17

Karl? Herr Borchert?«

Karl blieb stehen und spähte durch die Tür in das Esszimmer. An dem langen Tisch, an dem er mit Habich zu Abend gegessen hatte, saß eine junge Frau. Sie lächelte ihm zu. »Sie sind Karl Borchert, richtig?«

Karl trat in die Tür. Er war gerade aus dem Archiv gekommen und hatte die Eingangshalle Richtung Bibliothek auf der Suche nach Habich durchquert, als er seinen Namen gehört hatte.

»Ja … ja, richtig.« Er machte einen Schritt in das Zimmer hinein. Sie ist hübsch, schoss es ihm durch den Kopf.

»Lara Kronstedt«, sagte die Frau und stand auf.

Karl ging ihr mit ausgestreckter Hand entgegen. Ihre länglichen Augen blitzten belustigt auf, als sie seine Hand nahm. »Ich habe meinen Namen behalten.«

»Sie sind Habichs Frau?« Karl konnte nicht verhindern, dass Verwunderung in seiner Stimme mitschwang. Sie musste mindestens 30 Jahre jünger sein als ihr Mann.

Lara nickte zum Tisch, auf dem ein Imbiss mit eingelegtem Gemüse, Schinken, Obst, Brot und Käse bereitstand. »Haben Sie schon gegessen?«

Karl zögerte. »Ist Habich«, er unterbrach sich, »ist Ihr Mann noch im Haus? Ich wollte ihn kurz sprechen.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Er ist gerade los, nach Berlin, zu seinem Weinhändler. Aber er wird heute Abend zurück sein.«

»Oh, okay.« Für einen Moment ruhte Karls Blick auf ihrer Gestalt.

Sie war etwas kleiner als er, trug eine dunkelblaue, enganliegende Bluse, um den Hals eine dünne Kette. Ihr braunes Haar fiel offen über ihre Schultern, mit einer Hand stützte sie sich locker auf der Tischplatte ab.

»Also, was ist?«, sagte sie. »Sie müssen doch hungrig sein. Oder soll ich den Tisch abräumen lassen?«

»Nein, bloß nicht!« Karl lachte und verscheuchte den Gedanken, dass sie ihm angesehen haben könnte, wie er sie gemustert hatte. »Ich hab mich schon gefragt, wo ich etwas zu essen herbekomme.«

Er zog sich einen Stuhl heran, sah, dass sie sich wieder hinsetzte, und nahm ihr gegenüber Platz.

»Haben Sie sich denn schon einen ersten Überblick verschaffen können«, fragte sie. »Ich dachte, Sie kommen heut gar nicht mehr aus dem Archiv heraus.«

Karl nahm sich ein Stück Weißbrot aus dem Korb und tat sich etwas von dem Gemüse auf seinen Teller. »Die Materialfülle ist wirklich überwältigend.« Er warf ihr einen Blick zu. »Haben Sie auch mit Philosophie etwas zu tun?«

Lara stellte das Wasserglas, an dem sie genippt hatte, wieder hin. »Nicht wirklich. Ursprünglich habe ich Medizin studiert und mich auf Neurologie spezialisiert. Später habe ich über Sprachstörungen gearbeitet und ein Studium der Linguistik angeschlossen. Seit letztem Jahr habe ich einen Lehrauftrag für Neurolinguistik an der Uni München.«

»Das klingt sehr aufregend.«

»Und Sie?« Ihre braunen Augen wanderten über sein Gesicht.

Er grinste. »Ich hab meine Assistentenstelle in Berlin gerade gegen die Wand gefahren.« Das kam zwar nicht ganz so locker raus, wie er sich das gewünscht hätte, aber auch nicht allzu verdruckst.

Sie lächelte. »Das tut mir leid.«

Karl brach ein Stück von dem Weißbrot ab und stippte es in die Soße des Gemüses. »Die Forschungsgemeinschaft wollte nicht so wie ich.« Er schob sich das Brot in den Mund.

»Und jetzt?«

»Mal sehen.« Er schluckte herunter. »Erst mal soll ich mich ja hier um das Archiv Ihres Mannes kümmern.«

Lara lehnte sich zurück. »Ja, das habe ich schon gehört. Wie lange werden Sie denn bei uns bleiben?« Ihre Augen blinkten vergnügt. »Um Himmels willen, nicht dass Sie das Gefühl bekommen, ich wollte Sie loswerden. Urquardt ist so groß, da kann man Monate verbringen, ohne einander über den Weg zu laufen.«

Karl goss sich etwas Wasser in das Glas, das an seinem Platz stand. »Ich weiß nicht, wie lange ich brauchen werde.« Er schaute auf. »Noch habe ich ja nicht einmal genau verstanden, was ich hier machen soll.« Er sah, wie sie ihn abwartend anschaute. »Aber … eigentlich hatte ich immer gehofft, selbst forschen zu können, nicht unbedingt nur die Notizen eines anderen zu sortieren.«

»Das kann ich verstehen.«

Karl lehnte sich ebenfalls zurück. »Seitdem die Forschungsgemeinschaft mein Projekt abgelehnt hat, geht es mir allerdings ein bisschen so wie Ihrem Mann …«

Sie legte den Kopf auf die Seite.

»›Ich weiß nicht weiter‹?«

»Sie meinen die Melancholie oben im Archiv.«

Karl nickte. »Eine Wahnsinnsarbeit.«

Lara lächelte. »Ich bin froh, dass das vorbei ist. Er hat monatelang an der Analyse gesessen, und dann noch einmal, ich glaube, sechs Wochen lang gearbeitet, um das Ganze an die Wand zu kritzeln.«

»Und was hat es gebracht?«, hörte Karl sich fragen – gleichzeitig von dem Gefühl durchzogen, dass das vielleicht ein wenig aufdringlich war.

Aber Lara schien es nicht so zu empfinden, denn sie antwortete mit großer Selbstverständlichkeit. »Das war es ja gerade. Deshalb hat er die Melancholie ja als Bild gewählt. Es hat ihn im Kreis geführt. Zurück zu Platon, Descartes und Wittgenstein, deren Gedankenexperimente ihn seit seinem Buch von ’84 ja ohnehin nicht mehr losgelassen hatten.«

»Die drei Fragen in der Teufelsfratze.« Karl hatte sich vorgebeugt. »Woher weiß ich, dass ich nicht nur Schatten der Wirklichkeit sehe? Woher, dass nicht ein Dämon mich täuscht? Woher, dass der Pfeil → nicht ›Geh nach links‹ bedeutet?«

»Ja«, sagte Lara und sah ihn an. Es kam ihm so vor, als hätten ihre braunen Augen Fühler, die bis in seine Bauchhöhle hinabreichten. »Die Augen des Dämons, so nennt er das.«

 

 

Aus: »Abschlussbericht der Urquardt-Kommission«, Anlage D: Aussage Hauptkommissar Ingo Peters, S. 26 ff.

 

»Vorsitzender: Sie kannten Frau Kronstedt also.

Peters: Nicht besser als die anderen im Dorf. Ich hatte sie ein paarmal gesehen, man hat sich gegrüßt, zwei Worte gewechselt, das war’s.

Vorsitzender: Was hielten Sie von ihr?

Peters: Sie fiel auf, ganz klar.

Vorsitzender: Inwiefern?

Peters: Sie ist hübsch, okay? Hübscher als Frauen sonst so, mein ich. Natürlich haben wir uns gefragt, was sie von Herrn Habich wollte. Sie hätte doch seine Tochter sein können. Gut, das Haus, er konnte ihr schon was bieten. Aber dann … Habich war uns immer ein wenig unheimlich … also ›unheimlich‹, das ist jetzt vielleicht übertrieben, aber … wissen Sie, sie, seine Frau, die sah man manchmal noch im Dorf. Aber ihn? Nie. Wenn man ihn sah, dann hinter den Scheiben seines Geländewagens, mit dem er über die Hauptstraße bretterte. Da guckte er nicht rechts und nicht links. Ich hab die ganze Zeit über, die er bei uns gewohnt hat, kein einziges Wort mit dem Mann gewechselt. Frau Kronstedt aber, wenn man die auf der Straße traf, grüßte sie einen, fragte nach den Kindern … Erst dachte ich, sie wäre einfach nett, doch dann … Wissen Sie, wenn wir uns im Dorf über sie unterhielten, es kam uns so vor … ich weiß nicht … als ob sie so was wie die strahlende Oberfläche wäre. Aber dahinter, verstehen Sie, da lauerte irgendwie er. Denn das Haus allein, ich meine, irgendwas muss sie an ihm doch gefunden haben. An dem alten Mann. Nur das Übliche, das Geld, die Sicherheit? Das konnte man sich bei ihr gar nicht vorstellen. Und dann dachten wir, was ist das wohl, was die beiden zusammenschweißt.«

 

 

Karl schob seinen Teller zur Seite. Das Essen war vorzüglich gewesen, wie schon am Abend zuvor. Sie hatten ein wenig über das Schlösschen geplaudert, über den Park, über das Leben auf dem Land. Dabei hatte sich Karl jedoch vor allem eine Frage aufgedrängt, die er sich entschloss, nun doch zu stellen, auch wenn es vielleicht ein wenig misstrauisch klang.

»Ein Lehrauftrag in München, sagten Sie? Aber es ist mitten im Semester. Müssen Sie sich nicht um Ihre Studenten kümmern – oder pendeln Sie regelmäßig?«

Lara griff sich in die Haare, so dass sich unwillkürlich ihre Brust ein wenig nach vorn wölbte. »Ja, das stimmt, ich hab mir ein Sabbatical genommen.« Sie schlang die Haare zu einem leichten Knoten und legte ihn über die Schulter nach vorn.

»Wollen Sie die Zeit für ein größeres Projekt nutzen?« Karl lächelte. »Ein Buch?«

Sie zögerte mit der Antwort. »Ja … das heißt nein, nein, es ist … es hat mit Leo zu tun.« Sie zog die dünne Strickjacke, die sie über die Bluse geworfen hatte, enger zusammen.

»Wieso, was ist mit ihm?« Karl sah sie an. Der Duft ihres Parfüms, der sich gelöst hatte, als sie in ihren Haaren gewühlt hatte, kitzelte ihn in der Nase.

»Er … es geht ihm nicht so besonders in letzter Zeit«, sagte sie, und ihr Blick wanderte an Karl vorbei.

Deshalb nimmt sie sich ein Freisemester? »Darf man fragen, wo Sie sich kennengelernt haben?« Karl lachte. »Oder lieber nicht?« Er hob beide Hände.

Lara lächelte. »Das war auf einem Symposium, ich habe dort einen Vortrag gehalten. Ein befreundeter Professor hat mir Leo vorgestellt. Er selbst hat nicht vorgetragen, aber er hat sich die Vorträge angehört.« Sie atmete aus. »Lang ist’s her. Ich weiß auch nicht, was mit ihm ist. Er hat sich seit damals völlig verändert. Er hat schon immer viel gearbeitet, aber jetzt … erst das Diagramm, dann die Reise …« Sie sah zu Karl. »Ein Jahr lang sind wir durch Europa gefahren, er war wie besessen – seitdem hat er sich eigentlich nicht mehr erholt.«

Ein Philosoph auf Reisen? »Ich dachte, Philosophen brauchen nur ein stilles Eckchen, um ihrer Arbeit nachzugehen«, sagte Karl.

Lara erwiderte sein Lächeln. »Nein, nein, er hat was gesucht.«

Und als sie das sagte, fühlte Karl plötzlich einen Stich. Sie hatten sich doch gerade erst kennengelernt. Warum erzählte sie ihm das alles? Er hatte sie gefragt, wo sie Habich begegnet war – und sie erzählte ihm, dass sie herumgereist sind, um etwas zu suchen?

»Ich hoffe, ich überfalle Sie nicht zu sehr mit meinen Sorgen«, sagte Lara, und Karl bemerkte, dass sie ihn aufmerksam ansah. »Wissen Sie, Forkenbeck hat mehrfach von Ihnen gesprochen.«

»Ach ja? Und was hat er erzählt?«

»Nur das Beste«, lachte sie. »Er war wirklich voll des Lobes.«

Karl grinste. »Na, das freut mich.«

»Leo hat sich Ihre Arbeiten besorgt, er hat sich richtig gefreut, als er hörte, dass Forkenbeck Sie überzeugen konnte, hierherzukommen. Dass Sie ihm ein wenig helfen würden.«

Karl verschränkte die Arme.

»Es gibt nicht so viele Leute, die sich so gut wie Sie auf dem Gebiet auskennen, auf dem Leo forscht.«

»Dann hat Forkenbeck mich ja gut ausgesucht«, sagte Karl.

»Ja, das denke ich auch.«

Aber sie klang plötzlich etwas einsilbig.

»Stimmt was nicht?« Karl löste die Arme wieder und sah, wie ihre Augen erneut über sein Gesicht wanderten.

»Nein, nur … deswegen ist es so schade, dass Sie bald wieder abfahren werden. Ich glaube, Ihre Anwesenheit hier würde Leo guttun.«

Karl lächelte erneut. »Keine Sorge, so eilig habe ich es nun auch wieder nicht.«

Aber diesmal ging sie auf sein Lächeln nicht ein, sondern blieb ernst. »Wirklich … ich –« Sie unterbrach sich und stand auf. »Was halten Sie davon, noch einen Kaffee zu trinken, im Frühstücksraum?«

»Gern.« Karl strahlte. Er liebte es, nach dem Essen einen Kaffee zu nehmen.

Er erhob sich ebenfalls und ging um den Tisch herum, um zur Tür zu gelangen, an der sie auf ihn wartete. Um sie vorzulassen, blieb er kurz stehen, folgte ihr dann in die Eingangshalle, deren Steinplatten im Schachbrettmuster bis zur Bibliothek reichten. Plötzlich spürte er, wie er gegen etwas Weiches stieß, sah irritiert auf – und stellte fest, dass er aus Versehen gegen sie gelaufen war. Als er auf die Steinplatten geschaut hatte, hatte er nicht bemerkt, dass Lara vor der Marmorskulptur stehen geblieben war, die am Ende der Freitreppe stand.

Plötzlich war ihr hübsches Gesicht unmittelbar vor seinem – verwirrt machte Karl einen Schritt zurück. »Entschuldigen Sie, hab ich Ihnen weh getan?«

Lara lachte. »Sie müssen entschuldigen … ich –« Sie winkte ab und deutete auf die Statue. »Die Figur hier, ist sie Ihnen schon aufgefallen? Leo ist furchtbar stolz darauf, er hat sie aus Wien mitgebracht. Sie soll im Besitz der Familie Wittgenstein gewesen sein.«

Karl nickte. »Ja, ich hab sie gleich bemerkt.« Er schaute zu der Skulptur – und sah erst jetzt, dass aus dem Winkel, in dem er gerade stand, sein Blick an dem Tuch, das die Marmorfrau über sich zog, ein wenig vorbeiging, so dass die junge Frau weniger verhüllt erschien als vielmehr nackt, dass er direkt auf ihre vollen Brüste schaute, die sich sanft an dem darüberliegenden Stoff zu reiben schienen.

»Gefällt sie Ihnen?«, hörte er Lara neben sich sagen. »Hier, fühlen Sie mal – es ist unglaublich.« Im selben Moment hatte sie seine Hand ergriffen und führte sie zum Körper der Nackten. Überrascht wollte Karl etwas sagen, aber da hatte Lara seine Hand schon auf die Außenseite des Marmorschenkels gelegt und schob sie sanft über den Schenkel hinweg zu seiner Innenseite, so dass Karl in seiner Handfläche den glatten gewölbten Stein spürte und auf dem Handrücken die warme Berührung Laras, die neben ihm stand. Sein Blick schnellte zu ihr, er sah, dass sie ihn anlächelte, und fühlte förmlich, wie ihre Lebendigkeit ihn ansprang. Unwillkürlich musste er auf ihre Lippen blicken, die sie mit ein wenig rotbraunem Lippenstift akzentuiert hatte und die sich jetzt langsam teilten, während der Duft, der von ihren Haaren ausging, ihn ganz umfing.

»Kann ich dann abräumen?«

Wie in Eiswasser geworfen, riss er seine Hand zurück und fuhr herum.

Hinter ihnen, am Durchgang zum Speisezimmer, stand Frau Janker, das Gesicht undurchdringlich, den Blick auf die Hausherrin gerichtet.

»Ja, sicher, Frau Janker«, kam es von Lara, eine Spur höher, schien Karl, als sonst. »Vielen Dank, das Essen war sehr gut.« Sie steckte die Hand, die blitzartig seine losgelassen hatte, in die Seitentasche ihrer Wolljacke.

Frau Janker nickte und verschwand wieder im Speisesaal, aus dem sie gekommen war. Karl wusste nicht, wo er hinschauen sollte.

»Also?«, hörte er Lara neben sich und wandte ihr den Kopf zu. »Was ist mit Kaffee?« Ein schelmisches Lächeln umspielte ihre Lippen.

Er räusperte sich. »Klar. Gehen wir.«

Sie hakte sich bei ihm ein, beugte sich, während sie durch die Halle zur Bibliothek schritten, zu ihm und flüsterte: »Die Frau spioniert mir regelrecht nach. Ich kann sie nicht ausstehen.«

Karl nickte. Er wusste nicht, wieso, aber ihm ging es genauso.

»Ich vermute, sie glaubt, sie tut Leo einen Gefallen damit«, raunte Lara, und ihre Augen leuchteten, während sie die Bibliothek betraten.

Das Klappern der Teller, die Frau Janker im Speisesaal abräumte, war nur noch entfernt zu hören.

Karl blieb stehen. »Wieso das denn?«

»Sie hofft wohl, dass er ihr dafür dankbar ist, als eifersüchtiger Ehemann«, sagte Lara, so dass Karl – von ihrer Ausstrahlung, ihrer Nähe, ihrer Attraktivität wie benommen – nicht anders konnte, als zu fragen: »Und – ist was dran?«

Da zog Lara die Hand, mit der sie sich bei ihm untergehakt hatte, wieder zurück. »Wie meinen Sie das, Borchert?« Ruhig sah sie ihm in die Augen.

Es kribbelte ihn am ganzen Körper.