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Der Lichtkegel der Taschenlampe tanzte über die engen Wände des Tunnels. Karl hatte Basti zu der Treppe begleitet, die nach oben führte, geschworen, dass er die Lampe auf die unterste Treppenstufe legen würde, wenn er sie nicht mehr brauchte, und war dann mit dem Licht zu dem Tunnel zurückgekehrt, der ihm aufgefallen war. Er wusste nicht genau, was ihn veranlasst hatte, ihn zu betreten. War es die Neugier, einen Gang zu verfolgen, der sich noch tiefer in den Brandenburger Boden hineinbohrte, als es der Keller des Schlosses ohnehin schon tat? War es der Drang, mehr über Habich, mehr über Urquardt zu erfahren? Oder war es einfach der Unwille, sogleich wieder ins Archiv zurückkehren zu müssen?

 

Während er über die glitschigen Steinplatten des Tunnels in einem sanften Bogen weiter in die Tiefe schritt, bemerkte er, dass der Schein der Lampe ein wenig flackerte. Sollte ihn ausgerechnet jetzt die Batterie im Stich lassen?

Karl blieb stehen und schüttelte das Gerät. Der Lichtstrahl stabilisierte sich. Er ging weiter. Weiter bergab, weiter im Kreis.

Nach etwa dreißig Metern traten die engen Tunnelwände zurück, und er gelangte in ein niedriges Untergeschoss, dessen Luft sich feucht anfühlte und nach Eisen schmeckte. Als er die Taschenlampe durch den Raum schwenkte, traten Dutzende von Steinskulpturen aus dem Dunkeln hervor. Herkules und der Löwe, zwei Prinzessinnen in Gewändern, wie man sie zur Zeit Friedrichs des Großen getragen haben mochte, aber auch ornamentale Motive, wie ein gewaltiger Kübel mit Blumen, oder abstrakte, wie zwei schmale Obelisken, auf die die Steinmetze ein paar Phantasiehieroglyphen gemeißelt hatten: Arbeiten, die aussahen, als wären sie ursprünglich im Park des Schlosses aufgestellt gewesen, bevor man sie von ihren Sockeln heruntergenommen und in dem Gewölbe eingelagert hatte.

Wieder flackerte die Lampe in Karls Hand. Als er sie diesmal schüttelte, verlosch sie jedoch ganz. Rings um Karl herum war die Dunkelheit wie mit Händen zu greifen. Bis hier hinunter, in diesen Tiefkeller, der noch aus der ältesten Bauphase Urquardts stammen musste, drang auch nicht der schwächste Lichtschimmer. Karl konnte seine Hände nicht vor seinen Augen sehen, geschweige denn etwas von dem Raum, in dem er sich befand. Dabei hatte er sich beim Umsehen zwischen den Skulpturen leichtfertig ein paar Schritte von dem Tunnelausgang entfernt, durch den er in das Untergeschoss gelangt war.

Er lauschte. Jetzt, wo um ihn herum nur noch Schwärze herrschte, nahm er plötzlich ein Geräusch wahr, das ihm zuvor entgangen war. Das helle Glucksen von Wasser.

Vorsichtig schraubte Karl an der Unterseite des Zylinders, in dem die Batterien der altmodischen Taschenlampe stecken mussten. Er fühlte, wie sich der Deckel löste, die Batterien in seine Hand glitten. Behutsam wischte er die Kontakte sauber und legte sie wieder ein. Nichts.

Er betätigte den Schalter.

Wie ein Messer durchschnitt der Lichtstrahl das Dunkel.

Karl grinste. Die Kontakte waren verdreckt, mehr nicht.

Er ließ die Lampe kreisen und hatte im nächsten Moment die Orientierung zurückgewonnen. Der Aufgang in den oberen Keller lag keine zehn Meter hinter ihm.

 

Vor sich hinleuchtend, marschierte Karl tiefer in das Untergeschoss hinein auf das entfernte Plätschern zu, das ihm eben erst aufgefallen war. Ein Durchgang zeichnete sich in der gegenüberliegenden Wand ab. Er ging darauf zu, schlüpfte hindurch und blieb staunend stehen.

Hinter dem Durchgang eröffnete sich eine mächtige Halle, deren Decke das Glucksen und Plätschern, das er gehört hatte, leise zurückwarf. Karl leuchte mit dem Licht in die Halle hinein, um ihre Größe abzuschätzen. Doch der flackrige Strahl seiner Lampe, die schon wieder schwächer geworden war, reichte nicht bis an die Seitenwände.

Nur schnell nachsehen, wo das Plätschern herkommt, sagte er sich, eilte in die Halle hinein – und blieb schon nach wenigen Schritten abrupt stehen. Unmittelbar vor ihm hatte sich ein Kanal aufgetan, in dem funkelnd das Wasser stand. Ein künstlicher Wasserlauf von gut zwei Metern Breite, der mit feuchtglänzenden Granitquadern eingefasst war.

Karl kniete sich auf den Boden, legte die Lampe neben sich und streckte die Hand hinab. Das Wasser war eiskalt. Auch wenn es vor Jahrzehnten vielleicht die Abwässer des Schlosses transportiert haben mochte – heute wurde das mit Sicherheit auf anderem Wege besorgt. Die Luft in der Halle war feucht und erdig, stinken tat sie jedoch nicht.

Karl zog die Hand wieder zurück, griff nach seiner Lampe und leuchtete den Kanal entlang. Soweit der Lichtstrahl reichte, schimmerte das schwarze Wasser zwischen den Steinen. Er leuchtete in die andere Richtung und bemerkte, dass nur wenige Schritte neben ihm ein paar Stufen von dem gemauerten Kanalufer, auf dem er kniete, zum Wasser hinabführten. Am Ende der Stufen war ein flaches Boot an einem Seil angepflockt.

Er stand auf, um sich das Boot näher anzusehen, aber im gleichen Moment verlosch sein Licht erneut.

Karl zuckte zusammen. Er war von der unterirdischen Grotte so gefangen gewesen, dass er die Schwäche seiner Batterien glattweg verdrängt hatte. Umso schmerzlicher wurde ihm jetzt – in dem Moment, in dem die Dunkelheit erneut nach ihm griff – bewusst, wie leichtfertig es gewesen war, sich noch weiter vom Aufgang zur Oberwelt zu entfernen.

Zu seinen Füßen war das Glucksen des Wassers zu hören. Ein falscher Schritt, und er würde hineinstürzen. Vorsichtig ließ sich Karl wieder auf die Knie nieder. Seine Hände berührten die glitschigen Steine vor ihm, glitten über die Kante zum Wasser, tasteten sich wieder hoch. Langsam drehte er sich um seine Achse. Der Durchgang zum Untergeschoss mit den Skulpturen musste schräg hinter ihm liegen. Er spürte, wie sich die Feuchtigkeit der Steinplatten durch seine Hosenbeine hindurch zu seinen Knien fraß. Er durfte jetzt nicht die Ruhe verlieren!

Da ihn die Lampe in der Hand beim Tasten störte, ließ er sie liegen und krabbelte auf allen vieren weiter. Hand nach vorne, tasten, Gewicht verlagern, Bein nachziehen, dann die andere Hand weiter nach vorn. Er kam nur langsam voran. Doch das war nicht so schlimm. Er würde es schon schaffen. So weit war es ja nicht. Hand nach vorn, tasten, Bein nachziehen.

 

Nach wenigen Minuten stieß seine Hand gegen die sandige Wand der Grotte. Das Glucksen des Wassers lag jetzt hinter ihm. Er richtete den Oberkörper auf und fuhr mit der Hand durchs Dunkel. Die Wand wölbte sich über ihm – rechts und links breitete sie sich aus. Auf welcher Seite lag der Durchgang? War er beim Weg vom Kanal zur Wand an der Öffnung vorbeigekrabbelt, so dass sie jetzt rechts von ihm lag? Oder hatte er den kürzesten Weg zur Wand zurückgelegt, so dass die Öffnung noch immer links von ihm lag? Karl entschied sich für links. Und beschloss, aufrecht weiterzugehen. Die Wand würde ihm Orientierung genug geben.

Schritt für Schritt tastete er sich an der Wand entlang voran. Nach drei, vier Metern stieß seine Tasthand ins Leere. Er schob sich in die Öffnung, stemmte seinen rechten Fuß gegen die untere Kante – und arbeitete sich mit dem linken Fuß langsam vor, bis er die gegenüberliegende Seite der Öffnung berührte. Er war auf dem richtigen Weg.

 

Längst mussten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Dennoch war nichts zu erkennen. Nur tiefschwarze Nacht. Vorsichtig tastete er sich durch die Öffnung hindurch auf die Innenseite des Untergeschosses mit den Steinskulpturen und begann, langsam an der Wand entlang weiterzugehen. Theoretisch hätte er auch versuchen können, den pechschwarzen Raum zu durchqueren. Aber konnte er sicher sein, dass nicht irgendwo ein Brunnenschacht oder etwas Vergleichbares eingelassen war, das ihm vorhin entgangen war? Auch wenn es ein Umweg war – am besten war es, die einmal gewonnene Orientierung durch die Wand nicht aufzugeben und sich an ihr entlang weiterzutasten. Auf diese Weise musste er früher oder später doch unweigerlich zu dem Tunnel gelangen, der ihn nach oben führen würde.

Karl kam jetzt besser voran. Unbeirrt schritt er vorwärts, die Sinne aufs äußerste gespannt, wie ausgehungert nach jedem Laut, Lichtfleck oder Geruch. Aber außer dem entfernten Wasserplätschern, dem Knirschen seiner Sohlen auf dem Steinfußboden und dem Eisengeschmack in der Luft gab es nur das zu entdecken, was seine Hand ihm erfühlte: feuchten, zum Teil von der unterirdischen Luft verfaulten Putz, der unter seinen Fingern hinwegbröckelte, wenn er dagegen kam.

Da hörte er es.

Knack knack knack knack knack knack knack knack …

 

Das Geräusch war gedämpft und hatte ganz unvermittelt eingesetzt. Es knackte leise vor sich hin, ungefährlich und regelmäßig – und doch zugleich ein Geräusch, das wie an Karls Herz gekoppelt zu sein schien.

Er blieb stehen, die linke Hand sanft an die Wand gedrückt. Wo kam das Geräusch her?

Er hielt den Atem an.

Das Knacken verstummte.

Nur das Glucksen des Wassers war zu hören.

Plötzlich war ihm, als würde ein Eishauch seine Haut überziehen. War er allein in dem Gewölbe? Oder war Janker hier?

Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Wie ihn der dünne Schweißfilm in der kühlen Kellerluft sogleich frösteln ließ.

Er atmete aus. Unterdrückt, langsam und vorsichtig.

Stand er direkt neben ihm – den Mund an seinem Ohr? War der kühle Hauch Jankers Atem?

Mit einer unkontrollierten Bewegung ließ Karl seine Hand durch die schwarze Luft sausen.

Nichts.

Knack knack knack knack knack knack knack knack …

Das Surren schien aus der Mauer vor ihm zu kommen.

Er wandte sein Gesicht wieder nach vorn.

… knack knack knack knack knack knack.

Stille.

Karl tastete sich weiter. Er hatte keine Wahl. Er musste raus hier. So schnell wie möglich. Nächster Schritt. Weiter. Weit –

Wieder fuhr er zusammen. Statt wie bisher auf groben, sandigen Putz war seine vortastende Hand auf eine glatte, eiskalte Oberfläche gestoßen und spontan zurückgezuckt. Er legte sie noch einmal auf die Oberfläche, ließ sie darüber hinweglaufen und erfühlte einen Spalt, dann einen Rahmen … eine Tür!

Mit einem Schritt hatte Karl sich auf die Höhe der Tür gebracht, tastete sie mit beiden Händen ab.

Ein Knauf, rund und kalt. Karl drehte und zog daran, doch weder Knauf noch Tür rührten sich.

Wieder spürte er, wie ihn ein kalter Luftzug anwehte und frösteln ließ.

Knack knack knack knack knack knack knack …

Das Geräusch kam von der anderen Seite der Tür.

»Hallo!«, rief er, und seine Stimme brach sich dumpf in dem niedrigen Kellergewölbe. »Hallo!«

… knack knack knack.

Stille.

Er hielt die Luft an.

Nichts.

Karl holte aus und ließ seine Faust auf die Stahltür knallen. Sie dröhnte wie ein Gong, und der Klang erfüllte das Gewölbe.

»Hallo! Ist da jemand?«

Wieso war das Knacken kurz nach seinem Ruf wieder verstummt – war dort hinter der Tür jemand? War dort Janker? Spielte er mit ihm?

Unkontrollierbar schoss Karl die Wut zu Kopf, und er hämmerte mit beiden Fäusten auf die Tür ein. »Janker! Hören Sie mich? Ich bin in dem Keller hier … meine Taschenlampe … ich habe kein Licht!«

Unendlich langsam, so schien es Karl, wand sich der Hall, mit dem die Tür auf seine Schläge geantwortet hatte, bis in den hintersten Bogen des Untergeschosses, wo er sich langsam auflöste.

»Verdammt noch mal! Kommen Sie mit einer Lampe raus, oder machen Sie wenigstens die Scheiß-Tür auf!«

Stille.

Die Seiten von Karls Fäusten schmerzten. Aber hinter der Tür war nichts zu hören.