SIEBEN
Fiona ging durch das abgeschieden gelegene Herrenhaus am Stadtrand von Santa Louisa. Ihre Schritte hallten durch die riesigen Räume, als zöge sie ein Gewitter hinter sich her. Serena hatte ihre Mutter selten so wütend gesehen, wenngleich sie genauso aufgebracht – und schockiert – gewesen war, als Rafe Cooper mitten in ihr Ritual geplatzt war. Dennoch hatte es auch ein bisschen Schadenfreude in ihr ausgelöst, war ihre Mutter doch von ihrer eigenen mangelnden Voraussicht kalt erwischt worden.
»Wieso hast du das nicht gewusst?«, fragte Fiona Dr. Richard Bertrand, als sie die gewaltige Bibliothek im hinteren Teil des Hauses betraten. Das Anwesen gehörte der Kirche des Guten Hirten, und Serena amüsierte sich normalerweise darüber, dass die Spenden für Pastor Garretts angeblich christliche Kirche dafür verwendet wurden, ihr und ihrer Mutter ein Leben in Luxus zu ermöglichen.
»Richard!«, schrie Fiona. Als dieser nicht sofort antwortete, schickte sie, um ihre Wut zu unterstreichen, einen Energieblitz zu den Flügeltüren, die daraufhin zuschlugen. Richard zuckte zusammen, als wäre er körperlich getroffen worden.
Der Arzt winselte um Gnade. Wie immer, dachte Serena. Nur wenige besaßen das Rückgrat, Fiona Paroli zu bieten, doch Rafe hatte in seiner Verantwortung gelegen. Richard hatte allen versichert, Rafe Cooper würde nie wieder aufwachen. Er könnte froh sein, wenn er am nächsten Morgen noch lebte.
»An sich hätte er nicht mehr aufwachen dürfen«, jammerte Richard.
»Hätte nicht aufwachen dürfen? Seit wann reduzierst du dich auf lächerliche Untertreibungen?«, fauchte Fiona. Dann wandte sie sich Serena zu. »Und du hättest ihn schon vor Monaten umbringen sollen!«
Serena richtete sich auf und reckte ihr Kinn. Sie würde nicht zulassen, dass ihre Mutter die Vergangenheit so zurechtrückte, wie es ihr gerade passte. »Als Rafe Cooper ins Koma fiel, sagtest du, er sei für uns lebendig nützlicher als tot!«, erwiderte sie.
»Er hätte in dieser Nacht sterben sollen!«
Mit einer schnellen Drehung ihres Handgelenks ließ Fiona die Türen wieder aufschlagen – ein netter kleiner Trick, wenngleich ein billiger. Serena lebte schon lange genug mit ihrer Mutter zusammen, um zwischen Spielereien und Macht unterscheiden zu können. Zweifelsohne verfügte Fiona über mehr jenseitige Kräfte als jede andere Zauberin, die Serena kennengelernt hatte, doch genoss sie auch das ganze Drumherum, das die Macht mit sich brachte. Von den vielen Spielchen in den Ruinen war die Hälfte unnütz gewesen. Hätte sie auf den ganzen Schnickschnack verzichtet und sich beeilt, wären die Dämonen in der Arca gefangen gewesen, noch bevor Rafe Cooper ihren Kreis hatte durchbrechen können.
Fiona wirbelte herum und starrte Serena wütend an, als hätte diese ihre Kritik ausgesprochen. Ihre Mutter konnte zwar keine Gedanken lesen, hatte jedoch einen sechsten Sinn, der verhinderte, dass Serena aus der Reihe tanzte. »Wenn ich Rafe Cooper finde, wird er leiden«, drohte Fiona und ließ bei niemandem Zweifel zurück, ihn mit dem größten Vergnügen zu quälen und zu töten.
»Serena, los! Sieh nach den anderen und mach ihnen klar, was ihnen blüht, wenn sie ungehorsam sind!«
»Mutter, ich denke …«
Fiona funkelte ihre Tochter an und hob eine Augenbraue. »Ich habe dich nicht gebeten zu denken!« Serena war klug genug, sich in Anwesenheit Dritter Fionas Befehlen besser nicht zu widersetzen. Wenn sie allein waren, stritten sie sich häufig. Manchmal benutzten sie auch Zauberei, wobei Fiona sich immer zur Siegerin erklärte.
Doch eines Tages würde Fiona lernen, wer in der Familie die wahre Macht besaß.
Als Serena die Bibliothek verließ, flüsterte sie: »Dein Wunsch ist mir Befehl.«
Fiona sah, wie ihre Tochter hinausging, und dachte darüber nach, ob sie ihren Sarkasmus bestrafen sollte. Doch als Richard seinen Mund öffnete, war Serenas Beleidigung bereits vergessen.
»Ich verstehe nicht«, sagte Richard, »wie Cooper ohne Hilfe das Krankenhaus verlassen konnte.«
»Natürlich hatte er Hilfe!«, schnauzte Fiona ihn an. »Ich möchte wissen, ob sie menschlicher oder anderer Natur war.«
Sie schritt durch die riesige Bibliothek und nahm die Conoscenza vom Schreibtisch, wo Serena sie hingelegt hatte. Sie blätterte sie auf der Suche nach Antworten durch, die sie aber nicht erhielt, weil sie das verdammte Buch nicht lesen konnte. Dazu war nur Serena in der Lage, und sie fragte sich, warum. Warum besaß ihre törichte Tochter diese Gabe und nicht sie?
Und wieso kannte Raphael Cooper diese Sprache? Es war schon unfassbar genug, dass er die Arca gerettet und Fiona um ihren Triumph gebracht hatte.
Wahrscheinlich wusste Cooper überhaupt nicht, was er getan hatte. Sie würde ihn finden, in ihre besondere, umgekehrte Teufelsfalle stecken und einen Geist nach dem anderen heraufbeschwören, um ihn zu quälen. Er würde darum betteln, sterben zu dürfen. Er würde sich selbst umbringen und dann nach unten gezogen werden. Eine besondere Opfergabe, die ihr viel Gunst und noch mehr Macht bescheren würde.
Und diese brauchte sie nach heute Nacht.
Sie wollte die Conoscenza schon durch den Raum schleudern, da verströmte der alte Text plötzlich eine Hitze, als würde das Buch leben und ihre Absicht spüren. Fiona ließ es auf den Tisch fallen.
Sie packte sich einen anderen dicken Schinken, Twilight, und warf ihn durch den Raum. Als das Buch gegen die Wand schlug, zerbrach der Buchrücken, und es fiel zu Boden. Sie griff nach einem weiteren Buch und zielte dieses Mal auf Richard. Er duckte sich, doch es traf ihn am Kopf, und Fiona lächelte.
»Wie konnte Cooper nur wach werden? Ausgerechnet heute Nacht?«
»Fiona, Medea, ich schwöre dir, ich weiß es nicht! Ich habe alles getan, damit er nicht aufwacht. Als ich ging, war alles so wie immer.«
»War Zaccardi in der Nähe?«
»Nein, der war nirgendwo zu sehen. Er kam wie immer morgens vorbei, blieb aber nicht länger als üblich. Coopers Zustand war unverändert. Man hat mich noch nicht einmal benachrichtigt, dass er aufgewacht war. Ich schwöre …«
»Geh! Geh sofort zurück. Finde heraus, was passiert ist und ob ihm jemand geholfen hat! Wenn deine Zauberei so schwach ist, dass du mir nicht die Antworten liefern kannst, die ich brauche, werde ich Serena schicken.«
»Ich werde sie dir liefern, aber …«
»Richard, ich habe dir einfache Anweisungen erteilt. Finde heraus, wie Raphael Cooper aufwachen und das Krankenhaus verlassen konnte!« Ihre Stimme klang plötzlich ruhig, gespenstisch ruhig, was noch beängstigender war.
Richard drehte sich um und ging. Als Fiona allein war, wandte sie sich wieder der Conoscenza zu.
»Warum besitze ich diese Gabe nicht?« Sie schlug mit einer Hand auf das Buch und forderte es heraus. Eine Staubwolke stob auf. Ihre Hand brannte innen, und sie schleuderte den Wälzer fort.
»Das ist nicht gerecht«, flüsterte Fiona.
Sie war die Tochter einer Hexe, die Enkelin einer Hexe und die Urenkelin einer der größten Zauberinnen Irlands – nein, der ganzen Welt! Ihr Geschlecht ging auf die Anfänge der Zauberei zurück. Das hatte sie in all den Jahren der Meditation und des Studiums herausgefunden. Während jeder x-Beliebige Zauberei ausüben konnte, besaß Fiona ein natürliches Talent, eine Fähigkeit, Feinheit und innere Stärke, die sie selbst von den stärksten Zauberern der Welt unterschieden. Es gab nur wenige, die es mit ihr aufnehmen konnten, und wenn sie es taten, ging sie stets als Siegerin hervor.
Fiona kämpfte erbittert, wenn sie herausgefordert wurde, sodass die meisten ihrer Gegner tot waren. Und diejenigen, die noch lebten, machte sie zu ihren Untergebenen und beobachtete sie mit Argusaugen. Sie erstickte jeden Aufruhr im Keim.
Trotz all ihrer Stärke, ihrer Herkunft und ihres Talents war ihr nicht die Fähigkeit geschenkt worden, die alte Sprache zu verstehen. Hätte sie anstatt ihrer Tochter über dieses Wissen verfügt, hätte sie Cooper aufhalten können. Serenas Handeln hatte sich nie durch schnelles Reagieren ausgezeichnet; sie war zu unbeweglich, zu zurückhaltend. Fiona hätte Coopers Zaubersprüche umkehren und ihn schlagen können. Sie war dazu bestimmt, die Hexenzirkel dieser Welt zu einen und so lange im Kessel menschlicher Apathie und Unzufriedenheit zu rühren, bis er überschäumte. Mit ihr am Ruder würde der Orden St. Michael vernichtet und den letzten Auswüchsen der verbliebenen großen Hexenjagd endgültig ein Ende bereitet werden.
Sie müssten nicht länger in finsterer Nacht, auf abgeschiedenen Wegen und Feldern und in den verborgenen Nischen der Welt ihre Rituale ausüben. Fionas höherrangige Hexen waren unter anderem gewählte Beamte, wichtige Geschäftsleute in verantwortungsvollen Positionen, Reiche, Mächtige und Lehrer. Die Hexenzirkel würden sie noch mehr unterstützen, wenn sie die auf den Klippen freigelassenen Sieben erst einmal wieder unter ihrer Kontrolle hätte. Sobald sie sie eingefangen haben würde und die Hexenzirkel vereint unter ihrem Befehl stünden, könnte sie endlich in die heilige Stätte des Ordens St. Michael vordringen.
Die Dummköpfe wussten nicht, was sich in ihrem Besitz befand! Und wenn sie es wüssten, hätten sie es vor langer Zeit schon vernichtet.
Die Türen der Bibliothek wurden aufgeschlagen, und Fiona wirbelte verärgert herum, weil der Eindringling nicht angeklopft hatte.
Es war Garrett, gefolgt von Serena.
»Wir haben ein Problem«, gestand er. »Ich musste sie dalassen, da war …«
»Ein Problem? Wo ist das Gefäß?«, fragte Fiona. »Hast du etwa nicht aufgeräumt?«
»Ich war gerade dabei, doch dann kam die Polizei.«
Fiona ballte ihre Hände zu Fäusten. Funken sprühten knisternd um sie herum.
»Und Cooper?«, erkundigte sie sich, ihre Stimme nur noch ein Flüstern.
»Wir haben in sicherer Entfernung von der Polizei nach ihm gesucht, konnten aber auf dem felsigen Boden keine Spur von ihm entdecken. Die Polizei …«
Sie hob ihre Hand, wollte keine weiteren Entschuldigungen von ihm hören. Die elektrische Spannung knisterte jetzt in ihren Fingerspitzen. Sie wollte Garrett verletzen, doch sie war diszipliniert genug und fing sich wieder. Stattdessen lenkte sie die Energie von ihm und Serena ab und schickte sie quer durch den Raum zu dem an der Wand stehenden Aquarium. Das Wasser begann sprudelnd und dampfend zu kochen, und die Fische trieben nach oben.
»Es gibt da noch ein größeres Problem, Fiona«, schob Garrett hinterher.
Fionas Augen blitzten auf. »Was für ein größeres Problem kann es noch geben, als dass die Sieben außer meiner Kontrolle sind?«
»Moira.«
»Es ist verboten, diesen Namen zu erwähnen!«
»Ich habe sie gesehen«, fuhr Garrett fort. »Sie tauchte nur Minuten nachdem ihr und die anderen fort wart auf. Sie hat mich nicht entdeckt, ich habe mich in den Zypressen versteckt, und als der Junge, der sie begleitete, ging, wollte ich sie mir holen, aber dann tauchte die Polizei auf.«
»Nein«, widersprach Fiona mit Nachdruck. »Ich wüsste, wenn diese Verräterin in der Nähe wäre!«
»Irgendjemand muss sie beschützen«, warf Serena grüblerisch ein.
Fiona lief wütend auf und ab. Selbst Serena kannte weder das Ausmaß von Moiras Verrat noch das Leid, das Fiona hatte ertragen müssen, und auch nicht die Opfer, die sie hatte erbringen müssen, um ihre verloren gegangene Macht wiederzuerlangen. Das alles nur wegen ihrer Erstgeborenen, diesem undankbaren Geschöpf!
Fiona wollte, dass Andra Moira für immer und ewig litt. Und das würde ihr auch gelingen – mit Hilfe ihrer Gedanken, ihrer Hände, ihrer Zauberei, ihrer Macht und ihrer Dämonen. Die Verräterin würde abwechselnd in Stücke gerissen und wieder zusammengesetzt werden … Sie würde zusehen müssen, wie die abscheulichsten Dämonen mit einer besonderen Vorliebe für menschliches Fleisch jene jagen und mit Haut und Haaren verschlingen würden, die sie liebte und um die sie sich sorgte. Tausende von Auspeitschungen müsste sie erleiden, immer und immer wieder, bis jeder Zentimeter ihrer Haut blutete, doch würde sie immer noch leben; und Fiona würde genüsslich Blutegel auf sie hetzen, um sie auszusaugen, sowie Dutzende kleiner Vampire.
Das letzte Mal, als Fiona Moira hatte bestrafen wollen, wehrte diese sich und kehrte ihre Bemühungen um. Sollte diese aufsässige Brut in all den Jahren danach ihre Fähigkeiten verbessert haben, konnte Fiona nicht sicher sein, ob sie einen direkten Kampf gegen sie gewinnen würde.
Fiona könnte die Sieben auf ihre verräterische Tochter hetzen und ihr so heimzahlen, was schon seit Langem überfällig war. Sobald die Dämonen wieder unter ihrer Kontrolle wären. Und die Arca.
»Serena, bring mir meine Landkarte! Ich werde sie finden.«
»Die brauchst du nicht«, warf Garrett ein. »Ich weiß, wo sie ist. Zaccardi ließ sie durch seine Schlampe verhaften.«
Fiona lachte. Oh, vielleicht stand das Universum heute Nacht doch auf ihrer Seite!
»Die Verräterin ist im Gefängnis?«
»Ja. Ich habe gesehen, wie sie in Handschellen abgeführt wurde.«
»Wunderbar! Serena, kümmere du dich weiter um unser Problem mit den Sieben!« Fiona schritt mit flatterndem Gewand durch die Bibliothek, ihr üppiges rotes Haar wippte auf dem Rücken. Ein königlicher, wunderschöner Anblick. Und dessen war sie sich auch bewusst. Sie zog ihren Umhang über und fügte hinzu: »Ab morgen früh wirst du ein Einzelkind sein.«
Serena nickte. Sie nahm die Conoscenza und umarmte das Buch. »Ich werde die Antworten finden.«
Fiona blieb neben dem Aquarium stehen, runzelte die Stirn und sagte plötzlich: »Serena, hol Margo! Meine armen Fische! Ich kann es nicht ertragen, sie tot zu sehen.«
Skye war nicht glücklich darüber, Moira O’Donnell verhaftet zu haben. Sie verstand nicht, warum Anthony so böse auf diese Frau reagiert hatte, die sich offensichtlich mit den gleichen eigenartigen Dingen beschäftigte wie er. Doch als Moira ihn schlug – für ihn vollkommen überraschend –, hatte Skye etwas unternehmen müssen. Die Frau hatte ihn tätlich angegriffen, und das konnte kein Gesetzeshüter durchgehen lassen. Sie war mit einem Dolch bewaffnet gewesen, hatte aber auch noch Utensilien mit sich geführt, die Skye selbst im Hause hatte, seit Anthony in ihr Leben und Herz getreten war. Als Skye Moira auf den Rücksitz des Autos von Hilfssheriff Young setzte, konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, vielleicht doch überzureagieren. Jared Santos war ein guter Junge. Wenn er ihr Moiras Aussage bestätigen würde, dass sie beide zusammen waren, als sie die Leiche fanden, würde sie sie freilassen – trotz des Angriffs auf Anthony.
Sie gestand sich ein, dass sie tief in ihrem Innern eifersüchtig war. Sie kannte Anthony noch nicht einmal drei Monate. Sie lebten zwar zusammen und liebten sich, doch er hatte ein eigenartiges Leben geführt, bevor er nach Santa Louisa gezogen war und das Seltsame in ihr Leben gebracht hatte.
Skye hatte unerklärliche Dinge erlebt. Sie war angegriffen, betäubt, entführt, gewaltsam festgehalten und durch die Hände ihres besten Freundes und leitenden Kriminalbeamten, Juan Martinez, fast gestorben, der von einem Dämon besessen gewesen war, den sie, als er ausgetrieben wurde, leibhaftig gesehen hatte. Anthony hatte Juans Bein mit einem besonderen Dolch aufgeschnitten – ein ähnlicher Dolch wie der von Moira O’Donnell –, um ihn zu retten.
Deshalb glaubte sie Anthony, wenn er behauptete, hinter den sieben Todsünden steckte mehr als nur eine Fabel oder ein religiöses Märchen. Wenn Anthony meinte, Dämonen wären am Werk, dann war das verdammt noch mal auch so, und sie musste einen Weg finden, ihre Stadt zu retten, dieses kleine Fleckchen Erde, das zu beschützen und dem zu dienen sie geschworen hatte.
Hätte ihr allerdings jemand anders als Anthony gesagt, die sieben Todsünden gäbe es wirklich, hätte sie gelacht oder denjenigen für drei Tage in die Psychiatrie geschickt.
Dr. Rod Fielding kam mit einem kurzen Kopfnicken auf Skye zu, während Young mit Moira O’Donnell wegfuhr. Der Leiter der Spurensicherung war inzwischen stellvertretender Gerichtsmediziner, nachdem Rich Willem ihr Ende des Jahres überraschend erklärt hatte, in Rente zu gehen. Skye hatte versucht, Rod zu überreden, den Posten zu übernehmen, doch dieser hatte abgelehnt und war dabei geblieben, diese Aufgabe nur vorübergehend zu übernehmen, bis sie einen Ersatz für Willem gefunden hätte.
Auf dem Weg zu der Leiche blieb Rod stehen und schaute sich um. »Was ist denn hier passiert?«, erkundigte er sich. Er bemerkte Anthony, der ganz am Rand stand und in sein Handy sprach. »Das ist doch nicht etwa …« Er sah die Symbole, obwohl diese teilweise unkenntlich gemacht worden waren. Er entdeckte das rote Seidenlaken, die nackte Leiche und das verschüttete Kerzenwachs.
»Oh Gott!«
»Es ist Abby Weatherby«, sagte Skye.
»Ich kenne ihre Eltern.« Der Schmerz in seiner Stimme war echt.
Er rieb sich die Augen, zog seine Handschuhe an und fragte: »Was ist passiert?«
»Ich hoffe, das kannst du mir sagen.«
Sie gingen zu der Leiche hinüber, und Rod runzelte die Stirn. »Sie ist nackt. Gibt es Anzeichen für einen sexuellen Übergriff?«
»Nicht, soweit man das mit dem bloßen Auge beurteilen kann – der Körper weist keine Blutspuren oder sichtbaren Blutergüsse auf. Es liegen auch keine äußerlichen Wunden vor, sodass ich keine offensichtliche Todesursache feststellen kann.«
»Wurde die Leiche berührt oder bewegt?«
Skye zögerte. »Möglicherweise. Jared Santos und eine Freundin von ihm haben sie gefunden. Ich glaube nicht, dass sie hier irgendetwas durcheinandergebracht haben, aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.«
»Wo ist er? Kannst du ihn fragen – oder die Freundin?«
»Ich habe noch nicht mit Jared gesprochen. Und Moira O’Donnell habe ich gerade verhaftet. Sie …« Skye zögerte. Rod war einer der wenigen, der wusste, was wirklich letzten November passiert war, doch war es für Skye eigenartig, von übernatürlichen Ereignissen zu sprechen, als handelte es sich um ganz normale Verbrechen. »O’Donnell gehört zu … Anthonys Gruppe.« Eine dürftige Geschichte, aber was sollte sie ihm sonst sagen?
»Warum hast du sie verhaftet?«
»Sie hat Anthony angegriffen.«
Rod grinste. »Du meinst, sie hat ihm eine runtergehauen? Echt?«
»Hör auf, dich darüber zu freuen!« Skye wechselte das Thema. »Anthony glaubt, es waren noch andere hier – hm, ein Hexenzirkel.« Das letzte Wort war nur gemurmelt.
»Er glaubt was? Ein Hexenzirkel? Richtige Hexen?
Rod machte sich ein Bild vom Ort des Geschehens, so wie Anthony und Skye vor ihm. »Na gut, das sieht schon komisch aus, aber wir haben seit dem Feuer Probleme damit, dass Unbefugte das Gelände hier betreten. Diese Kids sind einfach dumm, das weißt du genauso gut wie ich. Ich werde eine toxikologische Untersuchung bei Abby durchführen, aber ich weiß, dass du das Gleiche vermutest wie ich. Wir haben darüber schon gesprochen.«
»Kids, die feiern, Drogen nehmen, Überdosis.«
»Genau. Ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber ganz ehrlich, das hier ist nichts Neues. Das haben wir schon mehr als ein Mal gesehen. Und du und ich, wir beide wissen, dass Abby im letzten Jahr über die Stränge geschlagen hat. Das letzte Jahr an der Schule, bald weg von zu Hause und den strengen Eltern. Das hier passiert nicht nur bei uns, sondern in jeder anderen kleinen und großen Stadt Amerikas. Ich bin bloß traurig, wie so viel Potenzial einfach vergeudet wird.«
Vielleicht irrte Anthony sich, oder die Symbole gehörten zu einem Spiel, das nicht wirklich dazu bestimmt war, Dämonen oder irgendetwas anderes heraufzubeschwören. Vielleicht hatten sie es einfach nur mit Kindern zu tun, die Blödsinn getrieben hatten. Vielleicht hatte ein Ritual stattgefunden, aber bevor Abby hier aufgetaucht war. Oder sie hatte jemanden bei etwas gestört …
»Sollte sie einen Freund gehabt haben, werde ich ihn aufstöbern. Ich werde ihre Freunde befragen. Einer wird schon quatschen.«
Rod kniete sich neben Abbys Leiche und nahm sie in Augenschein. Dann berührte er den Körper an verschiedenen Stellen. »Wann wurde sie gefunden?«
»Ungefähr um zwei Uhr.«
Er blickte auf seine Uhr und schrieb einen Vermerk in sein Buch. »Also vor neunzig Minuten – mehr oder weniger. Sehr viel länger kann sie nicht tot sein. Die Leichenstarre hat noch nicht vor allzu langer Zeit eingesetzt, was bei den niedrigen Temperaturen nicht ungewöhnlich ist. Ich gehe davon aus, dass ihr Tod nicht mehr als zwei Stunden zurückliegt.«
Er schaute in Abbys Mund, ihre Augen, ihre Nase und ihren Hals. Er spreizte ihre Beine, um nach äußeren Anzeichen eines sexuellen Übergriffs zu suchen, fand jedoch keine und drehte sie um, um ihren Rücken auf Verletzungen zu untersuchen.
»Keine Fremdeinwirkung. Ganz ehrlich, das sieht für mich aus, als wäre sie mit ihrem Freund für ein Schäferstündchen oder um Drogen zu nehmen hierhergekommen. Sie erwischte eine Überdosis und er floh.«
»Und nahm ihre Kleider mit?« Skye hatte ihre Zweifel, behielt sie aber für sich. Rod stand zwar schon kurz vor der Rente, war aber ein blitzgescheiter, erfahrener alter Hase und außerdem derjenige gewesen, der entscheidend zur Lösung im Falle der Ermordung der Priester in der Mission letzten November beigetragen hatte. Sie vertraute seinem Urteil, fragte sich aber, ob seine spontane Reaktion hier darin begründet lag, nicht etwas anderes – Jenseitiges – in Erwägung ziehen zu wollen.
Als Rod die Leiche des Opfers wieder vorsichtig in ihre ursprüngliche Lage drehte, fiel Skye etwas auf. »Was ist denn das da an ihrem Nacken? Schieb mal ihr Haar beiseite!« Sie zog sich einen Latexhandschuh an und rollte die tote Abby vorsichtig zur Seite. »Hier.«
Sie zeigte auf eine kunstvolle farbige Tätowierung an ihrem Nacken – ganz am Ende zwischen den Schultern.
»Sieht aus wie eine professionell gemachte Tätowierung«, meinte Rod, nachdem er sie untersucht hatte. »Ich werde in der Gerichtsmedizin Bilder davon machen.«
Skye schaute zu Anthony hinüber und sah, dass er telefonierte. Sie biss sich auf die Lippe und hasste sich dafür, lauschen zu wollen.
»Ich werde sie zusammen mit dem Laken abtransportieren«, sagte Rod, »um keine Spuren zu verwischen. Ich habe hier alles getan, was ich konnte. Ich schreibe noch den Anhänger mit ihrem Namen, und dann lasse ich sie in die Gerichtsmedizin bringen.«
»Wann kannst du mit der Autopsie beginnen?«
»Sofort. Ich werde sie präparieren und dann um acht Uhr anfangen. Wirst du dabei sein?«
»Auf jeden Fall.« Sie sah wieder zu Anthony, der immer noch in sein Gespräch vertieft war und besorgt wirkte. Er bemerkte ihren Blick und wandte ihr den Rücken zu. Irgendetwas stimmt nicht, dachte Skye, während sie half, den Rest des Tatorts aufzunehmen.
Anthony hörte Pater Philip gespannt zu. Das Gespräch vernahm einen Lauf, der ihm ganz und gar nicht gefiel.
»Du musst ihr helfen«, drängte der Pater, nachdem er Anthony erzählt hatte, dass er die ganze Zeit über von Moira O’Donnells Aufenthalt in den USA gewusst hatte – noch bevor Anthony letzten November die Insel verlassen hatte und nach Santa Louisa gefahren war.
»Du wusstest, dass die Hexe hier war?«
»Wir haben keine Zeit, uns darüber zu streiten.«
»Sie ist eine Schlange, sie hat dich getäuscht!« Anthonys Magen verkrampfte sich. Er und der Pater hatten diese Auseinandersetzung bereits oft miteinander geführt, und keiner konnte den anderen für seinen Standpunkt gewinnen. Nichts von dem, was Pater Philip, Rico oder all die anderen anführten, die Moira für unschuldig hielten, konnte Anthony davon überzeugen, dass sie keine Gefahr für den Orden St. Michael bedeutete. Umgekehrt konnte nichts von dem, was er sagte oder an Fakten vortrug, die seiner Meinung nach Moiras Schuld belegten, die anderen zum Umdenken bewegen. Durch sie hatte der Dämon in St. Michael eindringen können. Sie war für dessen Taten verantwortlich.
Pater Philip ging auf Anthonys Bemerkung nicht ein und fuhr fort: »Moira rief mich heute Abend an, nachdem sie von dem Ritual auf den Klippen erfahren hatte. Ich habe ihr aufgetragen, dich anzurufen, da ihr euch jedoch so spinnefeind seid, wundert es mich nicht, dass sie es nicht getan hat. Aber du weißt …«
Anthony wollte seine eigenartige Verbindung zu den Ruinen nicht diskutieren, und so unterbrach er ihn. »Ich fahre jeden Abend wegen der Dunkelheit, die diesen Ort umgibt, zu den Klippen.« Sie mutete wie ein gewaltiges, tiefes, schwarzes Loch an, auf das die Gesetze der Physik anscheinend keine Anwendung fanden. Aber nicht heute Nacht, nicht in diesem Moment – was auch immer der Hexenzirkel gemacht hatte, der Ort war dadurch verändert worden. »Es gibt seit zwei Monaten Anzeichen für okkulte Aktivitäten, doch was ich heute Abend hier vorgefunden habe, war etwas anderes.«
»Was ist passiert? Ich habe versucht, Moira zu erreichen, aber sie nahm den Hörer nicht ab.«
»Laut der Zeichen wurden die Sieben freigelassen. Ein Mädchen ist dabei gestorben – wahrscheinlich war sie ein Opfer. Moira O’Donnell war mittendrin. Sie behauptet zwar, die Leiche gefunden zu haben, aber das kaufe ich ihr nicht ab. Wieso willst du nicht einsehen, dass sie das Problem ist? Sie ist seit Beginn des Aufstands der Unterwelt dabei, anfangs war sie es noch mit ihrer Mutter. Auch wenn sie jetzt nicht mehr gemeinsame Sache mit ihr macht, hat sie doch ihre eigene Art von Zauberei entwickelt, die Peter umbrachte. Ich habe heute Abend in Olivet angerufen und erfahren, dass sie dort vor drei Monaten hätte eintreffen sollen, aber nie aufkreuzte. Sie ist eine tickende Zeitbombe – und ehrlich gesagt, sind mir ihre Beweggründe vollkommen egal. Du …«
»Anthony«, unterbrach der Pater ihn, »du irrst dich bei Moira. Sie sollte zwar nach Olivet, aber Rico wusste von ihren Plänen. Wir haben für diese Diskussion jetzt jedoch keine Zeit. Bist du sicher, was die Sieben betrifft?«
Anthony zögerte und kam sich wie ein gerügtes Kind vor. »Ja«, antwortete er. »Ich bin mir ganz sicher, dass sie sie heraufbeschworen haben, aber ich kann nicht sagen, ob es funktioniert hat oder wofür sie die Sieben brauchen oder wer genau dahintersteckt. Dies hier ist größer als alles, was mir bisher begegnet ist. Ich brauche meine Bücher, um nachzuforschen.« Ihm ging es um einiges besser, wenn er sich in seine alten Texte vertiefen konnte, statt von Angesicht zu Angesicht gegen Dämonen kämpfen zu müssen. Das hatte er einmal getan, um Skye zu retten – er wollte diese fürchterliche Erfahrung nie wieder machen.
»Gut, ich schicke dir alles, was du brauchst, aber lass bitte Moira ihre Arbeit machen!«
»Ihre Arbeit? Welche Arbeit?«
»Das kann ich dir am Telefon nicht sagen.«
Anthony erstarrte. Pater Philip war seit Kindertagen sein Mentor. Sie hatten den gleichen Nachnamen, was auf den Brauch im Kloster zurückging, dass Waisenkinder von einem der Priester oder Mönche »adoptiert« wurden und derjenige die erste Bezugsperson für das Kind war. Pater Philip hatte ihn adoptiert … und Peter, weshalb Anthony auch nicht verstand, warum der Pater sich mit Moira O’Donnell einließ.
»Ging sie dieser Arbeit auch nach, als sie eigentlich in Olivet sein sollte?«
»Ja, und auch schon vorher. Anthony – ich werde dir das alles persönlich erklären. Du kannst Moira aber auch fragen.«
»Weder das eine noch das andere wird so bald passieren.«
»Vielleicht ist es Zeit für ein Konzil in Olivet.«
Dass der Pater ein solch wichtiges Ereignis so lange vor ihm geheim gehalten hatte, schmerzte Anthony sehr, und er konnte es kaum verbergen. Dennoch sagte er: »Ich verstehe.«
»Anthony, ich muss mit Moira sprechen. Wo ist sie?«
»Im Gefängnis.«
»Du musst sie so schnell wie möglich dort herausholen. Anthony, sie braucht deinen Schutz!«
»Meinen Schutz?« Er rieb sich das Kinn. »Wohl kaum.«
»Fiona wird sie im Gefängnis aufspüren! Die Polizei wird ihr alles abnehmen, was sie zu ihrem Schutz einsetzen kann. Das weißt du doch!«
Einen Moment lang spürte Anthony einen Anflug von Schuld.
Der Pater sagte mit ruhiger Stimme: »Du und Peter, ihr habt euch sehr nahegestanden, das verstehe ich. Auch ich habe Peter zutiefst geliebt. Was passiert ist, war ein fürchterlicher Irrtum, aber du musst Moira vergeben! Peter und Moira trugen beide Schuld, doch waren es letztendlich Fiona und ihr Dämon, die Peter töteten, und nicht Moira oder Peter selbst.« Er senkte seine Stimme. »Anthony, du bist etwas ganz Besonderes. Etwas Außergewöhnliches und von Gott mit vielen Talenten gesegnet. Du bist für unsere Bestimmung unverzichtbar, aber deine Schwäche wird dich noch einmal vernichten. Sollten die Sieben freigelassen worden sein, wird deine Wut gegen dich verwendet werden. Bete dafür, vergeben zu können!«
Auch wenn Pater Philip seine Stimme nicht erhoben hatte, spürte Anthony seinen Tadel über die Tausende von Meilen hinweg. »Und jetzt sag mir, seit wann Moira ohne Schutz ist!«
Anthony schluckte eine bissige Antwort herunter und entgegnete: »Seit einer Stunde.«
»Du musst verhindern, dass Fiona Moira findet! Ich werde morgen nach Olivet abreisen.«
»Du kommst nach Amerika?«
»Ich muss. Versprich mir, Moira aus dem Gefängnis zu holen!«
Anthony rang mit sich. Er wollte nicht gehorchen. »Ja, Pater, das werde ich.«