NEUN

Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren

DANTE ALIGHIERI

 

 

 

Erst nachdem sie Anthony eine verpasst hatte, begriff Moira, dass die Pferde mit ihr durchgegangen waren, doch hatte sich die Hand auf diesem arroganten Gesicht so gut angefühlt, dass sie sich sogar die ersten fünf Minuten hinter Gittern noch diebisch freute. Zugegeben, in einem fairen Kampf könnte sie Zaccardi kaum außer Gefecht setzen, aber – Fairness hin, Fairness her – das war ihr letzten Endes egal. Sie hatte ihn überrascht und in die Knie gezwungen, und das mit einem Schlag. Rums! Sie wünschte sich, sie hätte ihm auch die Nase gebrochen, doch so viel Glück war ihr dann doch nicht beschieden gewesen. Sie rieb sich die Hand. Rico hatte ihr beigebracht, Schläge so zu platzieren, ohne sich selbst gröber zu verletzen, trotzdem tat ihr die Hand immer noch weh.

Das Gefängnis von Santa Louisa County hatte neben der größeren Ausnüchterungszelle, in der gerade zwei Männer schliefen, noch vier weitere Zellen. Außer ihrer eigenen war lediglich eine zweite belegt, und der Mann darin schlief auch. Obwohl es sauber war und nach Desinfektionsmittel roch, stieg Moira dennoch ab und zu der Geruch von Urin oder Erbrochenem in die Nase.

Ihre Zelle war von drei glatten grauen Betonziegelwänden umgeben und lag dem breiten Gang gegenüber. Ihre Aussicht beschränkte sich auf die engen Stahlgitter und die drei schlafenden Männer.

Nach sechs Minuten im Gefängnis begannen die Wände zu schrumpfen. Moiras Herz raste, während der Boden zu schweben schien. Sie wusste, dass es sich lediglich um eine Panikattacke handelte, trotzdem ließen der Druck in ihrer Brust und der Schweiß nicht nach, der sich auf ihrem Nacken, zwischen ihren Brüsten und auf ihren Händen bildete.

Ref. 3 Sie war nicht das erste Mal im Gefängnis, nur war das damalige nicht so feudal gewesen wie das des Sheriffs von Santa Louisa.

Mit sechzehn Jahren war Moira zum ersten Mal von zu Hause weggelaufen. Töricht und noch unerfahren, wie sie gewesen war, hatte Fiona sie allerdings sehr schnell wiedergefunden. Und bestraft. Sie schickte sie unter die Erde. In den Kerker eines verlassenen Schlosses in Irland. In die Dunkelheit. In die Kälte. In die Feuchtigkeit. An einen Ort, an dem es nach Schimmel und Verwesung stank, nach toten, vor sich hinrottenden Nagetieren. Moira hörte die an ihr vorbeihuschenden Ratten oben auf den Balken, in den Ecken ihrer Zelle und davor. Es hätte das siebzehnte genauso gut wie das einundzwanzigste Jahrhundert sein können.

Fiona hatte Moira eine Woche dort schmoren lassen. Allein. Mit Essen und Wasser, das gerade einmal reichte, um zu überleben. Sie schickte Ungeheuer in Moiras Träume, die so real waren, dass sie nicht wusste, ob sie Albträume hatte oder die Wirklichkeit erlebte. Moira hatte Wahnvorstellungen und zerbrach beinahe daran. Beinahe. Hätte es nicht ganz tief in ihrem Herzen diesen Hass gegeben, diesen Hass auf Fiona, der sie am Leben hielt und weiteratmen ließ. Zurück in der Freiheit spielte sie Fionas Spiel monatelang mit. Dann lief sie wieder fort, und diesmal brauchte Fiona fast fünf Jahre, um sie aufzuspüren.

Moira atmete durch und starrte auf drei vergitterte Fenster in der Wand am Ende ihrer Zelle. Sie reckte ihren Kopf und schaute sehnsüchtig in den dunklen, wolkenverhangenen Himmel. Es war fast Vollmond. Sie musste sich zusammenreißen. Sie befand sich weder unter der Erde noch in einem Verlies, und Fiona wusste auch nicht, dass sie hier war. Sie konzentrierte sich auf den roten Planeten, der durch eine winzige Öffnung in den Wolken hervorlugte. Wie hell der Mars heute Nacht leuchtete! Er tauchte vor ihr auf und verschwand wieder, während die Wolken weiterzogen und die Erde sich weiterdrehte. Moira stellte sich vor, draußen zu sein, auf einem offenen Feld, unter einem Sternenhimmel, der Körper frei, die Seele ruhig. Keine Sorgen, kein Schmerz des Bedauerns, keine quälenden Erinnerungen.

Seit ihrer Panikattacke waren erst zehn Minuten vergangen, doch kamen sie ihr vor wie Stunden. Die Angst ließ zwar nach, trotzdem fühlte sie sich aufgekratzt … als würde sie beobachtet werden. Die Anspannung blieb, denn sie wusste, die Panik davor, gefangen zu sein, brodelte weiter unter der Oberfläche und wartete nur auf einen Grund, um wieder auszubrechen.

Der Polizeibeamte, der Moira abgeführt hatte, war zwar weggegangen, doch musste er in der Nähe sein, oder etwa nicht? Sie würden sie ja wohl nicht in eine Zelle sperren, ohne sie sehen oder hören zu können. Sie rief: »He! Kommen Sie, lassen Sie mich raus! Bitte! Holen Sie den Sheriff …« Wie hieß sie noch mal? »Skye! Sind Sie da?«

»Das Gericht macht morgen früh um neun auf«, sagte der Mann, der allein in einer Zelle auf der anderen Seite des Ganges saß. »Halt den Mund, sonst weckst du auch noch die beiden anderen Jungs auf, und die fangen am Ende noch an, ihren Fusel rauszukotzen, und wir müssen den Gestank stundenlang ertragen.«

Moira hatte keine Lust auf irgendein Gespräch. Also überlegte sie, wie sie Anthony das hier heimzahlen könnte. Ja, genau, sie würde ihm einfach noch einmal eine verpassen – allerdings ohne dass seine Freundin, die Polizistin, es mitbekam.

»Für eine Nutte bist du zu hübsch und ist dein Gesicht zu frisch«, meinte der Gefangene. »Betrunken siehst du auch nicht aus. Drogen?«

Sie antwortete nicht.

»Jetzt komm schon, Kleine, red mit mir! Ich beiß nicht, außer du stehst da drauf.« Er lachte über seinen eigenen blöden Witz.

Moira starrte ihn wütend an und kehrte ihm den Rücken zu.

»Schlampe!«, murmelte er. »Hoffentlich musst du in den Knast! Die Lesben werden dir deine Attitüden schon noch austreiben!«

So weit ließe es Anthony ja wohl nicht kommen. Oder? Er würde sie ja wohl nicht für Jahre ins Gefängnis schicken, oder doch? Nein, das könnte er nicht! Pater Philip würde sie schon hier herausholen. Und dann würde sie als Allererstes Rico anrufen. Der würde sie mit seinem Privatflugzeug abholen. Nie und nimmer würde er sie im Gefängnis lassen! Und Anthony würde er die Abreibung seines Lebens erteilen. Sie hoffte, dabei zusehen zu können. Keiner kämpfte besser – gemeiner oder schmutziger  – als Rico.

Die Tür vom Revier ging auf. Endlich!

Moira wollte gerade wieder über Sheriff Skye McPherson loswettern, biss sich dann aber doch auf die Zunge.

Es war nicht der Sheriff, der hereingekommen war. Noch bevor sie die Frau sah, wusste sie, wer es war.

Fiona.

Ein exotischer, verführerischer Duft – Lavendel, Orchideen und eine kräftige Meeresbrise – schwebte auf einem schweren moschusartigen Grundaroma herein. Einzigartig, bezaubernd, tödlich.

Moira lehnte sich stumm gegen die Wand, die am nächsten zur Tür lag und somit nicht im direkten Blickfeld von Fiona – nicht dass dies eine große Rolle gespielt hätte. Fiona wusste, dass sie da war; ansonsten wäre sie nicht gekommen und hätte sich der Gefahr ausgesetzt, entdeckt zu werden. Moira aber brauchte eine Minute, ein paar Sekunden, um sich darauf einzustellen, ihre Mutter nach sieben Jahren wiederzusehen. Damals, nach dem Tod von Peter, hatte sie sie mit den neuesten Informationen versorgt, ohne es zu wissen. Rico hatte sein Leben riskiert, um sie zu retten. Sie hatte es nicht verdient gehabt, gerettet zu werden.

Drei Gefühle wüteten in ihr: Schmerz, Wut und Angst. Fiona lenkte schon seit Jahren dunkle Mächte und war, seit sie vor sieben Jahren einen Dämon heraufbeschworen und er auf ihren Befehl hin von Moira Besitz genommen hatte, noch mächtiger geworden. Sie könnte Moira einfach umbringen, ohne dafür eine von Menschenhand gefertigte Waffe benutzen zu müssen. Und Moira könnte sich nicht einmal wehren. Selbst wenn sie ihre Fähigkeiten weiter vervollkommnet hätte, könnte sie im Kampf gegen Fiona keine Magie anwenden, ohne dabei ihr Versprechen gegenüber Pater Philip zu brechen. Eher würde sie sterben, als das zu tun. Selbst wenn hinter Zauberei gute Absichten standen, tötete sie doch, denn sie stammte von der gleichen durch und durch bösen Quelle ab, wie alle anderen Arten der Magie.

Magie hatte Peter getötet. Hatte Moira fast selbst umgebracht. Und jetzt – sowohl in der Zelle als auch in ihren eigenen Moralvorstellungen gefangen – würde sie vor Morgengrauen tot sein.

»Ja, wen haben wir denn hier? Hal-lo, du heiße Braut!« Der betrunkene Gefangene richtete sich von seiner Pritsche auf und taxierte Fiona mit seinem Blick.

Sowohl Fiona als auch Moira beachteten ihn nicht. Moira hatte zwar keine Ahnung, wie Fiona sie hatte finden können und woher sie wusste, dass sie sich in der Stadt aufhielt und gerade im Gefängnis saß, doch war ihr sonnenklar, warum sie gekommen war. Als Rico und Pater Philip ihr vor sieben Jahren das Leben gerettet hatten, hatten Fionas Worte zum Abschied gelautet:

»Verflucht seiest du, meine erstgeborene Tochter! Ich werde dich finden. Ich werde dich jagen und vernichten. Ich werde deine Seele auswringen, bis sie trocken ist und du mich um Gnade bittest, die ich nicht für dich übrig habe.«

Anthony konnte Fiona nicht verraten haben, dass Moira im Gefängnis war. Wäre er Fiona begegnet, hätte er sie selbst gejagt. Außerdem glaubte er, Moira würde immer noch gemeinsame Sache mit ihrer Mutter oder einem anderen Hexenzirkel machen. Aber Sheriff Skye McPherson – gehörte sie vielleicht dem Hexenzirkel an? Hexenzirkel umgaben sich gern mit Menschen, die gesellschaftlich wichtige Stellungen einnahmen. Polizisten, Lehrer, Minister. Jeder, der Autorität und Vertrauen besaß.

Natürlich war da noch Jared, der sich aufgemacht hatte, seine Freundin zu finden, kurz bevor die Polizei aufgetaucht war. Könnte er Fiona die Information zugesteckt haben? Vielleicht verbarg sich hinter seiner ursprünglichen Absicht, Moira zu den Klippen zu fahren, der Plan, sie in eine Falle zu locken. Doch dann lief etwas schief, und der Hexenzirkel musste sich auflösen.

»Cead inion.« Erstgeborene Tochter. Für manche hörte sich diese Bezeichnung vielleicht liebevoll an, doch Moira wusste, was sich dahinter verbarg. Für Fiona bedeutete es, dass sie ihr Besitz war.

»Cailleach.«

Fiona lächelte angesichts der Beleidigung – Moira wusste nicht, was sie mehr kränkte, das »alt« oder die »Hexe«. Hinter Fionas roten, glänzenden Lippen kamen so weiße Zähne zum Vorschein, dass sie falsch schienen. Manche hätten ihr Lächeln vielleicht als einladend bezeichnet, doch Moira wusste, was sich dahinter verbarg. Sie war ein Hai, der seine Beute umkreiste.

Moira hatte die gleichen funkelnden dunkelblauen Augen wie Fiona. Deren dickes, welliges, unsagbar langes Haar schimmerte rotgolden. Auch Moiras Haar war gelockt, doch band sie ihre schwarze Mähne zusammen oder flocht sie, sodass sie sie nicht störte. Fionas Haut war glatt und makellos, durch ihre hohen Wangenknochen wirkte sie aristokratisch. Ihre Mutter war schon immer eine schöne Frau mit dem Hang zum Dramatischen gewesen. Sie hatte sich nicht verändert. Sie hatte sich seit ihrer letzten Begegnung äußerlich überhaupt nicht verändert. Fiona war achtundvierzig. Sie sah … jünger aus. Einfach umwerfend. Vielleicht wie achtundzwanzig, aber nicht wie achtundvierzig.

»Andra Moira.« Fiona nannte sie bei ihrem vollen Namen, rollte das »r« dabei und sprach in dem typisch singenden irischen Tonfall. An-drah Mor-rah. Wie sie das hasste! Sie mochte es lieber, wenn ihr Name falsch ausgesprochen wurde, mit drei statt zwei Silben, so wie jeder andere auf der Welt es tat, und weigerte sich, ihren ersten Namen, Andra, zu benutzen, da sie dessen Ursprung kannte und wusste, warum man sie so genannt hatte. Andra war eine antike Göttin gewesen, die in ihrem Leben großen Gefallen an Blut und menschlichen Opfern gefunden hatte …

Moira starrte Fiona gespannt und aufmerksam an und wünschte sich, Skye McPherson würde ihren Hintern zu ihr in die Zelle bewegen. Wie war Fiona nur hereingekommen? Hatte sie jemanden umgebracht?

»Du bist schwach«, meinte Fiona und ging in die Mitte des Gefängnisganges. Erschüttert und verächtlich starrte sie Moira an. »Du hast nicht geübt. Wie erbärmlich!«

Sie hörte sich enttäuscht an, als ob sie sich eine Art übernatürlichen Kampf zwischen ihnen beiden gewünscht hätte. Doch Moira hatte ihre Lektion gelernt und auf schmerzliche Weise erfahren, dass alle übernatürlichen Kräfte von der falschen Seite stammten und wenn man sich ihrer bediente, es später nur bereute.

»Ich weiß, was du auf den Klippen gemacht hast«, offenbarte sie. »Und ich weiß auch, was du gerade im Schilde führst.«

»Das kann dein kleiner Verstand gar nicht begreifen.« Fionas Augen leuchteten vor Aufregung. Ob das daran lag, dass sie Moira in einer Zelle sah, oder ob ihre eigenen Pläne sie erregten, wusste Moira nicht. Wahrscheinlich lag es an beidem. »Du kannst froh sein, dass ich nicht nachtragend bin.«

»Klar, genauso wenig nachtragend wie der Teufel!«, erwiderte Moira schnippisch. »Ach ja, stimmt, ihr seid ja die besten Freunde!«

Fionas Hals spannte sich an und offenbarte zarte Knochen unter ihrer makellosen Haut. »Du solltest deinem Vater gegenüber mehr Respekt zeigen.«

»Blödsinn!« Ein Gefühl der Kälte durchzuckte Moira und ließ ihren Bauch so hart wie Stein werden. Panik stieg in ihr hoch, doch sie stand ganz still da. Moira hatte ihren Vater nie kennengelernt. Sie wusste lediglich, dass ihre Mutter ihm nach dem gemeinsamen Akt den Hals aufgeschlitzt hatte. Moiras Tapferkeit war nur gespielt, und ihr war klar, dass, wenn Fiona ihre Angst riechen könnte, sie dies zum Anlass nehmen würde, sich auf sie zu stürzen. Sie bekreuzigte sich, aber nicht, um ihren Glauben kundzutun, sondern eher, um ihre Mutter zu provozieren.

Fiona murmelte einen Zauber, der gegen Moira gerichtet war, schleuderte ihn jedoch in letzter Sekunde mit einer schnellen Bewegung ihres Handgelenks in Richtung der Zelle der Betrunkenen. Moira konnte den grauen Rauch fast sehen, obwohl sie wusste, dass er physisch nicht existierte, sondern nur eine Illusion darstellte.

Die Betrunkenen stöhnten in ihrem Vollrausch auf, der Albtraum, den Fiona ihnen geschickt hatte, nahm von ihren Gedanken Besitz.

Sie ging den Gang auf und ab. Das samtige blaue Kleid flatterte und hinterließ den Eindruck, als würde sie schweben. Der Mann in der Zelle ganz außen tat klug daran zu schweigen.

»Was hast du mit den Wachen gemacht?«, fragte Moira.

»Sie schlafen.«

Fiona blieb genau in der Mitte vor Moiras Zelle stehen. »Andra Moira, du hast die Wahl.« Sie hob theatralisch ihre linke Hand, und ihr Schmuck funkelte in dem künstlichen Licht. »Entweder lasse ich dich hier heraus, und du kommst mit mir und nimmst die vor deiner Zeugung bereits beschlossene Aufgabe wahr, die darin besteht, dich als erste, aus einem jungfräulichen Leib geborene Tochter zu opfern, um Göttin der Unterwelt zu werden. Ein ziemlich hoher Rang, dafür, dass du nichts weiter als die Geburt über dich ergehen lassen musstest. Du gehörst zu den Auserwählten, so wie ich zu den Auserwählten gehöre. Ich habe meinen Körper den Göttern geweiht, damit du existieren kannst.«

»Oder«, und sie winkte mit ihrer rechten Hand, als würde sie eine Fliege totschlagen, »du stirbst jetzt, und ich werde dir deine Seele aus dem Körper reißen und sie in die Hölle schicken, wo sie für immer und ewig gequält wird. Denn sie, die Leben gibt, kann Leben auch wieder nehmen.«

Fiona hielt ihre Hände nach oben, als würde sie ein Friedensangebot unterbreiten. Moira starrte sie an und spürte, wie sich ein unausgesprochener Zauber aufbaute. Zwei Welten lagen in den Händen ihrer Mutter; sowohl die eine als auch die andere bestand aus Feuer, doch in der zweiten sah sie sich selbst, ihr Gesicht bis auf die Knochen geschmolzen, ihre Knochen in Asche verwandelt.

Ein weiteres Trugbild. Moira zwang ihren Verstand dazu, nur die Wirklichkeit wahrzunehmen und sich gegen die Telepathie zu wehren, die ihre Mutter anwandte, um Bilder in ihre Gedanken zu schicken.

Sie blinzelte. Es funktionierte. Sie erblickte nur ihre Mutter. Ricos Ausbildung bewährte sich.

»Der freie Wille besiegt die Zauberei. Benutze deinen Verstand, deine Gedanken, deinen kämpferischen freien Willen. Wende dich nicht den äußeren Kräften zu, sondern der dir von Gott verliehenen Stärke.«

Ein verärgerter, finsterer Ausdruck zeigte sich in Fionas Augen, und sie ließ ihre Hände sinken.

»Du hast die sieben Todsünden aus der Hölle befreit«, sagte Moira, gestärkt von ihrem kleinen Erfolg. »Es gibt keinen Grund …«

»Ich habe sie nicht befreit! Sie sollten mir gehören. Es war so, dass …« Sie hielt inne, richtete sich auf und starrte Moira wütend an. »Entscheide dich – jetzt! Entweder kommst du mit mir, oder du stirbst.«

Sie sollten mir gehören. Fiona tat nichts ohne Grund, doch Moira hatte noch nicht einmal den Hauch einer Idee, warum Fiona die Sieben für sich beanspruchen oder behalten wollte.

Moiras Worte waren eindeutig: »Ich gehöre nicht dir. Ich weigere mich, für irgendeinen deiner Dämonen geopfert zu werden. Bitte schön, leg los und versuche, mich in die Hölle zu schicken! Solltest du es schaffen, sei dir über eins im Klaren: Ich weiß, wie ich wieder zurückkommen kann, und dann werde ich all deine Pläne zunichtemachen!«

Fiona lachte.

»Du Närrin!«, schnaubte sie und lachte laut dabei auf. »Du weißt gar nichts! Diese erbärmlichen Männer auf dieser lächerlichen Insel haben keine Ahnung, welche Macht sie hätten haben können. Die Mauer, die die beiden Welten voneinander trennt, ist so dünn und steht kurz davor, in sich zusammenzufallen. Zwischen dem Hier und Jetzt, der Unterwelt und der Zeit bilde ich das schwächste Glied, wo die Membran zwischen den Menschen und dem übernatürlichen Universum am dünnsten ist. Du wirst mich nie besiegen!«

Sie sprach einen Zauber in Latein, den Moira noch nie vorher gehört hatte. Die Worte schienen wie durch einen an ihr vorbeirasenden Tunnel auf sie zuzuschießen. Moiras Sicht verdunkelte sich. Sie streckte ihre Hände aus und schrie, doch kam kein Ton über ihre Lippen. Sie fiel immer tiefer und tiefer in die Welt ihrer Gedanken hinein.

Das ist nicht wirklich, das ist nicht wirklich, das ist nicht wirklich!

Sie lag nackt auf einem Bett aus Federn, das Sonnenlicht strömte durch die hohen Fenster ihres Zufluchtsortes, der sich im Osten auf der bei Sizilien liegenden Insel befand. Es war ihr kleines Häuschen, dort, wo die Priester sie versteckt hatten, während sie, Peter und die anderen versuchten, eine Möglichkeit zu finden, sie zu retten und Fiona zu besiegen.

Peter kam zu ihr. Er sah umwerfend aus mit seinem olivfarbenen Teint, der breiten Brust, dem langen, von der Sonne beschienenen braunen Haar. Sie waren verliebt, hatten aber monatelang gegen ihre Gefühle gekämpft, da sie wussten, wenn sie ihrem Verlangen nachgäben, würden sie gegen alles, was Peter lieb und teuer war, verstoßen.

»Dich zu lieben ist nicht falsch«, sagte Peter zu ihr, als er zu ihr ins Bett stieg. »Dich zu lieben ist der Himmel auf Erden.«

Sie spürte seine Hände, seine Lippen und seinen Atem an ihrem Hals. Er war so zärtlich, aber dennoch bestimmt, so selbstsicher, aber dennoch schüchtern. Beide trugen den Konflikt in sich. Die Schuld kämpfte gegen das Verlangen, das Vergnügen gegen die Pflicht. Er strich über ihre Brüste, ihren Bauch; seine Hände fuhren zwischen ihre Beine, dann glitt er in sie hinein, füllte sie aus, liebte sie …

»Mich zu lieben ist tödlich.« Sie griff mit ihren Händen nach seinem Nacken und drückte ihn an sich. »Du hast es dir selbst zuzuschreiben, dass du in Ungnade fällst. Du wirst in der Hölle verbrennen!«

Nein, das ist so nie passiert! Doch Moira konnte das Bild aus ihren Gedanken nicht verdrängen. Sie versuchte, dagegen anzukämpfen, und hörte währenddessen entferntes Gelächter. Ihre Mutter.

Sieh ihn dir jetzt an, sieh ihn dir jetzt an, sieh ihn dir jetzt an!

Plötzlich war sie im freien Fall und schwebte, als ob sie eine außerkörperliche Erfahrung hätte. Sie sah Peter.

Peter! Mein Liebster, ich vermisse dich, ich liebe dich, es tut mir so leid …

Er war mitten auf einer irischen Wiese, die sich auf dem Grashügel gleich neben dem Häuschen ihrer Großmutter befand. Sie wollte zu ihm laufen, zu ihm fliegen, aber sie war gefangen. Unsichtbare Hände hielten sie zurück. Die Wiese verwandelte sich in ein Feuer. Peter stand auf einer Insel, um ihn herum Lava. Flammen schlugen an seinem Rücken hoch, hinterließen rote Striemen. Sie sah das Bild immer und immer wieder …

»Du Miststück!«

Moira entzog sich dem Bann …

… benutze deinen Verstand, sieh nach innen …

… sagte Rico zu ihr. Konzentrier dich, konzentrier dich, konzentrier dich! Sie baute eine Mauer um ihre Gedanken, so wie eine Raupe einen Kokon um sich spinnt, und wehrte sich, so gut sie konnte.

Dein Wille ist mächtig, konzentrier dich!

Das Lachen erschallte lauter. »Armes Mädchen!«, vernahm sie Fiona spöttisch.

Eine unsichtbare Kraft drückte Moira gegen die hintere Wand. Ihr wurde brutal die Luft aus dem Körper gezogen, und sie konnte nicht mehr atmen. Sie erstickte. Sie würde, ohne ein Anzeichen von Gewalt, in dieser Zelle sterben. Und so Fiona einen Sieg bescheren. Ihre Mutter würde sich der sieben Todsünden bemächtigen und ihren wie auch immer gearteten Plan vollenden.

Fiona ließ von ihr ab. Moira fiel auf den Zementboden und rang nach Luft. Sie hatte nichts, womit sie sich schützen konnte. Der Sheriff hatte ihr die Messer, das Kreuz, das Weihwasser, das Medaillon und die Medaille, die sie, wie Rico sie ermahnt hatte, nie ablegen durfte, weggenommen und beschlagnahmt.

»Du wurdest auserwählt und hast das größte Geschenk des Universums abgelehnt!«, schimpfte Fiona. »Du hast mir Schaden zugefügt. Aber ich habe um das, was mir gehörte, gekämpft und bin stärker als je zuvor. Mächtiger als du oder irgendein anderer deinesgleichen!«

Moiras Kopf schmerzte, und sie wehrte sich mit ihren Gedanken gegen Fiona, kämpfte gegen die Bilder, die sie in sie hineinprojizieren wollte. Ihr Schädel fühlte sich an, als würde er gleich platzen.

Sie spürte etwas Nasses und Klebriges auf dem Boden, tastete nach ihrem Gesicht und stellte fest, dass sie blutete. Es lief aus ihrer Nase wie ein Wasserfall. Sie würde verbluten. Hier und jetzt. Es würde nach einer natürlichen Ursache aussehen. Einem dummen Zufall. Niemand würde dem Gefangenen aus der Zelle hinten glauben, dass eine wunderschöne Frau Moira umgebracht hat, ohne sie auch nur zu berühren.

»Ich wünschte, ich hätte etwas Zeit, um mit dir zu spielen, fealltóir, aber es wartet noch Arbeit auf mich.«

Moira schaute vom Boden hoch, auf dem sie blutend lag.

Ihre Mutter klang verärgert, und über ihrer Augenbraue bildeten sich Falten, die Enttäuschung ausdrückten.

»Und ich will sie richtig machen«, murmelte Fiona und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Moira zu. Sie trat so nah wie möglich an die Gitterstäbe heran, ohne sie dabei zu berühren, und lächelte.

Fionas Lippen bewegten sich, doch Moira konnte weder hören, was sie sagte, noch von ihren Lippen ablesen. Ihre Lungen wurden schwer, als ob sie sich mit Wasser füllten, und sie hatte das Gefühl zu ertrinken. Sie konnte nicht atmen. Sie griff nach ihrem Hals, das Gefühl des Erstickens war so wirklich – plötzlich hustete sie Wasser, zuerst etwa eine halbe Tasse, dann noch mehr.

Fiona beobachtete sie. »Wie schön wäre es doch, das ein oder andere an dir auszuprobieren, aber ich habe keine Zeit. Doch werde ich dich noch an etwas teilhaben lassen, bevor du stirbst. Etwas, das du mitnehmen kannst.«

Moira schrie auf, als wäre ein Messer durch ihren Kopf gestoßen worden. Der Schmerz war so entsetzlich, dass sie zu Gott betete, sie sofort sterben zu lassen. Das unsichtbare Messer drehte und drehte sich in ihrem Schädel, der vor Höllenqualen pochte. Ihre Augen fielen zurück in ihren Kopf, und sie rollte sich zusammen wie ein Embryo. Sie wollte ihren Kopf auf den Zementboden schlagen, denn alles andere würde sich besser anfühlen als das hier.

Sie versuchte es, doch ihr Wille wollte ihr nicht gehorchen, um den Schmerz zu bremsen, das Unausweichliche aufzuhalten. Fiona war zu stark, zu mächtig. Rico hatte sich geirrt. Moiras Wille war viel zu schwach, um gegen sie zu kämpfen. Sie hatte ihm schon vorher gesagt, Fiona nicht ohne Zauberei besiegen zu können, und ihre Vermutung erwies sich nun als richtig. Ihr Wille … nutzlos.

Eine plötzliche Bilderflut schoss durch Moiras Kopf. Nackte Frauen, Jungfrauen, alle brutal und blutig geopfert. Tot, weil Moira vor ihrem Schicksal, Göttin der Unterwelt, Verbindungsglied zu den Zauberern, Mittlerin zu sein, geflohen und weggelaufen war.

Sie wimmerte, unfähig zu sprechen. Fiona fragte: »Weißt du, wie viele statt dir sterben mussten? Elf. Für jeden Monat, den ich dich in dem Jahr, als du dich vor mir versteckt hieltest, nicht finden konnte, eine. Das alles hast du diesen Menschen angetan. Und der Priester war das Sahnehäubchen obendrauf.« Sie lachte, doch es war kein vergnügtes, sondern ein eisiges Lachen. Moira versuchte in die Ecke zu kriechen, so weit weg von Fiona, wie sie konnte, doch der Schmerz blieb. Sie war im Begriff zu sterben. Sie konnte sich nicht mehr als ein paar qualvolle Zentimeter bewegen. Und immer noch tropfte Blut aus ihrer Nase. Sie schluckte es herunter, schmeckte seine süße metallische Note in ihrem Mund.

Der Priester war das Sahnehäubchen obendrauf. Peter. Lieber Gott, wie konntest du das nur geschehen lassen? Wie konntest du zulassen, dass Fiona anderen so viel Leid zufügt?

Fiona fuhr fort: »Ich wünschte, ich hätte diese Opfer damals mit dir teilen können, aber das Einzige, was du kannst, ist weglaufen und dich verstecken. Und genau dort, in deinem Versteck, wärst du mal besser geblieben, Andra Moira, denn du bist unfähig und schwach. Du wirst mich nie besiegen!«

Moiras Körper erhob sich vom Boden und schwebte mitten in der Luft, bevor Fiona sie mit ihrer telekinetischen Zauberei quer durch die Zelle gegen die Wand schleuderte, an der eine unsichtbare Kraft sie festhielt. Durch all das Blut in ihrem Mund und ihrer Nase begann Moira Hebräisch zu sprechen. Schwach, schwächer, am schwächsten … Sie war die Schwächste. Sie schwand allmählich aus dem Leben, ihr Geist löste sich auf, wurde schwarz, dann weiß und wieder schwarz.

Moira konnte nicht viel Hebräisch, doch erinnerte sie sich an ein schützendes Gebet, das Peter ihr beigebracht hatte, um ihre Seele vor Fiona zu verstecken. Mit all ihrer Kraft rief sie sich die Worte in Erinnerung und wiederholte sie immer und immer wieder. Sie wusste, sie würde sterben, aber sie durfte ihre Seele nicht verlieren. Ihre Mutter würde Moira und jene, die ihr am Herzen lagen, bis in alle Ewigkeit quälen.

»Dein erbärmlicher Versuch, mich zu bekämpfen, wird scheitern«, verkündete Fiona, und der Schmerz in Moiras Kopf explodierte, sodass sie sich nicht einmal mehr an ihren Namen erinnern konnte, geschweige denn an ein altes jüdisches Gebet.

Plötzlich hörte der Schmerz auf, und Moira lag in einer Lache von Blut. Sie glaubte, tot zu sein, doch dann kehrte der Schmerz zurück – pochend, stechend, quälend, aber nicht so unerträglich wie vorher. Er war auszuhalten.

Fiona sprach in ihr Handy. »Ich brauche noch ein paar Minuten.« Sie starrte Moira finster an.

»Es scheint, als würde dir eine vorübergehende Gnadenfrist gewährt werden, a chailín mo chroí«, sagte sie mit sarkastischem Unterton. »Aber ich werde dich nicht vergessen. Um mit den Worten aus einem kleinen Buch zu sprechen, das du vielleicht kennst: ›Darum wachet! Denn ihr wisset weder Tag noch Stunde.‹«

»Ich werde dich töten«, flüsterte Moira und versuchte dabei aufzustehen, was ihr jedoch nicht gelang. »Ich werde den Schaden, den du anderen zugefügt hast, ungeschehen machen!«

Fiona flüsterte so leise, dass Moira sie kaum hören konnte: »Erinnere du dich besser daran, welchen Schaden du angerichtet hast!«

Fluchend verließ Fiona das Gefängnis auf die gleiche Weise, wie sie hereingekommen war: lautlos.