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Aus: »Den Spieß umdrehen«, Autobiographie Lara Kronstedt, Berlin 2016, S. 38
»Anfangs hatte ich dafür wenig Verständnis. Als Leo mir zu Beginn unserer Beziehung das ein oder andere von seiner Forschung erzählte, hatte ich mich wiederholt darüber lustig gemacht. Ich meine: Drei Abende lang kann man es sich anhören, aber am vierten muss es doch möglich sein, auch mal zu fragen, wohin das alles führen soll.
Aber er konnte mit meinem Spötteln nicht umgehen. Als ich später merkte, dass es ihm rapide schlechter ging, und versuchte, herauszubekommen, inwiefern und ob überhaupt das etwas mit seiner Forschung zu tun hatte, blockte er ab. Ich konnte machen, was ich wollte, er weigerte sich, mich ins Vertrauen zu ziehen.
Damals dachte ich, er hätte Angst, die eigenen Illusionen, in die er sich verstrickt hatte und die ihm natürlich enorm bedeutend erscheinen mussten, könnten zerplatzen, wenn jemand, der nicht in den Bann dieser Verstrickung geraten war, mit einem nüchternen Blick von außen den ganzen Zauber zum Einsturz bringen würde. Ich argwöhnte, dass Leo nur mit der schnöden, alltäglichen Wirklichkeit, die dahinter zum Vorschein kommen würde, nicht konfrontiert werden wollte. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er das Ausmaß der Erkenntnisse, die er dabei war zu sammeln, eben nicht hoffnungslos überschätzt hatte.«
»Und ihr?«, fragte Lara, das Gesicht von den Herbstwinden gerötet, während sie ihren Mantel auszog, ihn über einen Stuhl warf und sich zu Habich aufs Sofa setzte. »Irgendwelche Neuigkeiten?«
Karl und Habich waren in die Bibliothek zurückgekehrt und hatten ihr Gespräch dort fortgesetzt. Habich hatte nach Frau Janker geklingelt und sie gebeten, einen kleinen Imbiss zusammenzustellen, sie würden am Tisch vor dem Kamin essen. Während die Haushälterin Brot, Schinken, Obst und Salat hereingebracht hatte, hatte Habich begonnen, ein paar Holzscheite aufzuschichten. Gerade als Karl und er sich am Feuer über den Imbiss hermachen wollten, war Lara zu ihnen gestoßen, die den Tag über, wie sie erzählte, eine Freundin in Berlin besucht hatte.
Habich lächelte seine Frau an. »Borchert lässt nicht locker. Er will alles wissen.« Er warf dem Jüngeren einen Blick zu. »Und woher weiß ich, dass er nicht – kaum dass ich ihm meine Theorie anvertraut habe – seine Sachen packt und sie auf dem erstbesten Kolloquium als seine eigene ausgibt?«
Karl blieb fast der Bissen im Hals stecken.
»Nein, ich scherze«, lachte Habich, bevor Karl protestieren konnte. »Wenn ich Ihnen nicht vertrauen würde, würde ich Sie doch keinen Moment länger in meinem Haus dulden. Wirklich«, fügte er mit Nachdruck hinzu, wohl merkend, wie taktlos seine Bemerkung gewesen war, »schnappen Sie jetzt bloß nicht ein, Junge.«
Karl sah zu Lara. »Außerdem werde ich aus seinem Orakeln und anscheinend bedeutungsschwangerem Geraune ohnehin nicht richtig schlau.«
Lara nickte. »Das kann ich mir vorstellen. Bachmann, Rabinowitz, Forkenbeck, ich – wir alle versuchen seit Monaten, etwas aus ihm herauszubekommen, aber Leo ziert sich.«
Habich legte den Kopf ein wenig auf die Seite. »Meine Güte, Lara, bin ich jetzt verpflichtet, dir und allen anderen Rechenschaft darüber abzulegen, was ich mache?«
Karl starrte auf den Teller, der vor ihm stand und auf den er sich nur ein bisschen Salat getan hatte. Die plötzliche Verschärfung des Tons war nicht zu überhören gewesen.
»Du kannst natürlich machen, was du willst«, sagte Lara und sah ihren Mann an. »Ich halte es nur nicht für gut, wie du dich einigelst. Und das ist nicht nur mir aufgefallen. Ursula hat mich bereits darauf angesprochen. Ob ich nicht mal mit dir reden könnte. Rede ich also mit dir. Und was machst du? Du reagierst überempfindlich. Wie seit Monaten.«
Habich lehnte sich mit seinem belegten Brot in der Hand zurück, schlug die Beine übereinander und biss hinein. »Passt dir irgendwas nicht, Liebste?«, sagte er mit vollem Mund und richtete seine blanken blauen, harten Augen auf sie. Seine Liebenswürdigkeit war verflogen.
Karl bemerkte, wie unangenehm sein Ton Lara war. »Ich meine doch bloß, dass wir endlich einmal offen darüber reden sollten –«
»Jetzt, wo Karl Borchert dabei ist«, unterbrach Habich sie, und seine Anspannung war nicht zu überhören.
»Warum nicht?«, entgegnete Lara. Sie sah zu Karl. »Sie haben doch nichts dagegen?«
Während Karl nur verlegen die Hände hob, wie um zu signalisieren: Ich bin mit allem einverstanden, fuhr sie zu ihrem Mann gewandt fort: »Ihr habt etwas besprochen, sagst du. Na also. Warum nicht reinen Tisch machen, Leo? Jetzt. Nicht morgen. Nicht nächste Woche oder nächstes Jahr. Jetzt. Ich bin hier. Karl ist hier. Wir haben Zeit. Draußen ist es kalt, hier drinnen brennt ein Feuer. Wir machen noch eine Flasche Wein auf, und du erzählst von Anfang an, was es ist, das dich so beschäftigt.«
Habich sah sie an, von ihrer ehrlichen, offenen Rede offensichtlich berührt.
»Was dich so mitnimmt«, fügte sie leise hinzu.
Habich blickte kurz ins Feuer, dann beugte er sich vor und legte das Brötchen zurück auf den Teller. »Was soll das heißen, ›mitnimmt‹?«
Karl verschränkte die Arme. Wenn sie so weitermachten, würde er sich für den Rest des Abends zurückziehen. Er hatte keine Lust, einem Ehestreit beizuwohnen.
»Du hast recht«, fuhr Habich, Lara anschauend, fort. »Vielleicht sollten wir das mal besprechen, gerade jetzt, wo Borchert bei uns ist. Ist es ein körperliches Problem, das du mit mir hast?«
Karl sah, wie Lara errötete. Dass sie zu verwirrt war, um gleich zu antworten.
»Was soll das?«, sagte sie schließlich. »Sagst du das, um auch heute wieder nicht reden zu müssen? Was ist los mit dir, Leo, was ist es, das dich so verbittert? So verschließt. So verstört.«
»Gar nichts ist es, verdammt!«, platzte es laut aus Habich hervor. »Ist es das, was du willst? Soll ich hier eine Riesenszene machen? Rumtoben. Schreien. Oder um Hilfe bitten? Vielleicht um Mitleid flehen. Ist es das?« Er starrte sie wütend an.
Lara, die sich auf dem Sofa ein wenig zusammengekrümmt hatte, als er zu schreien begonnen hatte, stand hastig auf. Und lief, ohne ein Wort zu sagen, zur Tür der Bibliothek.
»Moment, warten Sie«, rief Karl und sprang auf, ohne weiter auf Habich zu achten.
In der Eingangshalle holte er sie ein. »Hören Sie, Lara, ich will mich da nicht mit reinziehen lassen. Es tut mir leid –«
»Lassen Sie sie, Borchert«, drang Habichs Stimme aus der Bibliothek zu ihnen nach draußen. »Soll sie doch gehen! Das wäre sowieso das Beste. Wahrscheinlich fragt sich meine Frau ohnehin schon seit Jahren, was sie mit einem alten Sack wie mir auf dem platten Land verloren hat!«
Lara sah Karl an. »Ja … das kann ich verstehen.« Sie wirkte bedrückt, traurig.
»Er liebt Sie, Sie hätten sehen sollen, wie er geguckt hat, als Sie aufgestanden sind. Wie ein hilfloses Kind.«
Lara nickte. »Ich weiß.«
Einen Augenblick lang standen sie sich unschlüssig gegenüber.
»Ich habe es Ihnen ja von Anfang an gesagt«, sagte Lara, »es geht ihm nicht gut … Manchmal ist er kaum mehr er selbst.«
»Haben Sie Angst vor ihm?«, rutschte es Karl heraus.
Aber Lara schüttelte den Kopf. »Nein … nein, so jemand ist Leo nicht.«
»Sie haben mich gebeten, Ihnen zu helfen, aber …« Es war nicht einfach, doch Karl hatte das Gefühl, dass er etwas klarstellen musste. »Ich fürchte, ich kann das nicht, ich kann weder Ihnen noch Ihrem Mann helfen, schon gar nicht so schnell.«
Er brach ab. Er fühlte sich verpflichtet, das zu sagen, und doch hielt ihn auch etwas davon ab. Was blieb ihm denn, wenn er Urquardt verließ? Hier war Habich, Habichs Wissen, Habichs Durchbruch, von dem Karl zwar nicht wusste, wie er aussah, von dem er sich trotz Habichs augenscheinlicher Verwirrung aber auch nicht vorstellen konnte, dass es nur ein Hirngespinst war. Ja, und auch das war hier, musste Karl sich eingestehen: Lara, deren Anblick und Gegenwart ihm immer mehr zusetzte – wohingegen in Berlin? Was erwartete ihn dort?
»Es ist schon in Ordnung«, sagte Lara, und Karl sah, wie sie sich zu einem Lächeln zwang. »Morgen früh wird er sich wieder beruhigt haben.«
Karl nickte. Aber er hatte keine Lust, so zu tun, als wäre nichts vorgefallen. »Ich wollte ohnehin mal ins Dorf fahren«, sagte er. »Das ist jetzt vielleicht eine gute Gelegenheit. Damit sich die Wogen ein wenig glätten.«
»Ja, vielleicht.« Sie zog die dünne Wolljacke, die sie wieder übergeworfen hatte, enger um ihren Körper. »Leo kommt schon allein zurecht, machen Sie sich keine Sorgen. Es ist nicht das erste Mal, dass er ausfallend wird. Am nächsten Tag tut er dann so, als könnte er sich nicht mehr recht daran erinnern.«
Und damit wandte sie sich ab und begann, die Treppe hochzusteigen, die aus der Eingangshalle in die oberen Stockwerke führte.
Karl sah ihr kurz nach, dann trat er in die Tür zu der Bibliothek, um sich von Habich zu verabschieden. Aber der stand mit dem Gesicht zu den Fenstern und starrte in den nächtlichen Park.