52

Musste nicht alles, was er von der Welt wusste, in ihm sein? Und er in der Welt? Mit der Welt in sich?

Es kam ihm so vor, als zögen seine Gedanken ihn hinter sich her wie zwei Pferde, die ihm längst durchgegangen waren. Noch hielt er sich auf den Beinen, noch konnte er ihnen, wenn er sich voll konzentrierte, hinterherrennen – aber er spürte, jeden Moment ließen seine Kräfte ein wenig mehr nach, jeden Moment konnte er stürzen, dann würden sie ihn mitschleifen …

Und die Zügel schießen lassen? Aber sie waren doch so unabtrennbar an ihm festgewachsen, als hätte man die Zügel an seine Hände geschmiedet! Würde er straucheln, sie würden ihn hinter sich herschleifen und nicht einmal bemerken, dass sie ihn zu Tode brachten.

Also lief er. Wie um sein Leben. Einmal versuchte er sogar, sie einzuholen, sich wieder zum Lenker, zum Bestimmenden aufzuschwingen – doch statt sich überholen zu lassen, rasten sie nur immer schneller, immer rücksichtsloser, immer tollkühner über alles hinweg, was sich ihnen in den Weg stellte.

War es beim ersten Mal ein Schauen, beim zweiten ein Erschaffen gewesen, empfand Karl den Flug, den Sturz durch seine Innenwelt diesmal als Qual, die Qual des Nicht-aufhören-Könnens.

Da wurde ihm plötzlich bewusst, dass er diesmal ja gar nicht im Labor war, nicht unter der Spule saß, dass er anders als die beiden Male zuvor diesmal gar keiner Stimulation ausgesetzt war. Es hatte von selbst angefangen! Wie Jekyll hatte er sich von selbst in Hyde verwandelt, in ein hilflos durch seine Visionen stolperndes Wrack. Das war es, was der Erfahrung diesmal den so alarmierenden Charakter beimischte. Er konnte nicht aufhören, auch wenn er gewollt hätte. Hätte er vorher die Spule ausgeschaltet, es wäre vorbei gewesen. Was aber sollte er diesmal ausknipsen?

 

Und dann sah er ihn. Den Parasiten, ein Wesen, das sich nicht abwandte, dem er ins Angesicht sah, und dessen Angesicht sich doch im nächsten Augenblick schon verlor, als es sich auflöste in ein Rascheln, in das Geräusch eines unsichtbaren Getiers, das kroch, sich bewegte, vorwärtsfraß, das Geräusch eines aufgesplitterten Körpers, dem trotzdem ein einzelner Wille innewohnte, ein Rascheln, von dem Karl jetzt, als er es als von sich abgekoppelt wahrnahm, schlagartig begriff, dass es nicht das Rascheln seiner Gedanken war, sondern eines Wesens, das ihnen vorauslag, immer schon vorausgelegen hatte – aber nicht vorausliegen musste.

 

Alles Weitere war wie immer schon realisiert – durch alles Vorausliegende determiniert. Die Zukunft lag vor ihm. Jahrtausende durchmessend, flog Karl vorwärts, nicht als einsamer Beobachter, sondern aufgespalten in Millionen und Abermillionen von Ich-Kernen, die sich in alle nur erdenklichen, logisch möglichen Perspektiven versetzten, die ihrerseits keinen Kern mehr hatten, sondern im Sein ihrer Gestalt erfüllt waren. Sie waren nicht fühlend, denkend, hoffend oder sonst wie differenziert, sondern nur noch in der Bewegung, zu schnell, als dass jedwede Reflexion noch möglich gewesen wäre, aber in der Bewegung sich realisierend und darum randvoll sozusagen, aufgehoben, aufgelöst, wie sich ausbreitendes Licht, immer schwebender, dünner, unhaltbarer, verfließend.