VIERZEHN

Noch bevor der Sheriff zu Beginn der Mittagspause an der Santa Louisa Highschool zu den Schülern sprach, wussten sie alle von Abbys Tod auf den Klippen. Und jeder von ihnen hatte eine Theorie parat. Einige der Gerüchte entsprachen der Wahrheit  – wie zum Beispiel, dass Abby nackt gewesen war. Andere wiederum nicht – nämlich, sie hätte sich selbst umgebracht. Doch Chris Kidd, der hinten in der letzten Reihe der Aula saß und mit seiner Hand über seinen schmerzenden Nacken fuhr, wusste wirklich, was passiert war, zumindest zum Teil.

Ari Blair, seine Freundin, hatte mit ihm darüber gesprochen.

Er hatte sich ihre Geschichte mit gemischten Gefühlen angehört, doch hatte er sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass sie sich nicht wirklich daran erinnern konnte, was passiert war. Als sie mit ihm zwischen der ersten und zweiten Stunde vor seinem Spind gesprochen hatte, war sie seinen Fragen ausgewichen, und er hatte das Gefühl gehabt, sie würde ihn belügen. Sie behauptete, nicht betrunken gewesen zu sein, als es geschehen war, dass es aber möglich wäre, dass man ihr Drogen verabreicht hatte. Dann meinte sie noch, etwas »Jenseitiges« wäre passiert, und da dachte Chris nur noch, nun würde sie völlig durchdrehen. Er wollte nicht, dass Ari in irgendwelche Schwierigkeiten geriet – sie war die klassische Einserkandidatin und hatte von drei erstklassigen Universitäten einen Studienplatz angeboten bekommen. Er hatte ihr empfohlen, zur Polizei zu gehen, das wäre das einzig Richtige, woraufhin sie ihn küsste und in die Klasse lief. Chris war mit dem eigenartigen Gefühl zurückgeblieben, irgendwie von ihr abgekappt zu sein, und er sorgte sich um sie.

Der Direktor ging auf die Bühne und bat um Ruhe. Chris, immer noch besorgt um seine Freundin, lauschte den Worten von Mr. Lawrence und hoffte, die Polizei hätte Antworten, die mit Ari nichts zu tun hatten.

»Ich bin sicher, ihr alle wisst, dass Abigail Weatherby letzte Nacht auf den Klippen bei Cypress Point gestorben ist. Es kursieren viele Gerüchte, und Sheriff McPherson ist hier, um ihnen ein Ende zu bereiten und deshalb mit der Schülerschaft zu sprechen.

Wenn jemand über dieses Unglück reden möchte, kann er dies mit den psychologischen Betreuern tun, die beim Mittagessen, nach der Schule und auch morgen noch den ganzen Tag hier sein werden. Sicherlich werden viele von euch Abby schmerzlich vermissen.«

Der blonde Sheriff betrat entschlossen die Bühne, dankte dem Direktor und stellte sich auf das Podium. Chris hatte vergessen, dass der Sheriff eine Frau war, und sie sah für eine Polizistin zu jung und zu scharf aus.

»Danke«, sagte sie fahrig und außer Atem. »Ich bin Sheriff Skye McPherson. Ich habe vor dreizehn Jahren meinen Abschluss hier an der Santa Louisa Highschool gemacht und kann mir deshalb gut vorstellen, dass ihr euch jetzt gerade fragt, was zum Teufel hier denn bloß los ist. Ich werde euch erzählen, was ich weiß, und bitte euch um eure Hilfe.

Die näheren Umstände zu Abbys Tod sind noch nicht geklärt. Der örtliche Gerichtsmediziner und meine Dienststelle tragen gerade die Beweise zusammen, die hoffentlich zur Wahrheit führen werden, die sowohl die Gemeinde als auch Abbys Eltern verdienen.« Sie schaute mit ernstem Gesicht in die Runde.

»Abbys Leiche wurde letzte Nacht auf den Klippen außerhalb der Stadt entdeckt. Wir fanden am Tatort Spuren vor, die darauf hinweisen, dass sich kurz vor oder bis zu ihrem Tod mehr als eine Person dort befand. Wir wissen, dass dies auch ein beliebter Treffpunkt von euch ist. Woher wir das wissen? Nun, die meisten Beamten meiner Dienststelle stammen ebenfalls von hier, und mir wurde gesagt, dass die Klippen ein beliebter Platz zum Rumknutschen sind.«

Hier und da wurde gekichert und nervös gelacht, doch der Sheriff lächelte nicht.

»Wir können zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht endgültig sagen, ob es sich bei Abbys Tod um einen Unfall oder um ein Verbrechen handelt.« Sie ließ die Worte auf ihre Zuhörer wirken, und erneut brandete Gemurmel auf.

McPherson fuhr fort: »Vielleicht war Abbys Tod ein Unfall  – verursacht durch eine Überdosis oder einen Sturz – oder hatte eine natürliche Ursache wie ein Aneurysma. Ich kann mir vorstellen, wie schlimm es sein muss, Zeuge eines Unfalltods zu sein und nicht zu wissen, was man tun soll. Da kann es schon mal vorkommen, dass man etwas Falsches macht und nachher nicht weiß, wie man da wieder rauskommt.«

Skye sah sich vorsichtig in der Runde um.

Ihre Nervosität war verflogen, ihre Stimme klang kraftvoll und sicher. »Ich will wissen, was Abby Weatherby letzte Nacht zugestoßen ist. Ich will die Wahrheit wissen! Und eins weiß ich ganz genau: Zumindest einer von euch war letzte Nacht bei Abby.«

Sie hielt wieder inne, unterbrach aber das Gemurmel durch eine entschieden vorgetragene Mitteilung: »Jeder Lehrer hat von mir einen Stoß Visitenkarten bekommen, die in der Schule verteilt ausliegen werden. Ihr könnt mich Tag und Nacht anrufen. Ich werde mich mit euch treffen und reden und unser Gespräch so weit wie möglich vertraulich behandeln. Sollte einer von euch etwas anderes gesehen haben als einen Unfall, kann und werde ich denjenigen beschützen.

Ich muss die Wahrheit herausfinden, denn das verdienen Abby und ihre Eltern!«

Der Sheriff ging von der Bühne, und Chris schaute sich zu Ari um. Sie befand sich auf der anderen Seite der Aula.

Er und Ari waren seit fast zwei Jahren zusammen. Er wusste zwar nicht, ob er sie liebte, doch konnte er den Gedanken, sie mit einem anderen Jungen ausgehen zu sehen, nicht ertragen. Und das wollten sie alle. Sie sah mit ihrem blonden Haar, den blauen Augen und großen Brüsten aber auch umwerfend aus! Und in ihrer Cheerleader-Uniform richtig scharf. Er liebte es, ihr von der Bank aus zuzusehen oder ihr den kurzen, knappen Rock auf der Ladefläche seines Pick-ups auszuziehen.

Andere Jungs wollten das auch – so wie sein bester Freund Travis. Sprach der nicht gerade mit ihr? Chris ging hinüber, musste sich aber erst seinen Weg durch die vielen Schüler bahnen, sodass Ari schon weg war, als er ankam.

Sein Kopf pochte, und er kniff die Augen zusammen, die ihm das Bild von Travis vorgaukelten, wie er Ari vögelte. Es fiel Chris schwer, dieses Bild wieder loszuwerden. Travis würde ihm so etwas nicht antun. Und Ari auch nicht. Wie kam er bloß auf solche Gedanken?

Er verließ die Aula; der feuchte Nebel und der gleichmäßige Nieselregen fühlten sich erstaunlich angenehm auf seiner heißen Haut an. Ihm ging es nicht gut; er wusste, dass es an sich besser war, vor dem Training etwas zu essen, aber nach den Neuigkeiten über Abby war ihm nicht nach Essen zumute gewesen, wofür er jetzt die Quittung bekam.

Er schaute sich um. Ein paar Schüler sprachen draußen vor der Cafeteria miteinander, die meisten aber hielten sich drinnen auf, wo es warm und trocken war.

Wo steckte Ari?

Chris ging langsam über das Schulgelände, um sie zu suchen. Als er auf den Parkplatz hinauskam, sah er, wie der Sheriff in seinen Streifenwagen stieg. Er zögerte einen Augenblick, da er Ari nicht in Schwierigkeiten bringen wollte, doch hatte sie heute Morgen gezittert, und er wusste, dass sie ihm eine solche Angst nicht vorspielen konnte.

Er lief zu Sheriff McPherson hinüber. »Sheriff? Haben Sie eine Minute Zeit für mich?«

Die Polizistin nickte. »Warum setzt du dich nicht in den Wagen, da bleibst du trocken.« Sie zeigte auf die Beifahrerseite.

Chris folgte ihrem Vorschlag und gestand dann: »Ich mache mir Sorgen um meine Freundin.«

Skye McPherson machte sich Notizen, während Chris ihr alles berichtete, was Ari ihm erzählt hatte.

 

Anthony schloss seine Bücher und die Schriftstücke in seinem Büro ein – einer der beiden Räume, die in der Mission unversehrt geblieben waren – und fuhr so schnell er konnte durch den stärker werdenden Regen. Es fühlte sich an, als hätte sich die Luft ausgedehnt; jeder Atemzug, den er machte, war kalt und nass und breitete sich in ihm aus. Die normalerweise zwanzigminütige Fahrt hinunter über die sich schlängelnde Gebirgsstraße zog sich dreißig Minuten lang hin, da die rutschige Fahrbahn ihn daran hinderte, die erlaubte Höchstgeschwindigkeit zu nutzen.

Er musste Rafe unbedingt vor der Polizei finden, um ihn auf die unvermeidbaren Fragen und Anschuldigungen vorzubereiten. Skye erledigte nur ihre Arbeit, und sie würde auch fair sein, doch Anthony wusste nicht, in welcher Verfassung Rafe war.

Sein Handy klingelte, und er sah eine Telefonnummer auf dem Display, die er nicht kannte. »Hallo«, meldete er sich kurz angebunden und behielt dabei die rutschige Straße im Auge.

»Ich bin’s, Moira. Ich bin auf dem Weg zu den Klippen, um Rafe Cooper zu finden.«

»Was?!« Er fuhr langsamer, seine Aufmerksamkeit nunmehr auf Moira und die Straße verteilt. »Was weißt du über Rafe?«

»Als ich in mein Motelzimmer zurückkam, hat Lily mir alles erzählt. All unsere Annahmen hinsichtlich ihrer Abenteuer auf den Klippen waren richtig, außer eine überraschende Tatsache: Ein Kerl in einem OP-Kittel tauchte plötzlich auf und verursachte während des Rituals ein Riesenchaos. Meinte zu Lily, sie solle sich aus dem Staub machen, dann verschwand er. Als ich Lily ein Foto von Rafe zeigte, erkannte sie ihn.«

Anthony sagte: »Rafe verließ gestern gegen Mitternacht das Krankenhaus. Niemand hat ihn gesehen, und das, obwohl er bis zu den Klippen ging?«

»Er war zweifelsohne dort. Ich weiß nicht, wie er da hingekommen ist, aber er hat Lily gerettet. Ich werde versuchen, seine Spur aufzunehmen.«

»Vielleicht hat der Hexenzirkel ihn entführt«, überlegte Anthony. Oder umgebracht. Er trat auf das Gaspedal.

»Das glaube ich nicht.«

»Das kannst du nicht wissen!«

»Ich konnte Fionas Worten heute Morgen entnehmen, dass er fliehen konnte. Hat deine Freundin dir erzählt, dass Fiona mich umbringen wollte?«

Anthony seufzte. »Was hat Fiona gesagt?«

»Es war eher das, was sie zwischen den Zeilen sagte. Sie deutete an, jemand habe sie daran gehindert, das Ritual zu Ende zu bringen, und Lily bestätigte mir, dass Dämonen freigelassen worden wären, Rafe aber versucht hätte, sie aufzuhalten.«

»Wir treffen uns bei den Klippen!«

»Ich bin schon so gut wie dort.«

»Warte auf mich!«

»Nein, ich kann nicht bleiben. Ausgeschlossen. Es gehen hier immer noch komische … Dinge vor. Die elektrische Spannung ist hoch; ich kann die Hölle riechen. Sie ist genau hier. Ich rufe dich wieder an, wenn ich ihn gefunden habe.«

»Aber …«

»Ich habe dich nur angerufen, weil ich dir sagen wollte, was Lily mir erzählt hat, und da gab es etwas, das ich nicht verstanden habe. Fiona nannte sie die Arca. Was zum Teufel bedeutet das?«

»Ist Lily immer noch in dem Motel? Ich muss sie wegschicken, sie beschützen. Sie schwebt in großer Gefahr.«

»Sie ist nicht mehr dort. Jareds Vater, ein Polizist, konnte ihre Spur bis zu meinem Motelzimmer verfolgen und hat sie mitgenommen. Er sagte, er würde Lily nach Hause bringen.«

»Und das hast du zugelassen?«

»Ich wollte nicht wieder ins Gefängnis, auch wenn dir das herzlich egal ist.«

»Wo wohnt Lily?«, fragte Anthony.

»Foxglove – 1300. Was bedeutet Arca?«

»Lily ist eine Geisterfalle.«

»Verflucht, wie bitte?! Menschen können keine Dämonen einfangen.«

»Könntest du vielleicht auch mal einen Satz von dir geben, ohne dabei zu fluchen?«

»Nein, verdammt noch mal!«

Anthony vermutete, dass er diesen Fluch provoziert hatte, und fuhr fort: »Sie ist seit ihrer Zeugung für diesen Zweck bestimmt. Du weißt doch sicher etwas darüber, oder?« Er hatte nicht gemein sein wollen und hätte sich schon fast dafür entschuldigt. Tat es dann aber doch nicht.

»Ihre Mutter … Anthony, Jareds Vater hat sie vor mehr als einer Stunde nach Hause gebracht! Ihre Mutter muss dem Hexenzirkel angehören!«

»Ich werde mich um sie kümmern«, versicherte Anthony. »Und du, finde Rafe!« Ihm zog sich der Magen zusammen. Er wollte Moira nicht Rafe überlassen, doch sah er keine andere Möglichkeit. Sollte Lily in die Hände des Hexenzirkels fallen, könnten sie vielleicht das Ritual vollziehen, um die Sieben wieder zu vereinen.

»Ich muss irgendwohin, wo Rafe und ich bleiben können. Mein Motelzimmer ist nicht mehr sicher. Wie wär’s mit der Wohnung deiner Freundin? Oder eine uns freundlich gesinnte Kirche hier in der Umgebung?«

Anthony dachte nach, wusste aber, dass keiner der beiden Vorschläge funktionieren würde. »Es gibt da ein Hotel an der Küste, das Santa Louisa Coastal Inn. Ich kenne den Besitzer, er ist ein Freund von mir. Ich werde ihn anrufen, ein Zimmer auf deinen Namen reservieren und ihm Bescheid geben, wann du kommst.«

»Warum können wir nicht …«

Er wusste, was sie fragen wollte. »Ich möchte mit Rafe sprechen, bevor die Polizei es tut.«

Nachdem Moira eingehängt hatte, gab Anthony Lilys Adresse in Skyes GPS ein und rief dann Pater Philip an. Ihm war egal, wie spät es in Italien war. Er war überrascht zu hören, dass der Pater schon abgereist war.

»Wann hat er sich auf den Weg nach Olivet gemacht?«, erkundigte er sich.

»Einen Moment«, sagte der Mönch. Ein paar Augenblicke später meldete sich Bischof Pietro Aretino am anderen Ende.

»Anthony, Philip fährt nicht nach Olivet. Er ist auf dem Weg nach Santa Louisa.«

»Warum? Er hat mir gesagt …«

Der Bischof unterbrach ihn. »Er hatte seine Gründe, doch er hat St. Michael noch vor dem Morgengrauen ohne seinen Begleitschutz verlassen.«

»Was?!« Angst kroch in Anthony hoch. Dass Pater Philip die Zufluchtsstätte verließ, um nach Santa Louisa zu reisen, war schon gefährlich genug, aber dass er das auch noch ohne seinen Leibwächter tat, war leichtsinnig. Sie beide wussten, dass sein Leben in großer Gefahr war. Er gehörte dem inneren Rat an und verfügte über Informationen, die nur wenige besaßen. Besonders Hexenzirkel hätten diese liebend gerne besessen und sich darauf gefreut, sie aus einem alten Priester herauszupressen.

»Wir wissen nicht, wann genau er St. Michael verlassen hat, aber John macht sich jetzt auf den Weg. Wir hoffen, Philip noch einholen zu können, bevor …«

»Das wird schon zu spät sein! Wir stecken hier mitten in einer Krise«, schnitt Anthony ihm das Wort ab. »Die sieben Todsünden wurden freigelassen.«

»Du denkst, Santa Louisa ist das einzige Problem, mit dem wir es gerade zu tun haben?«, entgegnete Pietro tadelnd. »Unsere Reihen sind so ausgedünnt wie nie zuvor. Ich habe Rico losgeschickt, aber er muss sich um seine eigenen Leute kümmern und sie schützen, sonst ist jegliche Hoffnung verloren. Im Vergleich zu all den anderen Krisenherden hast du in Santa Louisa noch die stärkste Gruppe. Sei vorsichtig, Anthony! Gott schütze dich.«

Er hatte diesen Segen bitter nötig, wenngleich der Leitspruch von St. Michael Gott hilft jenen, die sich selbst helfen lautete.

Anthonys Aufgabe lag vor ihm. Als er endlich die tückischen Berge hinter sich gelassen hatte, gab er Gas und hoffte, nicht zu spät zu kommen, um Lily, die Arca, zu retten.