EINUNDZWANZIG
Moira hatte durch das jahrelange Leben in Motelzimmern und billigen Wohnungen gelernt, mit leichtem Gepäck zu reisen und immer alles griffbereit zu haben. Das, was sie brauchte, befand sich in ihrer Tasche, die sie sich über die Schulter warf.
»Bleib in Deckung!«, ermahnte sie Rafe.
Sie lief zum Balkon hinüber, und während sie in die Hocke ging, öffnete sie die Tür, schob die Vorhänge aber nicht zurück. So weit, so gut. Sie hörte Leute im Flur, Gäste, die sich beschwerten oder wegen des Stromausfalls besorgt waren. Auch gut. Zu Rafe gewandt, sagte sie: »Bleib hier an der Balkontür und geh nicht raus! Ich habe eine Idee.«
»Welche?«
»Chaos verursachen. Eine Strategie, die immer funktioniert.«
Sie lief zur Tür und horchte noch einmal, doch sprachen mindestens ein halbes Dutzend Menschen miteinander, sodass sie die Stimmen von denen der Männer, die sie vor Rafes Tür gehört hatte, nicht unterscheiden konnte. Sie schloss ihre Augen und stellte sich den Flur aus der Perspektive vor, wenn sie in ihr Zimmer gingen. Ihr Zimmer war das dritte vom Ende des Flurs. Links lag der Hauptflur und ganz am Ende die Aufzüge. Rechts befand sich das Treppenhaus. Die schweren Jungs würden wohl davon ausgehen, dass sie die Treppe nahmen, da diese näher zu ihrem Zimmer lag. Hoffte Moira.
Neben dem Treppenhaus befand sich der Feuermelder.
Sie hörte die schrille Stimme einer Frau vor ihrer Tür. »Ich war gerade dabei, mir mein Haar zu föhnen! Wenn ich es nicht föhne, wird es ganz kraus! Kenny, kannst du nicht etwas tun?«
Moira nutzte den Augenblick, um ihre Tür zu öffnen und aus dem Zimmer zu treten. Die Frau zuckte zusammen. »Mensch, müssen Sie einen so erschrecken?«
Die Frau hatte gerade ihren Satz beendet, da öffnete Moira auch schon das kleine Fenster zum Feuermelder und löste den Alarm aus.
Die Alarmglocken schrillten, und eine durchdringende Sirene ertönte über den Gang.
»Was machen Sie denn da?«, fragte die Frau, während Moira wieder in ihr Zimmer zurückging, die Tür verschloss, den Bolzen zurückschob und die Kette vorlegte.
»Lass uns gehen!«, meinte sie zu Rafe. »Und zieh den Kopf ein!«
»Warum hast du das getan?«
»Sag ich dir später. Wir werden vom Balkon springen – er ist nur knapp drei Meter hoch.«
Sollte jemand den Balkon beobachten, wollte sie sich nicht zu früh zeigen. Der Stromausfall war zwar hilfreich, doch die Notbeleuchtung nicht.
»Bei drei!«, erklärte sie.
Sie zählten gemeinsam, schoben die Schiebetür ganz auf und liefen, ohne zu zögern, in die äußerste Ecke des breiten Balkons. Sie sprangen zusammen hinunter und rollten sich ab, um den Sturz abzufedern. Dann standen sie auf und liefen geduckt zu den Bäumen an der nördlichen Seite des Parkplatzes, wo Moira Jareds Wagen geparkt hatte.
Sie hielt mit Rafe Schritt, der noch nicht seine alte Stärke wiedergewonnen hatte, sich aber dennoch schnell genug bewegte. Sie entdeckte den Pick-up unter einer Straßenlaterne und drehte in die Richtung ab, Rafe direkt hinter ihr. Der Feueralarm in der Ferne wurde schwächer, doch hörte Moira keine Sirenen. Sie schaute sich um. Es folgte ihnen zwar niemand, trotzdem traute sie sich nicht, langsamer zu werden.
Sie hatte Rafe nicht gesagt, was sie bei der Unterhaltung des Schlägertrupps im Flur aufgeschnappt hatte, doch musste sie es ihm erzählen, sobald sie genau wüssten, ob er in Gefahr schwebte. Der Schlägertrupp hatte Moiras Namen mit keinem Wort erwähnt, aber der von Rafe war gefallen.
Moira sprintete die letzten dreißig Meter, um den Wagen schon einmal aufzuschließen und anzulassen, bis Rafe sie wieder eingeholt hätte. Als sie auf die Entriegelungstaste des Schlüssels in ihrer Hand drückte und nach der Tür griff, sprang im selben Moment jemand in der nächsten Reihe zwischen zwei Autos hervor. Da Moira sich so darauf konzentriert hatte, ob jemand ihnen folgte, und alles so blitzschnell ging, hatte der Riesenkerl ein paar Sekunden Vorsprung, um nach ihr zu greifen. Er schlug ihren Kopf gegen die Autoscheibe.
Mist! Sie versuchte, den Kopf zu schütteln, um die Sterne loszuwerden, die vor ihren Augen tanzten. Sie war auf sich selbst wütend; ihre Sinne waren nicht so scharf, wie sie hätten sein müssen.
»Ja, wen haben wir denn hier? Das ist ja die kleine Andra Moira!«, gurrte der Mistkerl.
»Nenn mich nicht so!«, fauchte sie und stürzte sich auf ihn. Er zog ein Messer hervor, drehte Moira herum und hielt ihr die Klinge an den Hals.
Er lachte. »Deine Mutter wird sich freuen, dich wiederzusehen, Andra.«
Rafe beobachtete, wie der bullige Schlägertyp nach Moira griff, und lief weiter, als wollte er auf den Angreifer losgehen. Fünf Meter vor Jareds Wagen jedoch stoppte er, da der Mann ein Messer an Moiras Hals hielt. Blut tropfte aus einer Schnittwunde auf ihrer Stirn. Rafes Brust zog sich zusammen, alles um ihn herum verstummte, sein Blick schärfte sich, und er konzentrierte sich auf die direkte Bedrohung für Moira.
»Cooper«, sagte der Angreifer und drückte das Messer gegen Moiras Hals. »Wenn du mit mir kommst, lass ich sie am Leben.« Blut tropfte auf ihre blasse Haut.
»Er lügt.« Moiras Augen waren dunkel vor Angst, ihre Stimme aber fest. »Lauf, mach schon!«
Ihm waren bestimmt schon die anderen auf den Fersen, das wusste Rafe. Vor seinem Zimmer hatten mindestens noch zwei Männer gestanden. Außerdem hatte jemand den Strom im Hotel abgeschaltet. Sie mussten ganz in der Nähe sein. Er hatte weder Zeit, zu fliehen, noch würde er Moira alleinlassen. Sie hatte die Autoschlüssel fallen lassen, als der Angreifer sie gepackt hatte, und Rafe besaß keine Waffe.
Er erwiderte: »Wenn du sie gehen lässt, komme ich mit.«
»Hau ab, Rafe!«, befahl Moira ihm.
»Ich lasse dich nicht allein.«
»Verflucht!« Sie war wütend und versuchte, sich aus dem Arm des Angreifers zu winden.
Rafe schaute demonstrativ links an Moira vorbei und bemerkte, dass sie sein Zeichen verstand, obwohl sie es nie zusammen eingeübt hatten.
Es wäre riskant, da er warten musste. Warten, bis die Verstärkung des Angreifers auftauchte, damit er sie ablenken konnte.
»Fiona hat dich geschickt«, sagte Moira zu dem Angreifer. »Du wirst mich nicht am Leben lassen.«
»Für ein Weilchen schon.«
»Téigh trasna ort féin«, gab Moira zurück. Rafe hatte keine Ahnung, was der Satz bedeutete, doch klang er beleidigend, woraufhin der Schlägertyp seinen Griff verstärkte und sich das Messer tiefer in Moiras Haut grub. Rafe neigte an sich nicht dazu, schnell wütend zu werden, doch als er sah, wie Moira litt und das Blut ihren Hals hinunterlief, stieg Zorn in ihm hoch. Er schluckte das Gefühl hinunter, denn er wusste, dass es ihm nur schaden würde. Nur Ruhe und Konzentration konnten Moira jetzt noch retten.
Rafe sah, wie zwei Männer hinter dem Hotel auftauchten und auf sie zuliefen. Er wandte seinen Kopf, um die Aufmerksamkeit des Angreifers auf sich zu lenken. Als dieser in genau jene Richtung schaute, bewegte sich das Messer nur minimal.
In diesem Moment langte Moira zwischen die Hand des Angreifers und ihren Hals, griff nach dem Handgelenk des Mannes, drehte es und schlug es so heftig gegen das Fahrerhaus des Pick-ups, dass Rafe hörte, wie ein Knochen brach. Sie trat dem widerlichen Typ zwischen die Beine, während Rafe sich die Schlüssel auf dem Boden schnappte. Als er sich wieder aufrichtete, packte er den anderen Arm des Angreifers, zog ihn von dem Pick-up weg und drückte ihn auf den Boden, während Moira das Messer nahm, das der Mann hatte fallen lassen, als sie ihm das Handgelenk gebrochen hatte. Rafe steckte Moira die Schlüssel zu, während sie ihm den Dolch reichte.
Eine Kugel prallte von Jareds Wagen ab.
»Steig ein!«, befahl sie Rafe und öffnete die Tür. »Rutsch rüber!«
Zwei Männer liefen auf sie zu und schossen. Als Moira die Tür zuschlug, schrie sie auf. »Verfluchter Mist!«
Sie verschloss die Türen von innen und ließ gleichzeitig den Motor an. Aus ihren Augen schossen Tränen. Sie schluckte den Schmerz hinunter und jagte von dem Parkplatz.
»Alles in Ordnung?«, fragte Rafe und schaute zurück.
»Ja.«
Er sah auf ihren linken Arm und bemerkte das Loch in der Lederjacke. »Du bist angeschossen worden!«
»Nichts Schlimmes. Tut nur höllisch weh, geht aber schon.«
Sie waren immer noch nicht aus dem Schneider. Er bemerkte, wie ihnen ein Wagen folgte. »Sie verfolgen uns in einer Limousine.«
»Ich muss sie abschütteln. Schnall dich an!«
»Du wirst doch wohl nicht …«
»Tu, was ich dir sage!«
Da schimmert eindeutig Rico Corteses Ausbildung durch, dachte Rafe. Sie klang sogar wie er. Er schnallte sich an. Dabei fiel ihm auf, wie sie zusammenzuckte, als sie ihre linke Hand auf das Lenkrad legte.
Er hielt sich am Türgriff fest, als Moira eine Hundertachtzig-Grad-Wendung hinlegte. Dann fuhr sie geradewegs auf ihre Verfolger los und schaltete das Fernlicht ein.
»Moira …« Rafe fühlte sich wie ausgeliefert, als sie weiter beschleunigte.
Das Kräftemessen war schnell vorüber. Moira zog den Pick-up nach links, womit das Verfolgerfahrzeug nicht gerechnet hatte. Dessen Fahrer riss das Lenkrad zu sehr herum und landete im Straßengraben.
Moira bremste ab. Sie wendete den Wagen wieder und fuhr in der ursprünglichen Richtung weiter.
»Diesen Schachzug hat Rico mir nie beigebracht«, meinte Rafe.
Sie zitterte. »Mir auch nicht. Den habe ich mir gerade selbst ausgedacht«, gestand sie. Sie schaute in den Rückspiegel. Es war niemand mehr hinter ihnen. »Im Improvisieren war ich schon immer ganz gut.«
Sie warf Rafe kurz einen Blick zu, bevor sie sich wieder auf die Straße konzentrierte. »Ich habe mitbekommen, was die Männer draußen vor deinem Zimmer gesagt haben. Fiona will dich lebend. Was hast du, das sie braucht?«
Rafe schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett. »Ich weiß es nicht!«
»Dann sollten wir das besser so schnell wie möglich herausfinden, denn sie wird erst Ruhe geben, wenn sie hat, was sie will.«