18

Auslöser?« Karl war völlig verdattert. »Was für ein Auslöser?«

Lara und er waren von der Bibliothek ins Frühstückszimmer gegangen. Dort hatten sie sich an der großen Espressomaschine, die auf einer Anrichte stand und noch eingeschaltet gewesen war, zwei Espressi gemacht und einander gegenüber an den großen Tisch gesetzt. Das Zimmer nahm den ganzen Seitenflügel ein und wurde – wie das Archiv, das sich darüber befand – von beiden Seiten mit Tageslicht durchflutet.

»Es ist Wahnsinn, ich habe es Leo immer wieder zu sagen versucht, aber …« Lara zögerte, bevor sie weitersprach. »Man kann darüber nicht mehr vernünftig mit ihm reden.«

»Wie ist er denn darauf gekommen?«, fragte Karl.

»Sie haben es im Archiv doch selbst gesehen, wie er die drei Gedankenexperimente formuliert hat«, antwortete Lara. »Woher weiß ich, dass ich nicht nur Schatten der Wirklichkeit sehe? Woher weiß ich, dass nicht ein Dämon mich täuscht? Woher weiß ich, dass der Pfeil → nicht ›Geh nach links‹ bedeutet? So wiedergegeben, springt die Ähnlichkeit der drei Fragen ja unmittelbar ins Auge. Leo ist davon überzeugt, dass Platons, Descartes’ und Wittgensteins Gedankenexperiment jeweils ein Schritt in einem sogenannten Dreischritt ist, dass alle drei also eine einzige Bewegung bilden. Dass sie sich sozusagen immer tiefer in den Kopf des Fragenden hineinbohren.«

Karl nickte. Aber warum erzählte sie ihm das alles? Wusste Habich davon? War er damit einverstanden? Gleichzeitig war Karl gegen das Begehren, das Lara in ihm ausgelöst hatte, nicht immun.

»›Wie müssen wir uns das vorstellen?‹ – fragt er immer wieder«, sagte sie und ließ Karl nicht aus den Augen. »›Wie sind die drei denn jeweils auf die Idee zu ihrem Gedankenexperiment gekommen? Haben sie einfach dagesessen und gegrübelt – und plötzlich ist es in sie gefahren wie der Blitz in einen Baum? Bei allen dreien? Ich meine, das waren Menschen wie du und ich, Lara‹, ruft er dann. ›Was ist in ihrem Leben vorgefallen? Muss es nicht etwas Ähnliches gewesen sein, dass es sie jeweils auf eine so ähnliche Idee gebracht hat? Und wenn es wirklich wie ein Blitz plötzlich in sie gefahren ist: Wo kam der her? Aus dem Nichts?‹«

Karl schwieg. Was sie sagte, interessierte ihn – er spürte, dass es ihn näher an Habichs Gedankenwelt heranbrachte, als er auf eigene Faust in so kurzer Zeit jemals gelangt wäre. Aber er fühlte sich nicht wohl dabei, wurde das Gefühl nicht los, dass es nicht recht war, wenn er so – gleichsam hintenherum – mit Habichs Überlegungen bekannt gemacht wurde. Gleichzeitig hielt seine Neugier ihn jedoch davon ab, sie zu unterbrechen.

»Also sind wir zu dieser Reise aufgebrochen«, sagte Lara, »auf der Suche nach dem Auslöser. Nach dem, was Platon, Descartes und Wittgenstein auf ihr jeweiliges Gedankenexperiment gebracht hat. All ihre Tagebücher, Briefe und Veröffentlichungen hatte Leo ja durchgearbeitet, ohne dass ihn das bei der Frage nach dem Auslöser weitergebracht hatte. Deshalb hat er eines Tages den ganzen Papierkram zur Seite geschoben und beschlossen, selbst vor Ort zu recherchieren. Wir sind nach Athen geflogen, haben die Orte aufgesucht, an denen Platon gelehrt hat. Wir sind in die Nähe von Ulm gefahren, wo sich Descartes aufhielt, als ihm sein Cogito-Satz klarwurde. Wir haben das Kloster bei Wien aufgesucht, in dem Wittgenstein die grundlegenden Gedanken seiner Spätphilosophie entwickelt hat.« Sie starrte in ihre Espressotasse. »Fast ein Jahr lang hat Leo in Klosterkellern, Stadtarchiven und Privatbibliotheken gestöbert, aber ich konnte keinen Fortschritt erkennen. Bis er plötzlich behauptet hat, etwas gefunden zu haben.«

Karl riss sich zusammen. »Vielleicht … vielleicht sollten wir auf Habich warten, vielleicht liegt ihm daran, selbst darüber zu sprechen.«

Sie sah ihn an.

»Wirklich, was Sie sagen, ist faszinierend, nur fürchte ich«, spiel mit offenen Karten, das ist am besten, sagte sich Karl und spürte gleichzeitig, wie etwas in ihm ihn verfluchte, weil er bei Lara auf die Bremse trat, anstatt sich weiter von ihr führen zu lassen, »ich fürchte, dass Ihr Mann das lieber –«

»Haben Sie Angst vor ihm?«, unterbrach Lara ihn.

Karl starrte sie an. Wollte sie ihn in etwas hineinziehen?

Sie beugte sich vor, so dass Karl am unteren Rand seines Gesichtsfeldes ihren Ausschnitt wahrnahm. War noch ein weiterer Knopf aufgegangen? Er musste sich zwingen, nicht hinzuschauen. Er fühlte mehr, als dass er es sah, wie die obersten Knöpfe ihrer engen Bluse offen standen und der Stoff bis weit über die oberen Ansätze des Busens zurückgerutscht war.

»Leo ist ein gefährlicher Mann«, sagte sie und wandte den Kopf zur Seite, »da liegen Sie gar nicht so falsch.«

Karls Blick ruhte auf ihrem Profil, auf ihren Augen, die zum Fenster schauten, aber dann wurde sein Blick unweigerlich nach unten gezogen – zu dem vollkommenen, glatten Busen, der den dünnen Seidenstoff spannte, zu dem Spalt, in dem sich ihre Brüste berührten, so voll, fest und weich zugleich, dass sich buchstäblich seine Nackenhaare aufrichteten.

Rasch blickte er wieder in ihr Gesicht – und erstarrte. Sie sah ihm direkt in die Augen. Sie hatte genau gesehen, wo er hingeschaut hatte.

Karl versuchte zu lächeln, suchte nach Worten, bemerkte dann aber, wie sie ihn ansah. War das auffordernd? Neckisch? Verspielt? Es war ein selbstbewusstes Lächeln, das er in ihren Augen glaubte blinken zu sehen – ein lässiges, großzügiges und verdammt verführerisches Lächeln, dachte er, das selbstbewusst ist, weil sie spürt, dass sie mich am Haken hat.

Seine Kehle wurde trocken.

»Leo ist krank, Karl«, hörte er sie sagen, »ich darf Sie doch Karl nennen?«

»Sicher, gern«, stieß er hervor.

Sie lächelte. »Lara, freut mich.« Sie nickte ihm zu und lehnte sich zurück. »Man sieht es ihm vielleicht nicht an, aber er ist völlig entkräftet, ich mache mir wirklich Sorgen. Es ist seine Philosophie, Sie kennen sich damit doch ein wenig aus. Sie müssen ihm helfen. Kann ich das von Ihnen verlangen? Dass Sie mit ihm reden, versuchen, ihn zur Besinnung zu bringen.«

Karl atmete aus, versuchte mit aller Kraft, seine Gedanken zu zügeln, zu ordnen. »Ja, sicher.« Sie hatte ihn vollkommen durcheinandergebracht. Hatte sie gesagt, ihr Mann wäre gefährlich?

»Aber er wird Ihnen ausweichen«, sprach Lara weiter, »so wie er Forkenbeck ausgewichen ist, den ich gebeten hatte, mit ihm zu reden.«

Warum ich?, dröhnte es in Karls Kopf, während er versuchte, die Gedanken an ihren Körper, an sie als Frau mit aller Kraft wegzudrücken. Warum bin ausgerechnet ich hier, warum soll ausgerechnet ich ihm helfen? Und plötzlich durchschoss ihn ein neuer Gedanke: War es, weil er in dem gleichen Gebiet wie Habich forschte? Ging es um das Projekt, das ihm die Forschungsgemeinschaft abgelehnt hatte? Hatte Habich es darauf abgesehen? Auf das Projekt, das Habich ja auch gleich bei ihrer ersten Begegnung erwähnt hatte? Aber warum sagte ihm das niemand – was hatten sie vor?

»Es ist diese Idee von einem Auslöser, die ihn wahnsinnig macht«, hörte er Lara sagen. »Das ist es, was er glaubt, auf der Reise gefunden zu haben. Er nennt das die Inspiratoren. Pythagoras bei Platon, Agrippa von Nettesheim bei Descartes, und Gödel und Schlick bei Wittgenstein.«

Karl sah sie verwirrt an.

»Was?«, fragte er und lächelte.

»Sie sind getötet worden, Karl, alle vier. Verbrannt, verhungert, erschossen.«

Karl starrte sie an. Wie bitte?

Ihre braunen Augen ruhten auf ihm. »Und Leo ist davon überzeugt, als Nächster getötet zu werden.«

Karl presste die Hände an seine Schläfen. »Was? Entschuldigen Sie … ich –«

»Leo ist davon überzeugt, getötet zu werden«, wiederholte sie.

»Aber wieso denn?«, brach es aus Karl hervor.

»Weil er auf das Geheimwissen gestoßen ist, über das die Inspiratoren verfügten«, sagte sie – und mit einem Mal wirkte es, als hätte sich über die Koketterie in ihrem hübschen Gesicht ein Schatten gelegt.