10
Aus: »Abschlussbericht der Urquardt-Kommission«, Anlage H: Aussage Lara Kronstedt, S. 604–606
»Vorsitzender: Hat Herr Borchert Ihnen gegenüber erwähnt, worauf er den Schwindelanfall bei seiner Ankunft zurückgeführt hat?
Kronstedt: Er hatte schlecht geschlafen, zu wenig gegessen.
Vorsitzender: Das war alles?
Kronstedt: Nachdem er mit den Experimenten begonnen hatte, meinte er, den Schwindel und den Kopfschmerz vom ersten Tag erst wirklich erklären zu können. Ich habe das jedoch für Unsinn gehalten.
Vorsitzender: Was war denn die Erklärung von Herrn Borchert?
Kronstedt: Er meinte, es sei eine Art Abwehrreaktion gewesen.
Vorsitzender: Abwehr wogegen?
Kronstedt: Wie gesagt, ich habe es für Unsinn gehalten –
Vorsitzender: Frau Kronstedt, ich habe nicht danach gefragt, was Sie davon gehalten haben, ich habe Sie gebeten, uns zu erläutern, wogegen Herr Borchert meinte, sich wehren zu müssen.
Kronstedt: Nicht er, Herr Vorsitzender, nicht er. Es.«
Das Zimmer war wirklich schön. In seiner Mitte stand ein Himmelbett, das mit einem schweren, orientalischen Tuch zugedeckt war, gleich daneben ein altes Porzellanwaschbecken mit geschwungenen Wasserhähnen – ein Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert, als es der Inbegriff modernen Luxus gewesen sein musste. Die Wände waren blassblau getüncht, eine Farbe, vor der sich die hellbraunen Biedermeiermöbel – ein Schreibtisch, eine Kommode, ein Schrank – wohltuend abhoben. Stiche aus der Glanzzeit Preußens vervollständigten die Einrichtung: Der Alte Fritz im Gespräch mit seinen Soldaten im Schlesischen Krieg, eine historische Ansicht von Sanssouci als Baustelle, ein Porträt Winkelmanns.
Karl trat ans Fenster und sah in den nächtlichen Park, der sich friedlich vor dem Schlösschen ausbreitete. Eine Weile hatte er noch das Essen und Gespräch mit Habich fortgesetzt, dann war er, nach einem Blick auf die Uhr, aufgestanden und hatte verkündet, dass er sich dringend noch eine Pension suchen müsste.
»Nicht doch«, hatte Habich ihn zurückgehalten. Er und seine Frau würden sich freuen, wenn Karl für die Dauer seiner Beschäftigung bei ihnen wohnen würde. Sie hätten bereits ein Gästezimmer im zweiten Stock für ihn herrichten lassen. Froh darüber, in dem herrlichen Haus wohnen zu können, hatte Karl eingewilligt und sich von Habich über die Freitreppe, einen Flur und eine weitere, hintere Treppe zu dem Zimmer führen lassen.
Am Ende des Parks war der dunkel schimmernde See zu erkennen. Karl öffnete das Fenster, um ein wenig von der frischen Nachtluft hereinkommen zu lassen. Dann setzte er sich auf das Bett, zog seinen Pullover aus und begann, sich die Schuhe aufzubinden. Müsste er sich nicht bei Tamara melden? Er hatte ihr auf der Hinfahrt zwar per SMS mitgeteilt, dass er ein paar Tage verreist sein würde. Aber war er nicht dazu verpflichtet, das ein bisschen genauer auszuführen? So hatten sie es zumindest in den vergangenen Jahren immer gehalten: Wenn einer auf Reisen war, rief er mindestens einmal täglich an, um mitzuteilen, dass er wohlauf war und den anderen bereits vermissen würde.
Aber tat er das? Karl zog Schuhe und Strümpfe aus und ließ sich auf das weiche Bett sinken. Vermisste er sie? Es gab ihm regelrecht einen Stich, als er sich eingestehen musste, ganz froh zu sein, etwas Abstand gewonnen zu haben.
Eine Zeitlang starrte er an die Decke, dann gab er sich einen Ruck, richtete sich wieder auf und trat zu seinem Jackett, das er über den Stuhl am Schreibtisch gehängt hatte. In der Seitentasche des Jacketts steckte sein Handy. Er zog es hervor. Keine hinterlassenen Nachrichten.
Karl steckte das Handy wieder weg. Was sollte er denn sagen, wenn er Tamara jetzt anrief? Diese Dinge ließen sich schlecht am Telefon besprechen. Dass er, indem er sich nicht meldete, nur eine umso deutlichere Nachricht hinterließ, nun, das war eben nicht zu ändern.
Besonders wohl fühlte sich Karl bei dem Gedanken allerdings nicht. Vor zwei Tagen noch hatte das unausgesprochene, aber doch deutlich gefühlte Vorhaben zwischen ihnen gestanden, in nächster Zeit nicht nur zu heiraten, sondern auch eine Familie zu gründen. Und jetzt? Jetzt schien eine Trennung unvermeidlich. Und wieso? Weil ihm die Fördergelder verweigert worden waren. Aber was hatte das mit Tamara zu tun?
Karl bückte sich zu seiner Reisetasche, die er noch aus dem Wagen geholt hatte, und kramte den Schlafanzug daraus hervor. Gleichzeitig spürte er, dass er Habichs Wein ziemlich rücksichtslos in sich hineingeschüttet haben musste, denn kaum hatte er den Kopf geneigt, gelang es ihm nur noch mit Mühe, sich wieder aufzurichten. Er sollte unbedingt noch ein oder zwei Gläser Wasser trinken, bevor er einschlief, sonst würde er morgen früh vollkommen verkatert sein.
Sein Blick wanderte zu dem Porzellanwaschbecken an der Wand. War das Leitungswasser hier trinkbar? Karl warf den Schlafanzug aufs Bett und ging zu dem Waschbecken. Der Wasserhahn war als Schwanenhals mit einem zierlichen Kopf modelliert. Karl drehte an dem Regler, auf dessen weiße Porzellankappe ein verschnörkeltes K gemalt war. Es gluckerte in der Leitung – Wasser kam jedoch keins. Schon wollte er den Hahn wieder zudrehen, da schoss doch noch ein Schwall eiskalter Flüssigkeit aus dem Schwanenmaul – versiegte gleich darauf jedoch wieder. Karl wartete einen Moment. Aber mehr als ein Fauchen gab der Hahn nicht mehr preis. Nachsichtig drehte er den Regler wieder zu. Die Leitungen mussten noch aus der Kaiserzeit stammen. Besser, er ging schnell in die Küche und besorgte sich eine Flasche Mineralwasser.
Ohne sich erst langwierig die Schuhe wieder anzuziehen, öffnete Karl die Tür seines Gästezimmers und streckte den Kopf auf den davorliegenden Flur, der die Zimmer des zweiten Stockwerks miteinander verband. Er schauderte. Es war eiskalt. Offensichtlich wurde in den Zimmern, nicht aber hier draußen geheizt. Rechter Hand endete der Gang an einem breiten Fenster, durch das hindurch man vor das Haus blickte, linker Hand mündete er in dem hinteren Treppenhaus, über das Habich ihn zu seinem Zimmer gebracht hatte. Wo war das Schlafzimmer der Eheleute, wo die Küche? Karl wusste es nicht. Aber er vermutete, dass er nach unten musste, wenn er den Mineralwasservorrat finden wollte.
Eilig huschte er zu dem hinteren Treppenhaus und über die Steinstufen nach unten. Im ersten Stock hatte er die Wahl. Entweder in diesem Treppenhaus weiter nach unten – oder durch den Flur zur vorderen Seite des Hauptflügels, wo die große Freitreppe hinunter in die Eingangshalle führte. Karl entschied sich dafür, im hinteren Treppenhaus zu bleiben. Er hatte wenig Lust, am Schlafzimmer Habichs vorbeizuschleichen, von dem er vermutete, dass es an dem Flur lag.
Im Erdgeschoss mündete die Treppe in einen Korridor, von dem mehrere verschlossene Türen abgingen. Karl zog die erstbeste auf und blieb staunend auf der Schwelle stehen. Ein weitläufiger Saal, dessen prächtige Fensterwand auf den Park hinausging, hatte sich dahinter eröffnet. Die anderen drei Wände des Raumes waren fast vollständig mit einem maßgezimmerten und vollgestopften Bücherregal ausgekleidet, dessen oberstes Brett ringsum von einer Reihe bronzener Büsten geschmückt wurde. In der Mitte der Bibliothek stand ein massiver Tisch, über und über mit aufgeschlagenen Folianten bedeckt. Dahinter, den Fenstern gegenüber, erblickte Karl einen Kamin, in den ganze Baumstämme hineingepasst hätten, der jetzt jedoch erkaltet und verrußt dalag.
Neugierig betrat er den Saal und ging an den Regalreihen entlang. In dem aschgrauen Schimmer, der durch die Fenster hereinfiel, konnte er die Titel der zum Teil antiquarischen, zum Teil neuen Bücher nur mühsam entziffern. Die ersten Buchrücken, die er sah, gehörten den altbewährten Klassikern.
Aristoteles. Seneca. Boethius. Ockham …
Auf der anderen Seite des Kamins stieß er auf Hunderte von zerlesenen englischen und amerikanischen Krimis. Ein Regal weiter befand sich eine kuriose Sammlung von Comics: alte Spiderman-Hefte, jede Menge Milo Manara und Moebius, sämtliche Premium-Ausgaben der Batman-Comics von »Killing Joke« bis zu »The Man Who Laughs«. Was hatte ein Mann wie Habich mit Batman zu tun? Neugierig wollte Karl schon eines der Exemplare aus dem Regal ziehen, als er es plötzlich wieder hörte. Das leise, feine Zirpen und Säuseln, das ihm bereits in der Eingangshalle aufgefallen war.
Blitzschnell richtete sich seine Aufmerksamkeit auf das Geräusch.
Hier in der Bibliothek schien es noch leiser zu sein, als es ihm in der Eingangshalle vorgekommen war. Ein hoher, langgezogener Laut, kein Kratzen oder Pfeifen, vielmehr ein Surren. Eher lebendig als tot, schoss es Karl durch den Kopf.
Er trat an die Glastür, die von der Bibliothek in den Park hinausführte. Während er in der Eingangshalle das Gefühl gehabt hatte, der Ton würde aus der Tiefe des Gebäudes heraufsickern, kam es ihm diesmal so vor, als dränge er von draußen zu ihm herein.
Vorsichtig drehte Karl den Messingknauf, der an der Tür angebracht war. Mit leisem Knacken schoben sich die Riegel zurück, dann wehte die kalte Herbstluft zu ihm herein. Er zog die Tür auf und trat auf die Terrasse, die vor der Bibliothek angelegt war.
Wie Dornen drang die Kälte der Steinplatten in seine nackten Fußsohlen. Das feine Säuseln aber, der Laut, den er gehört hatte, schien eine Nuance lauter geworden zu sein. Und mit einem Mal wusste Karl, was es war. Es war ein Rufen, ein Flehen, ein Jammern.
Entschlossen stapfte Karl weiter, von der Terrasse herunter in den Park. Feucht schmiegten sich die Gräser an seine Fußsohlen, dumpf rauschten die Bäume am Seeufer, schwarz dehnte sich der Nachthimmel über ihm. Aber je weiter er sich in den Park hinauswagte, desto deutlicher schien ihm das Rufen zu werden – bis er schließlich glaubte, seine Quelle geortet zu haben: Ein Grashügel, der sich zwischen Haus und See aus dem sanft abfallenden Gelände erhob. Ein ungewöhnlicher Erdbuckel, der Karl für einen Moment an eine überdimensionale Schildkröte denken ließ, die sich unter die Oberfläche des Parks geschoben haben könnte.
Das dünne Hemd eng um den Oberkörper gezogen, ging er um den Buckel herum. Auf seiner tieferen, dem See zugewandten Seite befand sich eine in grobe Feldsteine gefasste Tür. Anscheinend der Eingang zu einer Grotte, aus der – wie Karl jetzt deutlich hören konnte – das Rufen kam. Nicht wirklich laut, aber doch lauter als jemals zuvor, mit einer Eindringlichkeit, einer Kläglich- und Trostlosigkeit, die ihm den Hals zuzuschnüren begann. Schon suchte er die massive Holztür nach einer Klinke ab, schon trat er, als er keine fand, gepeinigt von dem nicht enden wollenden Lied, gegen das Holz, sah, wie es splitterte und die Pforte in den Erdhügel zurückschwang. Im selben Augenblick war das Geräusch verstummt.
Karls Blick fiel durch die Tür hindurch auf eine Truhe, die auf einem Mauervorsprung an der hinteren Wand der Höhlung stand. Es war kein schweres, eckiges Möbelstück, vielmehr ein aus Zweigen geflochtener Korb, dessen Oberseite durch einen Deckel verschlossen war.
Vorsichtig trat er in die Grotte und sog die Luft ein. Es roch erdig, modrig fast, aber sauber. Ein Geruch, der keinerlei Aufschluss über das Wesen gab, von dem Karl überzeugt war, dass es in dem Körbchen dort vor ihm liegen musste. Für einen Moment kam er sich wie ein Eindringling vor. Aber hatte das Wesen nicht verzweifelt und klagend nach ihm gerufen? Hatte es ihn nicht mit großer Hartnäckigkeit genau hierher, zu sich gelockt? Warum säuselte es jetzt nicht weiter – hatte es plötzlich vor ihm Angst bekommen, weil er, ohne zu fragen, ohne zu zögern, die Tür zu der Grotte aufgetreten hatte?
Karl wusste, dass er nur noch die Hand ausstrecken und den geflochtenen Deckel anheben musste, um die quälende Warterei abzukürzen – aber er zögerte. Denn was für ein Wesen sollte sich in diesem Körbchen befinden? Was war so klein, dass es nicht die Kraft hatte, den locker auf dem Korb aufliegenden Deckel selbst aufzustoßen? Und warum ließ Habich zu, dass auf seinem Grundstück ein Wesen so leiden musste, dass es einen durch sein Klagelied mit tiefster Melancholie erfüllte?
Im selben Moment wurde ihm klar, dass er auch jetzt – obwohl das Klagen verstummt war – das Wesen noch hören konnte. Es war zwar kein Rufen mehr, das er vernahm, aber ein Schniefen, das nichts anderes sein konnte als das Atmen des Geschöpfes dort unter dem Deckel.
Angerührt und irritiert zugleich von der Intimität, die Karl plötzlich zwischen sich und der Kreatur zu spüren vermeinte, wagte er es nicht, es ihr gleichzutun. Reglos und ohne Luft zu holen, stand er vor dem Korb, mucksmäuschenstill, aufs Hören konzentriert.
Pffffff --- ssssss --- pffffff --- sssss --- pff -
Das Atmen brach ab.
Stille.
Hatte es bemerkt, dass er die Luft anhielt? Hatte das Wesen jetzt ebenfalls begonnen, die Luft anzuhalten?
Karl beugte sich vor, näher heran an den Korb. Jetzt war kein Laut mehr daraus zu hören. Nur noch das entfernte Rauschen der Bäume erfüllte die kleine Höhle.
Wie lange konnte es noch ohne Luft ausharren?
Lautlos ließ er die alte Luft durch seine Lippen entweichen und atmete den modrigen Geruch der Höhle ein. Noch immer hatte das Schniefen nicht wieder eingesetzt. Sollte das Wesen sich selbst ersticken wollen, aus schierer Angst vor dem Unbekannten?
Was hielt ihn denn noch?, schrie er sich innerlich an und riss – bevor er sich klarwerden konnte, dass ihm vor dem Unbekannten, das darunter liegen musste, graute – den Deckel des Korbes zur Seite und starrte auf ein Lebewesen, das all das in sich zu vereinen schien, was er befürchtet hatte.
Gebettet auf ein weißes Tuch, spärlich behaart und klein, blickte ihm das Wesen mit angstverzerrten Augen entgegen. Sein verrunzeltes Gesichtchen wirkte unendlich zerbrechlich, seine Glieder zu schwach, um den zarten Körper jemals zu tragen. Ein Wesen, halb Mensch, halb Tier, und ein Anblick, der Karl traf, als ob er sich die Netzhaut verbrühen würde.
Da öffneten sich die winzigen, rosafarbenen Lippen des Menschentierchens, während sich seine Äuglein wie in verzweifelter Ergebenheit langsam schlossen, und ließen die angestaute Luft vorsichtig raus. Aber nicht, um im Anschluss daran neue Luft einzuatmen, sondern immer weiter und weiter nur ausatmend und dabei immer dünner werdend, grauer und schlaffer. Es war Karl, als könnte er regelrecht sehen, wie das Tiermenschlein mit der Atemluft sein Leben verströmte. Ein Prozess, dem er unmöglich tatenlos zusehen durfte, doch was, um Himmels willen, sollte er tun? Eine Verantwortung, eine Schuld, die binnen Sekunden unerträglich wurde, so dass Karl sich nicht länger zurückhalten konnte und es aus ihm herausbrach, förmlich herausschlug – ein Röcheln, das rasch anschwoll zu einem heiseren Brüllen.
Bis er schreiend aus dem Alptraum erwachte – angezogen auf dem Bett im Gästezimmer, in dem Eishauch zitternd, der durch das offene Fenster hereinwehte, den Mund aufgerissen –, die Arme in äußerstem Grauen verkrampft.