Epilog
Zwei Monate waren seit Karls Tod vergangen. Es war ein kalter Wintertag, aber der Himmel war wolkenlos, und die tiefstehende Sonne schien direkt auf die Terrasse vor dem Seitenflügel von Urquardt.
Lara saß, dick in eine Wolldecke eingewickelt, an einem rollbaren Tischchen einer älteren Frau gegenüber, die sich ebenfalls mit einer Decke gegen die Kälte geschützt hatte. Neben den beiden Frauen stand ein Gas-Pilz, wie er von manchen Restaurants an kälteren Tagen neben die Tische auf der Straße gestellt wird. Eine bläuliche Gasflamme zischte aus dem Kolben des Pilzes und spendete eine angenehme Wärme. Auf dem Tisch standen Gebäck, Teetassen und eine Kanne, aus der Lara hin und wieder sich und ihrem Gast einschenkte.
Ihr Gast war Ursula Rabinowitz. Vor einigen Wochen hatte Lara sie gebeten, ob sie sich nicht um Habichs Nachlass kümmern könnte, nach dem die Universität in Berlin immer wieder angefragt hätte. Und die kleine, hagere Frau hatte nicht gezögert, die Arbeit zu übernehmen, die Karl ursprünglich hatte beginnen sollen.
Rabinowitz war vormittags mit dem Wagen eingetroffen und hatte sich auch gleich einverstanden erklärt, als Lara ihr angeboten hatte, für die Zeit ihrer ersten Sichtungen ins Gästezimmer zu ziehen. Nach einem leichten Mittagessen hatten sie und Lara sich auf die Terrasse in die Nachmittagssonne gesetzt. Natürlich hatte Rabinowitz davon gehört, was auf Urquardt inzwischen vorgefallen war. Sie wusste auch, dass das Innenministerium eine Kommission eingesetzt hatte, von der die Ereignisse und Umstände untersucht werden sollten, die mit den Todesfällen von Habich, Janker und Karl zusammenhingen. Auf Habichs Beerdigung hatte sie darüber mit Lara zwar nicht sprechen wollen. Jetzt aber brannte sie darauf, Näheres zu erfahren.
Lara fiel es nicht leicht, darüber zu reden. Sie hatte sich zurückgelehnt, die Augen hinter einer braunen Sonnenbrille verborgen, und beobachtete, wie ein kleiner Junge auf dem Rasen jenseits der Terrassenbalustrade versuchte, einem Mädchen das Fahren auf einem Bobbycar beizubringen.
»Kommt lieber hierher auf den Steinboden«, rief sie den Kindern zu. »Auf dem Gras fährt das Ding doch nicht richtig.«
Basti schaute auf. »Leonie will nicht. Ich habe es ihr schon die ganze Zeit gesagt.« Und damit wandte er sich an die Kleine, die sich abmühte, mit ihren kurzen Beinchen das Plastikgefährt in Schwung zu bringen. »Hab ich es dir gesagt, oder nicht?«
Leonie hielt in ihren Bemühungen inne und sah ihn fragend an. Vorsichtig griff er der Zweijährigen unter die Arme, hob sie hoch, dass sie wie eine Katze etwas unglücklich herunterhing, und trug sie die wenigen Schritte zu der Terrasse. Dort setzte er sie wieder ab, kehrte zu dem Bobbycar zurück und schleppte das rote Gefährt ebenfalls zu dem gepflasterten Grund.
Leonie beugte sich nach vorn und starrte ihren Bruder an. »Nein! Zurück!« Wild entschlossen zeigte sie erst auf das rote Spielzeug, das ihr Bruder gerade neben sie auf den Boden gestellt hatte, und dann auf den Rasen, von dem er es geholt hatte.
»Sie können sich vorstellen, dass Frau Janker das Sorgerecht für beide Kinder entzogen wurde, als sich herausstellte, was sie und ihr Mann ihrer Tochter angetan hatten«, erzählte Lara und sah Rabinowitz an, nachdem sich die Kinder wieder ein wenig vom Tisch entfernt hatten. »Erst dachte ich, es wäre vielleicht das Beste, wenn die Kinder nie wieder in dem Park spielen müssten, in den Leonie ja ab und zu von ihren Eltern geführt worden war. Aber dann …« Sie griff nach ihrer Teetasse, führte sie an den Mund, nahm einen Schluck.
Rabinowitz wartete ab.
»Ich habe ein paar Wochen mit den Behörden darüber beraten, wie wir vorgehen sollten«, fuhr Lara fort. »Irgendwann kam es mir so vor, als würde alles andere nicht mehr in Frage kommen. Die Kinder sollten bei mir bleiben. Und zwar hier, auf Urquardt.« Lara stellte die Tasse wieder hin, setzte die Sonnenbrille ab und legte sie vor sich auf den Tisch. »Frau Janker«, sie senkte die Stimme, damit die beiden Kinder, die sich dem Tisch wieder näherten, nicht hörten, dass sie von ihrer Mutter sprach, »ist in Haft gekommen. Ab und zu fragen die Kinder nach ihr, einmal bin ich hingefahren, um sie mit Basti zu besuchen. Es war eine traumatische Erfahrung für den Jungen.«
Laras Gesicht spannte sich bei der Erinnerung an. »Er liebt sie, sie ist seine Mama. Aber er weiß auch, dass seine Eltern seiner Schwester ein schweres Unrecht zugefügt haben.«
Sie sah zu Leonie, die inzwischen wieder das Bobbycar auf den Rasen getragen hatte, sprach aber weiter zu Rabinowitz. »Die Kleine hat die Erlebnisse noch lange nicht überwunden. Dreimal die Woche kommt eine Therapeutin hierher und arbeitet mit ihr.«
»Was hatten die Eltern denn mit Leonie vor?« Rabinowitz sah Lara fragend an. »Gibt es darüber jetzt Klarheit?«
Lara atmete aus. »Janker ist tot, seine Frau schweigt, und die Therapeutin ist sich nicht sicher. Fest steht, dass die Eltern angefangen haben, Leonie eine Sprache beizubringen, die niemand versteht. Sie vergisst sie auch schon wieder, saugt wie ein Schwamm unsere Sprache auf. Die Therapeutin vermutet, dass Janker ein Experiment mit seiner Tochter vorhatte, dass er ihr eine neue Art von Sprache beibringen wollte und dass er sie deshalb von allen anderen Kindern isoliert hat.«
Rabinowitz ließ den Blick ebenfalls zu dem Mädchen wandern, das mit hochrotem Kopf versuchte, das Bobbycar über den Rasen zu fahren, aber nur in Millimeterschritten vorankam. Basti, der hinter ihr gestanden hatte, beugte sich vor und schob sie an. Rumpelnd holperte das Plastikwägelchen ein paar Schritte weiter. Leonie strahlte. Und Basti lächelte.
»Die Therapeutin sagt, dass sich so schnell nicht entscheiden lässt, welche Langzeitfolgen die Erlebnisse für Leonie haben werden«, fuhr Lara fort, »aber sie ist zuversichtlich, dass die Kleine sich voll und ganz erholen wird.«
»Und Karl?«, fragte Rabinowitz und warf Lara einen Blick zu.
Ihr fiel auf, dass Lara sich sichtbar verändert hatte, seitdem sie sie zum letzten Mal gesehen hatte. Ihr Gesicht schien durchscheinender geworden zu sein, das Hübsche zurück- und die Züge ihrer Persönlichkeit schärfer hervorgetreten zu sein. Lara war noch immer eine Frau von beeindruckender Attraktivität, ihr braunes, glänzendes Haar floss noch immer üppig über ihre Schultern, in ihren Augen konnte es noch immer schalkhaft aufblitzen – und doch war ein ernster Zug in ihren Blick getreten, der sich nie mehr ganz auflöste. Als könnte sie über das, was geschehen war, auch in den ausgelassensten Momenten nicht aufhören nachzudenken. Rabinowitz hatte gehört, dass es ein Ermittlungsverfahren wegen Karls Tod gegeben hatte, in dem sich Lara für das, was vorgefallen war, zu verantworten gehabt hatte. Sie wusste aber auch, dass eindeutig festgestellt werden konnte, dass Lara richtig gehandelt hatte, dass sie so handeln musste, um die beiden Kinder vor der lebensbedrohlichen Gefahr, die von Karl Borchert ausgegangen war, zu schützen.
»Er war vollkommen außer sich«, sagte Lara und warf Rabinowitz einen Blick zu. »Habich hatte ihn mit seinen Ideen wie mit einer Krankheit angesteckt.«
Schweigend saßen die beiden Frauen eine Weile nebeneinander, während die Kinder das rote Gefährt über den Rasen bugsierten. Langsam schien Leonie den Dreh rauszuhaben.
»Glauben Sie, an Habichs Theorie ist etwas dran?«, fragte Rabinowitz schließlich.
Lara atmete aus. »Karls Verfall ging rasend schnell«, sagte sie. »Es dauerte keine sechs Tage. Trotzdem konnte ich ziemlich genau beobachten, wie die Entwicklung voranschritt. Erst hat er darüber gelacht. Natürlich war Habichs Idee von einem eigenständigen Sprachwesen aberwitzig. Karl wusste aber auch, dass Leo kein Dummkopf war. Und die historischen Belege, die Leo gesammelt hatte, waren erstaunlich. Am stärksten jedoch hat Karl sein Selbstversuch beeindruckt. Im Grunde genommen, hat er sich davon nicht mehr erholt.« Sie blickte Rabinowitz in die Augen. »Ich habe viel darüber nachgedacht, aber ich weiß es nicht: Ist durch die Stimulation ein physiologischer Prozess in Gang gesetzt worden, den Karl als eine Art Halluzination wahrgenommen hat, wobei diese Halluzination reine Einbildung war und keinerlei Entsprechung in der Wirklichkeit hatte? Oder aber ist durch die Stimulation wirklich das eingetreten, was Leo sich davon versprochen hatte? Ist durch Karls besondere Verfassung, durch das Implantat seines Vaters, das er in sich trug, etwas in ihm ausgelöst worden, was eben über die Qualität einer Halluzination, einer puren Illusion hinausgeht? Ist es ihm dank des Implantats gelungen, die Macht des Sprachwesens über seinen Geist zu besiegen – und dem Wesen schließlich selbst zu begegnen?«
Sie beugte sich vor und fuhr fort: »Woher soll ich das wissen? Karl war durch die Operation seines Vaters einzigartig. Niemand hat in seinem Sprachzentrum jemals so eine Elektrode gehabt wie er. Natürlich könnte ich anfangen, selbst Versuche in dem Labor durchzuführen. Aber ich könnte niemals zu den Ergebnissen gelangen, die er erreicht hat. Nicht zuletzt deswegen hat sich Leo ja darum bemüht, gerade Karl hierherzubekommen.«
»Hat er denn nichts gesagt?« Rabinowitz beugte sich ebenfalls vor. »Karl, meine ich. In den letzten Tagen. Etwas, was Aufschluss darüber gibt, ob er nur phantasiert hat oder ob sich mehr dahinter verborgen hat.«
»Wir haben in den Tagen vor seinem Tod unentwegt miteinander gesprochen. Aber es war nicht einfach, seine Ausführungen zu bewerten. Immer wieder unterbrach er sich, gequält von der Idee, dass das, was er sagte, ja nicht von ihm gesagt werden würde, sondern von dem Wesen. Gepeinigt von der Frage, ob das, was er sagte, ihn zu einer Aufklärung oder im Gegenteil in die andere Richtung führen würde, dorthin, wohin ihn die Sprache haben wollte, in die Täuschung also, in den Irrtum, aus dem er sich ja gerade befreien wollte.«
Lara hielt inne. Die Erinnerung an die Gespräche mit Karl schien ihr zu schaffen zu machen. Dann hob sie noch einmal ruckartig den Kopf. »Letztlich glaube ich, dass der Preis dafür, das Sprachwesen zu erkennen, der Verstand ist.« Ihre Augen ruhten auf Rabinowitz.
Die dachte ein wenig nach, bevor sie antwortete. »Also glauben Sie, dass Leo richtiggelegen hat? Dass es wirklich das Wesen gibt? Dass dieses Wesen es ist, was auch jetzt wieder in uns, aus uns spricht?«
Lara lächelte. »Es klingt verrückt, oder? Ich weiß nicht, wie weit ich gehen soll. Natürlich fällt es mir nicht schwer, den Gedanken von Karl und Leo zu folgen. Es ist ja so einfach: Einmal die Idee begriffen – die Sprache ist ein Wesen, das von uns unabhängig ist –, und schon wird sie zu einer völlig einsichtigen, sozusagen dreidimensionalen Vorstellung. Man sieht das Vieh förmlich in seinem Hirn sitzen. Gleichzeitig macht einem diese Vorstellung aber auch erheblich zu schaffen. Denn wir sind ja für uns im Wesentlichen durch unsere Gedanken konstituiert. Und die bestehen aus Sprache. Wenn die Sprache aber etwas uns Fremdes ist, entfremden wir uns sozusagen zutiefst von uns selbst.«
Rabinowitz nickte. Es war das erste Mal, dass sie sich mit jemandem über Habichs Theorie unterhielt. Und sie spürte instinktiv, an welche Abgründe einen die Vermutung ihres alten Freundes heranführte.
»Vielleicht ist das wirklich der Trick, mit dem sich das Wesen schützt«, fuhr Lara fort. »Man kann es erkennen – aber nur um den Preis, darüber den Verstand oder das, was wir heute unter Verstand verstehen, zu verlieren. Manchmal kommt es mir so vor, als sei dieser Zusammenhang selbst der beste Beweis für seine Existenz.«
Sie blickte wieder zu der Wiese, auf der die beiden Kinder kehrtgemacht hatten und auf dem Weg zurück zur Terrasse waren. »Ist die Sprache also unser Feind? Auch darüber habe ich mit Karl viel gesprochen.«
»Und was meinte er?«
»Dass sie so lange dein Freund ist, wie du dich nicht gegen sie auflehnst.«
Rabinowitz lächelte. War es so? Schlummerte auch in ihr dieses Wesen? Oder vielmehr: Zog auch in ihr dieses Wesen die Fäden? Jetzt, wo sie dies dachte? Richtete es sich dann aber nicht gegen sich selbst, wenn es sich in dieser Form auf sich selbst bezog? Oder richtete es sich langsam darauf ein, dass der Schleier, den es über sich gebreitet hatte, weggezogen wurde?
»Ist es ein Kampf des Sprachdämons gegen sich selbst?«, fragte sie unvermittelt und warf Lara einen Blick zu.
Die lachte. »Anders kann man es sich gar nicht vorstellen, oder?«
»Lara?«, erklang es neben ihr, und Lara schreckte zusammen. »Wann gibt es endlich Abendbrot?«
Basti stand mit der kleinen Schwester an der Hand neben dem Tisch und starrte sie an. »Wir haben Hunger.«
Lara lächelte, wickelte sich aus ihrer Decke und legte die Arme um beide Kinder. »Jetzt, ihr zwei Hübschen. Jetzt gleich!« Sie stand auf und sah zu Rabinowitz. »Faszinierend, oder? Wer hat denn nun wen gesteuert? Der Dämon den Jungen – und er mich – oder meinen Sprachdämon – und der mich?«
Ursula lachte. »Wissen Sie was? Mein Sprachdämon sagt mir, dass wir – auch auf die Gefahr hin, dass wir die gleiche Entwicklung durchmachen könnten wie Leo – gleich morgen früh einen Versuch im Labor starten sollten. Ich stelle mich als Kaninchen gern zur Verfügung.«
Und damit erhob sie sich ebenfalls, nahm Leonie auf den Arm, und alle vier gingen von der Terrasse, auf der die letzten Strahlen der Wintersonne ruhten, ins Haus.