts funktionierte so, wie es sollte, und ihre Wut nahm beständig zu, während ihr Hexenzirkel immer misstrauischer wurde. Sie hegten ihr gegenüber Zweifel, das spürte sie in sämtlichen Poren, und dieser Zweifel, dieses Misstrauen machten sie fast genauso zornig wie der schwache Kreis im Verkaufsraum von Rittenhouse Furniture.

Sie wandte sich Serena zu. »Es funktioniert nicht! Wir hätten zu den Klippen zurückgehen sollen.«

Serena war aufgebracht – aus gutem Grund, denn ihr Irrtum hatte sie kostbare Zeit gekostet.

»Lasst uns gehen und morgen Nacht wieder auf den Klippen zusammenkommen …«

»Warte!«, unterbrach Serena.

Fiona hasste es, wenn man ihr widersprach oder dazwischenredete, konnte sich aber gerade noch zusammenreißen, ihre Tochter nicht zu schlagen, als sie bemerkte, dass Serena sich halb in Trance befand und Informationen aus der übernatürlichen Energie der Umgebung zog.

»Dahinter steckt Aris Zauberei«, offenbarte sie. »Ich habe dir gesagt, dass sie stärker ist, als du glauben wolltest!« Sie hob ihre Hände und versuchte herauszufinden, was Ari im Schilde führte. »Sie zieht Energie auf sich. Sie hat etwas geschaffen, ein …« Sie schloss die Augen und presste ihre Finger gegen die Schläfen, als hätte sie Schmerzen, doch Fiona bedrängte sie weiter.

»Was?«, fragte sie.

Garrett näherte sich ihr. »Fiona, lass sie!«

Sie schaute Garrett finster an. Er ging zu sanft mit Serena um. Er trat zurück, und Fiona wandte sich wieder ihrer Tochter zu. »Serena, was hat Ari gemacht?«

»Ein Dreieck aufgebaut. Sie zieht sämtliche Energie in ein perfektes zweidimensionales Prisma.«

»Wie konnte diese kleine Hexe das nur schaffen?«

Serena antwortete nicht darauf. Stattdessen fuhr sie fort: »Sämtliche Energie wird zur Kirche des Guten Hirten gelenkt.«

»Diese Närrin!«, tobte Fiona und lief dabei auf und ab. »Sie weiß nicht, was sie da tut! Selbst die kleinsten Zaubersprüche sollten nur die stärksten Zauberinnen ausprobieren. Sie wird unser Werk zerstören! Alles! Garrett, mach dich mit Nicole zu ihr auf den Weg!«

»Das kann ich schneller erledigen«, meinte Serena.

»Ich brauche dich hier. Wir werden zusammen daran arbeiten, das Dreieck zu durchbrechen.«

Serena starrte ihre Mutter mit offenem Mund an. »Das hast du noch nie vorher gesagt.«

»Was?«

»Dass du mich brauchst. Dass wir zusammen stärker sind.«

Fiona runzelte die Stirn. »Natürlich habe ich das.« Hatte sie?

Serena schüttelte den Kopf. »Vielleicht hast du es gedacht, aber deine Gedanken kann ich nicht lesen.«

»Daran muss es wohl liegen.« Fiona strich ihrer Tochter über die Wange. »Ich weiß, Serena, ich bin streng mit dir, aber nur dadurch wirst du stark. Lass uns weitermachen!«

Serena lächelte. »Ja, Mutter.«

 

Obwohl Anthony Pater Philip und Lily am liebsten in der Mission gelassen hätte, weil er es dort für am sichersten hielt, befürchtete er, dass es am Ende genauso gefährlich für sie sein könnte, wenn er sie – wo auch immer – allein ließ, als wenn er sie mitnähme.

Das Tabernakel, das er brauchte, lag sicher aufbewahrt in einem Raum der Kirche von St. Francis de Sales in der Innenstadt von Santa Louisa. Vor zwei Jahren war der Gemeindepfarrer an einem Herzinfarkt gestorben. Seither war die Kirche fünf Priestern unterstellt gewesen, die sie jedoch alle aus unterschiedlichen Gründen wieder verlassen hatten, was aus heutiger Sicht eigenartig schien. Der Priester, der am längsten im Amt war, hieß Pater Isaak. Er war aus seinem Ruhestand zurückgekehrt, um sich der immer kleiner werdenden Gemeinde anzunehmen. Anthony hatte vorher nie in Betracht gezogen, dass Hexerei die einzige katholische Kirche in der Stadt von der Ausübung ihrer Tätigkeit abgehalten haben könnte, doch erschien ihm das jetzt als die einzige logische Schlussfolgerung – außer der weit verbreiteten menschlichen Teilnahmslosigkeit.

Es war sieben Uhr abends, als Anthony an der im Dunkeln liegenden Kirche vorfuhr; im Pfarrhaus nebenan brannte nur ein Licht, im Wohnzimmer. Pater Isaak zog sich normalerweise um acht Uhr zur Nachtruhe zurück. Anthony nahm Pater Philip und Lily mit zur Tür, da er sie nicht allein im Wagen lassen wollte.

Pater Isaak brauchte einige Minuten, bis er zur Tür kam. Als er sie öffnete, spürte Anthony die Wellen des Schmerzes, die von dem alten Mann ausgingen, der in den zwei Monaten, seit Anthony ihn bei seiner Ankunft in der Stadt gesehen hatte, noch einmal sichtlich gealtert war. »Geht es Ihnen gut?«, fragte er.

»Ich bin zwar alt«, antwortete Isaak, »aber es könnte schlimmer sein.«

»Pater, das hier ist Philip Zaccardi von St. Michael auf Sizilien.«

Isaak machte große Augen, als würde ein Heiliger vor ihm stehen. »Hochwürden«, sagte er und verneigte sich tief. »Es ist mir eine große Ehre.«

Isaak unterstützte seit Langem die Bemühungen von St. Michael, da er aber dem Orden nicht angehörte, sprach er nie darüber.

»Danke«, meinte Philip bescheiden. »Wir brauchen ein Tabernakel.«

»Das Original der Mission«, stellte Anthony klar.

Isaak nickte. »Natürlich. Es ist in der Schatzkammer.«

»Wir müssen auch die Eucharistie feiern. Würden Sie das übernehmen, oder darf ich es tun?«, fragte Philip.

»Lasst uns die Wandlung gemeinsam durchführen.«

»Wir haben nicht viel Zeit«, erwiderte Philip. »Ich habe Lily vorhin getauft. Es wird ihr erstes Abendmahl sein.«

Isaak lächelte feierlich. »Ich kenne die Gebete auswendig; lasst uns rasch beginnen! Anthony, du weißt, wie du in die Schatzkammer kommst. Ich werde die Vorbereitungen treffen.«

Anthony zog sein Handy aus der Hosentasche und runzelte die Stirn, als er die Nachricht von Moira sah. Er rief das Bild auf, das sie ihm zugeschickt hatte. Sein Herz versteinerte sich, als er es auf dem Display sah.

»Pater«, sprach er Philip an, »Moira ist auf das hier gestoßen.«

Philip bekreuzigte sich, als er das Bild erkannte. »Das Kainsmal.«

Anthony starrte darauf. »Gott steh uns bei!« Er war nicht überrascht – die Macht, über die Fionas Hexenzirkel verfügte, ließ darauf schließen, dass sie weit vorgedrungen waren – doch das Zeichen zu sehen flößte ihm Angst ein. Hexenzirkel, die Kain heraufbeschworen, waren bösartig und rücksichtslos und nur durch ihren Tod aufzuhalten.

Lily schaute auf das Foto und unterdrückte einen Schrei. Ihre Hände schnellten an ihren Hals, und sie begann vor Angst zu schwanken. »Nein. Nein!«

Anthony fing das Mädchen auf, während es in Ohnmacht fiel.