31

Die Figuren standen früher im Park. Als sich abzeichnete, dass die Russen bis nach Berlin vordringen würden, ließ der damalige Besitzer sie in den Keller bringen. Wirklich schade, dass sie dort immer noch lagern, aber wissen Sie, was es kosten würde, sie wieder aufstellen zu lassen?« Habich lächelte.

»Ein Vermögen?« Karl lächelte zurück.

Es hatte dann nicht mehr lange gedauert, bis er den Tunnel nach oben ertastet hatte. Vom Keller aus war er über die Treppe, die Basti ihm gezeigt hatte, ins Erdgeschoss und schließlich zu seinem Zimmer gelangt. Nachdem er sich frische Sachen angezogen hatte, hatte er Habich in der Bibliothek gefunden, wo er auf dem Sofa liegend in ein Buch vertieft gewesen war.

»Der Kanal führt bis zum See«, berichtete Habich. »Ich bin mit dem Boot die Strecke einmal abgefahren. Angeblich sollen sich die Vorbesitzer des Hauses ihre Vorräte zum Teil auf diesem Weg haben liefern lassen.«

Karl nickte. »Und die Tür? Wohin führt die Stahltür?«

Habich legte das Buch zur Seite, das er immer noch in der Hand gehalten hatte. »Das muss … es muss die Tür zum Heizungskeller sein, oder?«

»Ja? Dahinter war so eine Art knackendes Geräusch zu hören.«

»Meine Güte, Borchert«, unterbrach Habich ihn, »was haben Sie denn da unten eigentlich gemacht?«

Karl lehnte sich auf dem Sessel zurück, auf dem er Habich gegenüber Platz genommen hatte. Berechtigte Frage. Er wollte Basti aber nicht erwähnen. »Was glauben Sie denn? Dass mich ein Gebäude wie Haus Urquardt nicht fasziniert? Was gibt es Schöneres, als ein altes Schloss zu erkunden, wenn man sich darin schon mal frei bewegen darf!«

»Es gefällt Ihnen.« Habich strahlte. »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ein paar Bücher darüber ausleihen, Fontane hat in seinen Wanderungen ausführlich über Urquardt berichtet.«

»Ja, warum nicht«, ging Karl bereitwillig auf den Vorschlag ein, ohne dabei seine eigentliche Frage zu vergessen. »Aber sagen Sie doch mal, das Geräusch, was war das denn?«

Habich runzelte die Stirn. »Der Heizungskeller? Keine Ahnung. Oder die Gasleitung, die knackt manchmal.« Er stand auf. »Ohne Licht? Das muss sich ja gruslig angehört haben.«

Karl wurde den Eindruck nicht los, dass Habich ihm etwas verschwieg. »Geht das Versteckspiel jetzt wieder los?«

Habich wandte sich ab, scheinbar, um mit einem Zettel die Stelle im Buch zu markieren, bis zu der er gelesen hatte, in Wirklichkeit jedoch – dessen war sich Karl sicher –, um seine Irritation zu verbergen.

»Meinen Sie nicht, Sie gehen ein bisschen weit, Borchert?« Er schaute wieder auf. »Keiner hält Sie hier fest.«

Sein Blick war fest auf Karls Gesicht gerichtet, aber er musterte ihn nicht etwa herausfordernd oder empört, sondern eher neugierig, beinahe mitfühlend.

»Ja, ich weiß«, sagte Karl. »Sie müssen entschuldigen. Es ist … es ist alles noch so neu für mich.«

»Sie wollen also bleiben?«

»Sollte ich nicht?«

»Es ist Ihre Entscheidung, junger Mann, die kann ich Ihnen nicht abnehmen.«

Karl wusste nicht, woran es lag, aber das Lächeln seines Gastgebers wirkte auf ihn wie das Lächeln eines verwundeten Tieres. Habichs Gefährlichkeit, die Karl bei anderen Gelegenheiten geglaubt hatte aufblitzen zu sehen, schien durch eine seltsame Verletzlichkeit verdrängt, die Karl auch in den vergangenen Tagen schon aufgefallen war und die innerhalb der letzten Stunden noch weiter hervorgetreten zu sein schien.

»Dort unten im Keller – was ist es, das Sie dort verstecken?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Warum nicht?« Karl breitete die Hände aus. »Haben Sie Angst, dass ich die Behörden alarmiere? Das brauchen Sie nicht. Das ist doch lächerlich.«

»Passen Sie auf, ich will Ihnen eine einfache Geschichte erzählen«, erwiderte Habich, der Frage ausweichend, »dann kommen wir vielleicht am besten weiter.« Er machte eine kleine Pause, wie um sich Karls Aufmerksamkeit zu vergewissern. Als der ihn herausfordernd ansah, fuhr er fort: »Ich war schon immer ein Fan der Phänomenologie – jetzt also eine kleine phänomenologische Übung. Versuchen wir einmal, uns vorzustellen, was in unserm Körper abläuft, wenn wir uns entscheiden, etwas ganz Alltägliches zu tun. Wenn wir uns zum Beispiel entscheiden, die Hand zu heben. Einverstanden?«

War er endlich bereit, etwas preiszugeben? Karl nickte. »Einverstanden.«

»Also. Wie soll das gehen? Die Hand geht einfach hoch?«

»Na ja, kommt drauf an.« Karl zögerte mit der Antwort. »Wenn wir einen Entscheidungsprozess betrachten wollen, würde ich früher ansetzen. Also: Ich überlege, treffe die Wahl, das heißt, ich entscheide mich für eine Handlung – in dem Moment führe ich die Handlung aus, und es geschieht: Die Hand geht hoch.«

»Okay. Betrachten wir das mal genauer. Es gibt also so etwas wie einen Ich-Kern, ja? Sozusagen der Ausgangspunkt meiner Entscheidung. Was brauchen wir noch? Denken wir zum Beispiel daran, was passiert, wenn ich ein Bild betrachte. Ich sehe ja nicht immer das ganze Bild. Im Zentrum meiner Aufmerksamkeit steht nur ein ganz bestimmtes Detail. Richtig? Mein Blick wandert über das Bild, zu den Augen, wenn ein Gesicht dargestellt ist, zum Mund, und so weiter. Wie wollen wir das beschreiben? Es ist vorgeschlagen worden, zu sagen, dass mein Aufmerksamkeitsstrahl, der von meinem Auge bis zum Bild reicht, das ist, was übers Bild wandert. Haben Sie ein Problem mit diesem Begriff?«

»Nein.«

»Gut. Wir haben also einen Aufmerksamkeitsstrahl und einen Ich-Kern. Wir können auch sagen, der Aufmerksamkeitsstrahl geht vom Ich-Kern aus.«

Karl sah ihn an. Worauf wollte er hinaus?

»Was geschieht nun, wenn ich die Hand hebe?«, fuhr Habich fort. »Ich richte den Aufmerksamkeitsstrahl meines Ich-Kerns auf die Hand, denke: Jetzt hebe ich die Hand. Dann geht sie hoch.«

»Wenn ich die Hand nicht einfach so hebe, ohne mich vorher dafür zu entscheiden.«

»Ja, das haben wir ja gesagt: Wir wollen eine bewusste Entscheidung zum Heben der Hand betrachten.«

»Worauf wollen Sie hinaus, Habich?«

»Moment, lassen Sie mich das erst zu Ende bringen.« Wieder Kunstpause, bevor Habich fortfuhr: »Betrachten wir diesen Prozess noch mal ein wenig genauer. Also. Wie geht die Hand hoch?«

»Die Muskeln kontrahieren, dadurch geht sie hoch.«

»Also richte ich den Aufmerksamkeitsstrahl auf die Hand – und der Körper weiß dann, welche Muskeln er kontrahieren muss?«

»So in etwa.«

»Woher weiß der Körper das?«

Karl sah ihn an. »Mein Körper weiß das – ich doch nicht.«

»Hm. Noch mal überlegen. Also. Der Ich-Kern will, dass sich die Hand bewegt. Also muss er letztlich in irgendeiner Form auf einen anderen Bereich des Gehirns einwirken, der dann wiederum auf einen anderen Bereich einwirkt, und so weiter, bis auf den Muskel eingewirkt wird, der die Hand bewegt. Richtig?«

»In irgendeiner Form? Das lässt viel Spielraum.«

»Kann man wohl sagen. Worauf ich hinauswill, ist davon, wie man diesen Spielraum ausfüllt, aber ganz unabhängig. Denn das Problem liegt im Ich-Kern. Wie soll er das denn tun, was wir jetzt ›einwirken‹ genannt haben? Wie soll er etwas verursachen? Egal, wie wir uns das vorstellen, ob er Zellen zum Feuern bringt oder sonst was bewirkt – es ist eine Kausalkette, die er auslösen muss, und die darin gipfelt, dass sich die Hand bewegt. Aber wie wird der erste Impuls ausgelöst, der am Anfang der Kausalkette steht? Das Problem erinnert ein wenig an Aristoteles, der nach dem ersten Beweger gefragt hat. Wie kommt die Bewegung in das, was wir hier den Ich-Kern genannt haben? Wird er von außen angestoßen? Wo bleibt dann unsere Willensfreiheit? Besteht er aus zwei Hälften? Die eine setzt die andere in Bewegung? Wie ist dann aber die erste Hälfte in Bewegung versetzt worden?«

Unruhig stand Habich vom Sofa auf und begann, in der Bibliothek auf und ab zu laufen. »Sie sehen, wir haben es hier mit einem unendlichen Regress zu tun«, fuhr er fort, während Karl ihm zusah. »Wir können diese ohnehin schon atomare Vorstellung, den Ich-Kern, wenn wir es denn unbedingt wollen, auch noch einmal oder unendliche Male zerteilen, in der Hoffnung, auf diese Weise zu verstehen, wie es möglich ist, dass ich mich entscheiden kann, meine Hand zu heben. Das ändert aber nichts daran, dass wir nicht begreifen können, wie die Verbindung zwischen der Entscheidung und dem Ausführen der Handlung aussehen soll.«

»Gleichwohl ist es kein Problem, die Hand zu heben«, warf Karl ein.

»Sehen Sie – das ist genau, was ich sagen will.« Habich blieb stehen. »Und was schließen wir daraus, dass wir die Hand ohne weiteres bewegen können, dass wir uns aber nicht verständlich machen können, wie das möglich sein soll – also begrifflich nicht vorstellen können?«

Karl hob die Hände. »Es muss also irgendwie anders ablaufen.«

»Genau!« Habichs Augen glühten. »Und wie?«

Karl sah ihn an, sagte aber nichts.

»Ich weiß es auch nicht, Borchert.« Es war wieder Habich, der sprach. »Aber all diese Fragen kreisen um den Themenkomplex, den ich hoffe, in nächster Zeit ein wenig besser durchleuchten zu können.«

Karl dachte nach. »Sie wollen wissen, wie man sich entscheiden kann, ein bestimmtes Wort zu wählen. Das ist die Verbindung zur Sprache, die bei Ihnen ja – wie Sie selbst sagen – im Zentrum der Untersuchung steht.«

Habich nickte. »Beim Problem der Wortwahl wird das, was ich eben anhand der Handbewegung ausgeführt habe, noch einmal besonders sinnfällig. Und wenn man es noch einmal zuspitzt, lautet die Frage: Wie kann ich mich entscheiden, ein bestimmtes Wort zu denken? Denke ich erst, dass ich es denken will – und denke es dann? Humbug. Das wäre zirkulär. Was aber läuft dann ab? Und es ist ja keine Frage, dass ich ohne Probleme ein beliebiges Wort denken kann. Wie aber kann ich mich dafür entscheiden, dieses Wort zu wählen? Sozusagen: Wie kann ich es aufrufen, wenn der Name des Wortes doch das Wort selbst ist?«

Er sah Karl an. »Was ich meine – und ich sehe, Sie können mir folgen«, Habich nahm seinen Weg wieder auf, »was ich meine, ist, dass wenn wir versuchen, uns diese mentalen Prozesse zu vergegenwärtigen, dann stellen wir fest: Wir können nicht entscheiden, was wir denken wollen.«

»Was denn nun, ist es falsch, wenn wir glauben, wir könnten uns entscheiden, die Hand zu heben, oder ist es falsch, wie wir versuchen, den Prozess zu beschreiben?«

Habich lachte. »Wie soll man das beurteilen? Manchmal glaube ich fast, dass es eine Charakterfrage ist, zu welcher Antwort man neigt. Manche glauben, unser Glaube an unsere Willensfreiheit ist ein Irrtum, andere glauben, wir müssten nur noch herausbekommen, wie diese Willensfreiheit realisiert ist. Zu welcher Gruppierung tendieren Sie, Borchert?«

Karl verschränkte die Arme. Das hatte er sich so vereinfacht tatsächlich noch nie gefragt. »Willensfreiheit, das war nie mein Spezialgebiet … darüber sind ganze Bibliotheken geschrieben worden –«

»Kommen Sie, keine Ausflüchte jetzt. Ich sagte es doch gerade: Ich halte es für eine Charakterfrage.«

Karl atmete aus. »Ich soll offenen Auges feststellen, dass ich nicht Herr meiner selbst bin?« Das kam ihm so aberwitzig vor, dass er sich glatt mit dem Finger gegen die Stirn tippte. »Ich bin doch nicht blöd.«

Habich schnaufte gutgelaunt, durchaus empfänglich für Karls spontane Abwehrhaltung. »Also was? Lieber über die Dinge nicht nachdenken?«

»Nein, man kann ja versuchen, eine bessere Theorie zu entwickeln. Vielleicht ist allein schon das Konzept der Kausalkette in diesem Zusammenhang irreführend.«

»Ach ja, und stattdessen? Wie wollen Sie sich selbst als Herr im Haus retten, wenn Sie die Kausalkette über Bord werfen?«

Karl starrte Habich an. Wenn er darauf eine Antwort wüsste, wäre er sicher nicht in die Verlegenheit geraten, den Job, Habichs Papiere zu sortieren, annehmen zu müssen. Aber das behielt er für sich.

»Kommen Sie«, sagte Habich und deutete mit dem Kopf zu der Tür, die von der Bibliothek in die Eingangshalle führte, »ich will Ihnen etwas zeigen.«