VIERUNDZWANZIG
Ach, kann ich nicht fester
fassen
Um sie nicht hinwegzulassen?
Ach, kann ich nicht eins in Hut
Halten vor der Woge Wut?
Ist all Schaun und Schein nur Schaum
–
Nichts als Traum in einem Traum?
EDGAR ALLAN POE
Es war der Traum, der nie vorüberging.
Gino hielt ein Messer in der Hand. Er hatte ein Leben ausgelöscht. Das Gefühl der Schuld stieg in ihm hoch, als würde sich eine Schlange durch seine Adern winden. Der Albtraum war wahr geworden.
Der Junge war besessen gewesen und nur mit einem einzigen Gedanken durch das Dorf geeilt: zu töten. Männer, Frauen, Kinder. Einen nach dem anderen. Niemand hielt ihn auf. Aus Angst zögerten sie, und er schnitt ihnen die Kehlen durch. Sie wehrten sich, und er quälte sie auf eine Art und Weise, die Gino sich in seinen kühnsten Träumen nicht hatte vorstellen können und von der er sich gewünscht hätte, sie nie kennengelernt zu haben. Als der Junge an der dritten Hütte vorbeikam, weckten die Schreie und das Weinen der Sterbenden die noch Schlafenden.
Ginos Freund Ravi, der Dorfälteste, der ihn in dieses verlassene mittelamerikanische Nest gebracht hatte, versuchte, den Jungen aufzuhalten, doch dieser war nicht mehr von dieser Welt. Er weilte bereits in einer anderen. Er hielt Ravi mit einer Hand fest – unmöglich, doch Gino hatte es mit seinen eigenen Augen gesehen! Der Junge hielt ihn hoch, drückte zu und brach ihm mit einer schnellen Bewegung das Genick.
Ref. 6 Es hätte an sich nicht möglich sein können, doch der Junge war besessen. Seine Augen waren tot. Dort, wo einmal Blut durch seinen Körper geflossen war, strömte jetzt das Böse.
Ravi sackte mit verrenktem Hals auf dem ausgedörrten Boden zusammen.
Gino lief in seine kleine Hütte zurück und griff nach seinem Kreuz und seiner Bibel. Er konnte das Böse schmecken, spürte, wie es seine Haut hinaufkroch, heiß, verführerisch, furchterregend. Er konnte kaum atmen, als die Schreie und das Weinen der Toten und Sterbenden in seinem Kopf widerhallten. Seine Hände zitterten, doch wenn er sich dem Dämon nicht entgegenstellte, um dem Gemetzel ein Ende zu bereiten, würde dieser sämtliche Dorfbewohner töten, alles in allem siebenundneunzig.
Er lief hinaus, um sich der Bestie in den Weg zu stellen.
»Im Namen von Jesus Christus befehle ich dir zu verschwinden!«
Der Junge zuckte zusammen, als hätte ihn eine Biene gestochen.
Gino, ermutigt von der Macht seiner Stimme, begann mit dem Ritus der Teufelsaustreibung.
»Im Namen des Vaters und des …«
Der Junge schnitt einer Frau die Kehle durch, die kniend betete. Ihre sterbenden Augen sahen Gino anklagend an.
… du hast zu mir gesagt, Gott sei liebevoll und barmherzig … du hast mich belogen … du hast unseren Frieden zerstört und uns den Tod gebracht …
Und Gino wusste, dass ihre unausgesprochenen Worte der Wahrheit entsprachen. Es war sein Fehler gewesen; er hatte das Böse mitgebracht. Er musste das verdammte Buch vernichten!
»Gino«, sagte der Dämon spöttisch, und er sah das wahre Gesicht des Bösen, das sich unter der Haut des Jungen wand.
Er rief den Erzengel Michael.
Der Dämon lachte. »Giiiiinnnnnnooooooo …«
Ginos Kopf schmerzte, und Blut tropfte aus seiner Nase. Dennoch fuhr er mit der Teufelsaustreibung fort. Er schüttete Weihwasser über den Körper des Jungen. Aus der Haut der Bestie drang Dampf hervor, und sie schrie schmerzverzerrt auf – ein dämonischer Schrei, der aus der Erde zu kommen schien, während das Kind auf seine Knie fiel.
Gino gewann an Kraft.
Dann erhob der Dämon sich, lachte, und ein Blitz traf eine Hütte und hielt die Familie in dem brennenden Raum gefangen.
Gino sprach die Worte, die bereits so wirkungsvoll gewesen waren. Warum funktionierten sie jetzt nicht? Wo war Gott? Wo war der Erzengel Michael?
Oder lag es an ihm? Er hatte das Buch zwar geöffnet, aber nicht darin gelesen. War der Dämon etwa da drinnen und wartete nur darauf, dass er Schwäche zeigte und so ein Siegel brechen würde, von dessen Existenz er noch nicht einmal wusste?
»Weiche aus dem Jungen, Satan!«
Er spürte, wie seine Füße vom Boden abhoben.
Ich sterbe.
Er schwebte einen Meter über dem Boden, gefangen und hilflos, während der Dämon eine weitere Hütte in Brand setzte. Und noch eine.
Erschüttert darüber, wie der Dämon sich an den Feuern ereiferte, ließ er das Messer fallen.
Selbst in seinem schwebenden Zustand fuhr Gino mit dem Ritual der Teufelsaustreibung fort; der Dämon geriet ins Stocken, hörte jedoch nie auf. Gino aber fiel auf den Boden zurück, das Messer in seiner Reichweite.
Er griff danach. Es war durchdrungen vom Bösen, aber er hielt es fest. Es verbrannte seine Haut, aber er hielt es fest.
Die nächste Hütte ging in Flammen auf. Sobald jemand herauslief, wurde er durch die Luft geschleudert wie durch einen Zauber.
Wie durch einen Zauber. Das Buch!
Gino stand auf. Das Blut Unschuldiger tropfte von dem Messer, und er schnitt mit einer Kraft, um die er gebetet hatte, dem Dämon die Hand ab. Kleine Schlangen glitten aus dessen Körper und breiteten sich in der Dunkelheit aus, das Böse war hinter ihm her. Er stach auf den Dämon ein – einmal, zweimal, dreimal.
Der Junge kam wieder auf die Füße. Rauch erfüllte die Luft und wirbelte um ihn herum; er spürte, wie der Dämon, der seine Seele berührte, aufschrie, als er in der Erde verschwand und auf dem Boden eine versengte Stelle hinterließ.
»P-Pater.«
Die Augen des Jungen starben. Sie starben. Waren tot. Der Junge starb. Unschuldig. Durch Ginos Hand. Er ließ das Messer fallen und betete darum, sterben zu dürfen, doch Gott kannte keine Gnade.
Gino suchte in der Hütte nach dem Buch, das er die Woche zuvor in einem verlassenen, zerfallenen Bau gefunden hatte, von dem er zuerst angenommen hatte, er wäre eine jahrhundertealte Kirche. Er hätte durch die obskuren gotteslästerlichen Symbole an den verbliebenen Wänden und auf dem Boden erkennen müssen, dass es sich nicht um eine Gott geweihte Kirche handelte. Wäre er nie hineingegangen, hätte er das Buch nie gefunden.
Er suchte das gesamte Dorf drei Mal ab, bevor er erschöpft zusammenbrach.
Das Buch war weg.
Seine Strafe, so schien es, war die Hölle auf Erden. Immer und immer wieder musste er die Angst, das Leid und die Ermordung eines unschuldigen Jungen sowie die endlose Suche nach einem Buch, das sich offenbar in Luft aufgelöst hatte, in seinem Albtraum durchleben.
In jenen Wochen wachte Gino Nacht für Nacht von seinen brutalen Erinnerungen auf. So häufig, dass er sich vor der Dunkelheit und dem Schlaf fürchtete. Er gewöhnte sich an, allein durch die Hallen zu streifen und für Frieden und Freiheit zu beten.
Zwei Jahrzehnte lang kämpfte er gegen seine Erinnerungen an, schlug sie zurück, bis sie endlich verschwanden. Für Jahre. Er hatte seine Strafe verbüßt, und die Güte Gottes hatte ihn geheilt, seinen Glauben wiederhergestellt. Doch dann kehrten die Erinnerungen zurück, schlimmer als je zuvor. Klar und deutlich. Der Geschmack, der Geruch, das Gefühl von Blut an seinen Händen und in seiner Nase drangen so tief in ihn ein und quälten ihn, dass er weder essen, schlafen noch denken konnte.
Bereue! Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Gesang aus der Kapelle hatte ihn aus dem Bett hochfahren lassen, und er stand mit nackten Füßen da, sein Nachthemd strich über seine alten, knorrigen Knie.
Er schaute nach unten und sah die Schlangen, kleine, über den Boden gleitende Schlangen. Er konnte nicht schreien. Er konnte sich nicht bewegen. Er kniff die Augen zu.
»Gino, komm zu uns! So wie es oben ist, so ist es auch unten.
Robert, komm zu uns! So wie es oben ist, so ist es auch unten.
Lorenzo, komm zu uns! So wie es oben ist, so ist es auch unten.«
Sie wurden alle zur Kapelle gerufen. Nacheinander. Sie hatten gesündigt; sie mussten Buße tun und gereinigt werden. Bestraft werden.
Dir wurde vergeben. Bleib!
»Gino, komm zu uns! So wie es oben ist, so ist es auch unten.«
Gino bemerkte nicht, wie ihm Tränen über das Gesicht liefen, als er die Tür öffnete und aus seinem Zimmer trat. Er ging den Flur hinunter, hörte das Geräusch von anderen sich öffnenden Türen und den Gesang aus der Kapelle.
Er musste dem Schmerz ein Ende bereiten.
Er trat in die Kapelle und roch Blut. Es war sein eigenes.
Rafes Brust brannte, als wäre er mit einem Messer niedergestochen worden. Er griff nach unten, um das Messer herauszuziehen.
»Rafe …«
Er öffnete seine Augen und sah Pater Isa Tucci mit einem Messer in der Hand und Blutspritzern im Gesicht.
»Nein!« Er schlug um sich. Und traf jemanden.
Hörte ein Stöhnen – weiblich. Er setzte sich auf und wusste nicht, wo er war.
»Rafe! Ich bin’s, Moira. Du hast einen Albtraum!«
Moira. Sie stand neben ihm und rieb sich mit der Hand über ihr Kinn.
Oh mein Gott! Ich habe sie geschlagen! Ich habe sie geschlagen!
»Es tut mir leid! So leid!«
»Geht schon. Ich bin hart im Nehmen.«
Sie setzte sich neben ihn, nahm seine Hände in ihre. Er sah sie an. Neben all den anderen Verletzungen in ihrem Gesicht von den früheren Angriffen war ihr Kiefer jetzt auch noch rot. Sie trug ein schwarzes, ärmelloses T-Shirt. Der Verband, den Anthony ihr vorhin angelegt hatte, war sauber und verblüffend weiß. Sie blutete nicht mehr.
Er entzog ihr eine Hand und berührte sie dort, wo er sie im Schlaf getroffen hatte.
»Was hast du?«
Er stand aus dem Bett auf und blickte sich um. Er befand sich in Skyes Gästezimmer. Moira hatte darauf bestanden, die Couch zu nehmen, obwohl er sie im Bett hatte schlafen lassen wollen, was sie jedoch abgelehnt hatte. Sie konnte so stur sein! Er hatte ihr Paroli geboten. Diesen sturen Gesichtsausdruck erkannte er immer an ihr, als sie sich ebenfalls erhob und nur ein paar Zentimeter von ihm entfernt fragte: »Rafe, hast du dich wieder an etwas erinnert?«
»Ja, aber es war nicht meine Erinnerung. Was haben sie mit mir gemacht? Warum haben sie mir das angetan?«
Sie nahm ihn in den Arm. Sie roch frisch nach Seife und Wasser. Frisch und lebendig, und sie war so schön, dass es ihm wehtat.
»Ich verspreche dir, Rafe, wir werden herausfinden, was sie mit dir angestellt haben!«
Er mochte es, wie sie sich anfühlte, wie sie roch. Sie war verlässlich und wahrhaftig – genau das, was er brauchte. »Ich – ich verstehe nichts, aber ich nehme alles wahr. Die Gerüche, den Schmerz, die Angst – als ob ich dort gewesen wäre.«
Moira wiederholte: »Wir werden herausfinden, was sie getan haben, und es ungeschehen machen.«
»Du bist eine Hexe, wieso weißt du es nicht?«
Der Schmerz huschte so schnell über ihr Gesicht, dass Rafe ihn beinahe nicht bemerkt hätte. Doch er war da gewesen und klang in ihren Augen noch nach, bevor sie ihren Blick abwenden konnte.
»Ich wollte nicht …«
Sie fiel ihm ins Wort. »Anthony und Skye schlafen noch. Ich gehe und hole Lily.«
»Aber nicht allein!«
»Du kannst nicht mitkommen. Sie sind hinter dir her – ich habe dir doch gesagt, was ich gestern Abend gehört habe.«
»Aber sie wollen dich umbringen!«
»Das will meine Mutter schon seit Langem, doch dich wollen sie wegen etwas anderem. Und bis wir nicht ganz genau wissen, was sie im Krankenhaus mit dir gemacht haben und wofür sie dich brauchen, tauchst du besser unter.«
Rafe wollte ihr sagen, dass ihm diese Bemerkung nur aus Missmut und Angst über die Lippen gekommen war und nicht, weil er glaubte, sie wäre eine von ihnen. Sie hatte den Verband um den Hals abgenommen; der Striemen war immer noch rot. Sie hatte ihr Haar zu einem Zopf geflochten, der locker über ihren Rücken fiel und sie beinahe verwundbar erscheinen ließ.
Er hatte sie verletzt. Seine Worte schmerzten ihn, und er wünschte, er könnte sie zurücknehmen.
»Es tut mir leid«, sagte er schlicht.
»Ist schon in Ordnung.«
Doch schaute sie ihn nicht an und ging hinaus.