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Als Karl um Punkt elf Uhr Forkenbecks Arbeitszimmer betrat, waren die Vertreter der Forschungsgemeinschaft bereits eingetroffen. Eine kurzhaarige Frau, Anfang 50, die sich als Gisela Kortner vorstellte, und ein jüngerer Mann, den sie als Julian Goblett präsentierte, hatten an dem runden Tisch vor dem Fenster Platz genommen. Beide hatte Karl noch nie gesehen. Etwas hilflos schaute er zu Forkenbeck, der an seinem Schreibtisch mit Gläsern und einer Mineralwasserflasche hantierte, fing aber von seinem Professor nur einen leicht verschleierten Blick auf, der zwischen Wohlwollen, Aufmunterung und dem Signal »Das ist jetzt dein Ding, Junge« zu schwanken schien. Karl überlegte kurz, ob er eine erfrischende Bemerkung parat hatte, die die aufgeladene Stimmung in dem Zimmer ein wenig auflockern könnte. Da ihm jedoch nichts Passendes einfiel, blieb ihm nichts anderes übrig, als so ruhig und souverän wie möglich zu lächeln und sich zu den beiden an den Tisch zu setzen.
»Wir haben Ihr Exposé sehr aufmerksam gelesen, Herr Borchert«, sagte Kortner nach dem üblichen einleitenden Geplänkel schließlich und hob den Antrag auf, der vor ihr auf dem Tisch lag. »Eine wirklich beeindruckende Bewerbung.« Wie geistesabwesend begann sie, darin zu blättern.
Warum fängt sie mit einer positiven Bemerkung an?, schoss es Karl durch den Kopf. Müsste sie nicht sagen: Wirklich in unseren Zuständigkeitsbereich fällt Ihr Anliegen zwar nicht, aber … Fing sie jedoch mit dem an, was sie gut fand, was sollte dann nach dem aber kommen, das zwangsläufig kommen musste, so wie er die Frau einschätzte?
»Der Komplexitätsgrad Ihres Forschungsvorhabens ist bemerkenswert«, hörte er sie sagen. »Wirklich.«
Aber?, hallte es in Karls Kopf. Aber?
»Sie schlagen vor, eine Population von Automaten zu erzeugen, sehe ich das richtig?« Kortner sah ihn an.
Er riss sich zusammen. »Genau. Es sind sozusagen radikal vereinfachte Modelle von Personen. Auf diese Weise können wir Fragen, die schwierig zu analysieren sind, wenn von Menschen die Rede ist, auf eine einfachere Ebene übertragen.«
Goblett und Kortner sahen ihn an. Das war jetzt der entscheidende Moment. Jetzt musste er das Ding verkaufen!
»Lassen Sie mich das Projekt kurz skizzieren«, beeilte er sich hinzuzufügen – und musste gleichzeitig wieder daran denken, dass die beiden sich ihr Urteil doch längst gebildet haben müssten.
»Ja?«, gab Kortner sich interessiert.
»Ausgangspunkt meiner Überlegung war, dass die Personen der Minimalwelt, die wir in dem Projekt definieren, als unterschiedlich hilfsbedürftig modelliert werden.« Er starrte in die Gesichter der beiden Beamten. »Und sie befolgen unterschiedliche moralische Regeln. Die eine Person ist egoistischer, die andere kooperativer. Die moralischen Regeln legen also fest, wie sich die Personen in Begegnungen mit anderen Personen entscheiden. Ob sie helfen oder ausbeuten oder nichts tun, zum Beispiel. Sind alle Personen der Welt definiert, kann das Experiment gestartet werden. Je nachdem, wie die Personen nun entscheiden, sammeln oder verlieren sie Punkte. Werden sie ausgebeutet, verlieren sie Punkte, beuten sie aus, gewinnen sie Punkte. Je mehr Punkte sie haben, desto besser.« Er holte Luft. Sie unterbrachen ihn nicht. Also weiter. »Indem wir die Personen in unserer Minimalwelt aufeinandertreffen lassen, setzen wir also einen kleinen Evolutionsprozess in Gang. Und können beobachten, welche moralische Regel sich evolutionär am besten durchsetzt. Können Sie mir folgen?«
Karl sah Kortner und Goblett an. Die Augen seiner beiden Zuhörer wirkten erschreckend glanzlos. Aber das bildete er sich vielleicht auch nur ein. Jedenfalls nickten sie.
»Okay«, fuhr er fort. »Wir müssen also nicht mehr im luftleeren Raum darüber nachdenken, was gut ist und was richtig – wir können die Evolution darüber entscheiden lassen, welche moralische Regel die beste ist, also welche Regel den Personen dieser Welt am meisten zugutekommt.«
»In Ordnung. Aber das ist ja nur die erste Stufe Ihres Vorhabens«, entgegnete Kortner.
Karl warf seinem Professor einen Blick zu. Forkenbeck hatte sich mit seltsam zusammengepressten Lippen hinter seinen Schreibtisch zurückgezogen.
»Richtig«, antwortete Karl und sah wieder zu Kortner. »Dieses Modell ist im Grunde genommen nur die Basis für eine sehr viel weitgehendere Versuchsanordnung. Ansätze, die evolutionäre Stärke unterschiedlicher moralischer Handlungsweisen zu bestimmen, hat es ja schon seit den 1990er Jahren gegeben. Das wirklich Neue an dem Vorhaben, das wir anbieten, besteht darin, diese Grundidee auf ein anderes Forschungsgebiet zu übertragen.«
»Auf das Gebiet der Sprache.« Es war das Erste, was Goblett sagte. Karl schaute zu ihm hin. Vielleicht sollte er sich mehr an Goblett halten.
»Ja. Die Automaten werden zu diesem Zweck stark ausgebaut. Wir versehen sie mit einem Input- und einem Output-Kanal. Eine Matrix mit sechs mal sechs Feldern, die einzeln aufleuchten können, und die an der Außenseite jedes Automaten angebracht ist sowie eine Kamera mit dahinter geschalteter Software, die die Matrix eines anderen Automaten lesen und auswerten kann.«
»Ja«, sagte Goblett.
Ja?, hallte es in Karls Kopf. Ja? Ist das eine Zusage? Aber er ließ sich nichts anmerken. »Sowohl die moralische Regel, die ein Automat befolgt, als auch seine Hilfsbedürftigkeit werden durch ein bestimmtes Aufleuchten der Matrixfelder dargestellt«, sagte er. »Jeder Automat erkennt somit, welche Regel jeder andere Automat befolgt und wie sehr der andere auf Hilfe angewiesen ist.« Wieder hielt er inne, um sich der Zustimmung seiner beiden Zuhörer zu vergewissern. Aber jetzt nickten sie nicht mehr.
»Das Neue an unserem Modell ist damit«, fuhr Karl stur fort, »dass die Personen der Minimalwelt nicht nur handeln, sondern auch Zeichen senden und rezipieren. Wobei entscheidend ist, dass sie – aus Gründen der Vorteilsnahme – ihr Gegenüber auch mit absichtlich unwahren Zeichen über den Grad ihrer Hilfsbedürftigkeit täuschen können. Ebenso wie sie ihr Gegenüber über die moralischen Regeln täuschen können, die sie befolgen.«
»Und ob sie ihr Gegenüber täuschen oder nicht, gehört selbst wieder zu den moralischen Regeln, die der Automat befolgt«, sagte Goblett und warf Kortner einen Blick zu.
Karl nickte. Der Mann hatte verstanden, worum es ging, keine Frage. »Natürlich sind die Regeln, die die Automaten befolgen, nicht starr implementiert«, sagte er, »sondern flexibel. Dazu genügt ein einfacher Lern-Algorithmus. Je nachdem, welche Erfahrungen der Automat im Laufe seines Lebens sammelt, ändert er seine Regeln ab. Und damit reguliert er auch, welche Zeichen er sendet. Während also in den früheren Versionen dieses Versuchsaufbaus lediglich untersucht wurde, welches Handlungsmuster sich evolutionär durchsetzt, untersuchen wir, welches Zeichensystem sich evolutionär herausbildet.«
»Wirklich ehrgeizig, das muss man Ihnen lassen.« Kortner hatte wieder zurück in das Gespräch gefunden. Und der Ton, den sie anschlug, gefiel Karl überhaupt nicht.
Er sah zu Forkenbeck. »Haben Sie den Kollegen von unserer Kooperation mit den Amerikanern erzählt?«
Forkenbeck lächelte. Aber es war ein müdes Lächeln. »Sicher. Wir haben darüber gesprochen. Ich habe ihnen auch die Unterlagen über die erste, vorläufige Fassung des Experiments gezeigt, aus denen hervorgeht, dass es bereits ganz gut läuft. Und ich habe deutlich gemacht, dass wir am Institut ein solches Vorhaben, das einen überdurchschnittlichen Aufmerksamkeitswert verspricht, außerordentlich gut gebrauchen könnten.«
Könnten. Nicht können. Karl schaute zurück zu Kortner. Er wusste, dass es das falsche Signal war, aber langsam hatte er keine Lust mehr, dieses alberne Versteckspiel mitzumachen. »Aber?«
»Hören Sie, Herr Borchert«, hob Kortner an – und kaum hatte Karl diese vier Worte gehört, war ihm, als würde ein Kübel siedenden Öls über ihm ausgeschüttet. Das konnte doch nicht wahr sein – sie lehnten seinen Antrag ab?
»Im Grunde genommen geht es in Ihrem Vorhaben doch darum, ein bestimmtes Phänomen, das Sie erklären wollen, nachzuerschaffen«, fuhr Kortner fort. »Sie wollen das Phänomen, in diesem Fall also die Sprache, nachbauen, anstatt es mit den herkömmlichen Mitteln der empirischen Wissenschaft, also experimentell, zu erforschen.«
Karl nickte. Das war ja gerade der Witz daran.
»Das aber ist ein Forschungsansatz, den wir von der FG«, und dabei sah sie kurz zu Goblett, der mit gespitzten Lippen nickte, »nicht unterstützen können.«
»Und warum nicht?« Karls Ton war hart und scharf.
»Wer sagt uns, dass das, was Sie dabei konstruieren, mit dem, was Sie eigentlich untersuchen wollen, irgendetwas zu tun hat?« Kortner sah ihn mit ihren blauen, glanzlosen Augen unverwandt an. »Sie bauen eine Welt. Schön und gut. Aber das tun die Herrschaften, die eine Modelleisenbahn aufbauen, auch. Die Frage ist nur: Was hat so eine Modelleisenbahn mit der wirklichen Bahn zu tun?«
»Wenn wir bei der Untersuchung eines Phänomens mit der Frage ›Warum ist es so?‹ nicht weiterkommen, sollten wir fragen ›Wozu ist es so?‹, nicht: Wodurch ist es verursacht worden?, sondern: Welche Funktion erfüllt es?« Karls Stimme durchschnitt den Raum.
Aber Kortner sah bereits zu Forkenbeck. »Tut uns leid, Herr Forkenbeck, aber wir müssen das Gespräch an dieser Stelle abkürzen. Ich bin sicher, Sie haben Verständnis dafür, dass hier weder der Rahmen noch die Gelegenheit für eine Grundsatzdiskussion –«
Karl wartete nicht ab, bis sie geendet hatte. Mit einem Ruck stand er auf. Der Sessel, in dem er gesessen hatte, rutschte nach hinten. »Ihre Entscheidung steht fest?«
Kortner blieb sitzen. »Ich habe bereits davon gehört, dass Sie hier im Haus so etwas wie einen Sonderstatus genießen, Herr Borchert. Es ist viel die Rede von Ihren brillanten Ideen. Ich habe mir Ihren Antrag deshalb sorgfältig angesehen. Aber ich kann nichts Brillantes daran entdecken.«
Ruhig sah sie ihn an. Karl hatte das Gefühl, dass sie es fast genossen hatte, ihm das zu sagen. Er war so perplex, dass Kortner schon weitersprach, bevor er sich gesammelt hatte.
»Mir ist durchaus bewusst, dass Ihre Laufbahn an diesem Institut mit unserer Ablehnung beendet ist. Und dass Sie erhebliche Schwierigkeiten haben werden, an einer anderen Stelle unterzukommen. Ebenso wie ich vollkommen verstehen kann, wenn Sie mit den herkömmlichen Herangehensweisen unserer Disziplin nicht zurechtkommen. Vielleicht aber«, fuhr sie fort, »sollten Sie sich dann überlegen, ob Philosophie überhaupt das Richtige für Sie ist.«
Karl fühlte, wie ihm die Luft abgedreht wurde. Sein Blick irrte ein letztes Mal zu Forkenbeck. Der saß an seinem Schreibtisch, die Augen nunmehr gänzlich erloschen.
Er musste raus hier – sofort.
»Orientieren Sie sich neu«, hörte er Kortner hinter sich herrufen, während Karl schon zur Tür stolperte. »Wenn Sie wirklich so brillant sind, dürfte Ihnen das doch nicht schwerfallen.«