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Aus: »Den Spieß umdrehen. Freiheit – Determinismus – Zwang«, Autobiographie von Lara Kronstedt, Berlin 2016, S. 42
»Als ich Karl Borchert in Urquardt zum ersten Mal traf, hatte ich auf Anhieb das Gefühl, dass Forkenbeck gut daran getan hatte, ausgerechnet ihn zu Habich zu schicken. Nicht, weil Karl besonders feinfühlig oder zurückhaltend gewirkt hätte. Obwohl er das durchaus war. Der eigentliche Grund, weshalb ich sicher war, dass er und Leo gut miteinander auskommen würden, war der, dass Karl – wie Leo – von Anfang an den Eindruck vermittelte, bereit zu sein, für eine einzige gute Idee alles andere zu vernachlässigen. Sie müssen sich das vorstellen wie bei einem Verdurstenden, der plötzlich Wasser sieht. Er vergisst einfach alles andere, alles um sich herum. Wo er ist, wer bei ihm ist, ob zwischen ihm und dem Wasser ein Graben mit glühenden Kohlen liegt … es ist, als würde der Gedanke daran, mit diesem Wasser seinen Durst zu löschen, von ihm geradezu Besitz ergreifen, ihn steuern. Er wird regelrecht Sklave des Gedankens. In gleicher Weise, so hatte ich von Anfang an das Gefühl, war Karl Borchert Sklave seiner Gier nach Erkenntnis. Und das hatte er mit Leo gemein.«
Karl saß am Schreibtisch in seinem Gästezimmer und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Er fühlte sich ein wenig benommen. Vielleicht lag es nur daran, dass er die letzte Nacht kaum geschlafen hatte. Sicherlich hatte es aber auch mit seinem Vater zu tun. Er war elf Jahre alt gewesen, als sein Vater tödlich mit dem Auto verunglückt war. Damals hatte Karl gedacht, er würde nie darüber hinwegkommen.
Er stierte auf sein Gesicht, das von der Fensterscheibe auf der anderen Seite des Schreibtischs gespiegelt wurde. Was würde er nicht für ein kühles Bier oder eine Flasche Wein geben. Aber das ging nicht. Er konnte sich schlecht in der Küche bedienen. Nicht mit so was.
Sein Blick glitt durch die Spiegelung hindurch in die Nacht vor dem Fenster. Schwarz rauschten die Kronen der mächtigen Pappeln am Seeufer in der Dunkelheit. Hinter ihren Stämmen war die silbrige Oberfläche des Wassers zu erkennen. Ein verspieltes Funkeln und Schillern, das ihn beruhigte. Längst hatten Habich und Lara ihre Gäste verabschiedet, längst war es still im Haus geworden. Aber an Schlaf war für Karl nicht zu denken.
»Ol sonf vorsg, goho Iad balt!«
Er duckte sich unwillkürlich ein wenig. Was war das?
»Adgt v-pa-ah zongom fa-a-ip Sald vi-i-v.«
Eine männliche Stimme. Weit entfernt, irgendwo im Haus – aber deutlich zu vernehmen.
Mit wenigen Schritten war Karl an der Tür seines Zimmers, riss sie auf und stand auf dem Flur.
»Micma goho piad zir com-selh, a zien biab os londoh!«
Die Stimme kam vom Stockwerk unter ihm.
Karl setzte sich in Bewegung. War das der Haushälter? Janker? Allein der Gedanke an den Mann bereitete ihm körperliches Unwohlsein. Wenn er ihm jetzt gegenüberstehen würde, hätte er allerdings die Hände frei. Und er konnte deutlich hören, was der andere sagte – auch wenn er es nicht verstand. Das waren keine Laute auf einer Frequenz jenseits des Hörbaren. Das waren Worte, Sätze, das bildete er sich nicht ein. Das war wirklich.
Karl hatte das Ende des Korridors erreicht und begann, die Treppe hinunterzusteigen. Ein schwacher Lichtschein drang von unten zu ihm herauf.
»Othil lasdi babge od dorpha Gohol G chis ge auauago cormp pd dsonf vi v-di-v!«
Die Laute, die er vernahm, klangen kehlig, streng, bedrohlich, als würden sie vom Sprecher regelrecht hervorgeschleudert. Fast hatte Karl den Eindruck, als würde der Mann sie wie eine Beschwörungsformel verwenden, mit der er sich gegen etwas zur Wehr setzen wollte. War das Arabisch? Hebräisch? Automatisch musste Karl an die fremdartigen Zeichen denken, die er am Rand seines Aufsatzes im Archiv entdeckt hatte.
Als er den ersten Stock erreicht hatte, sah er den Flur hinunter, der zu dem Bad führte, hinter dem das gepolsterte Zimmer lag. Ruhig und dunkel lag er da. Karl drehte sich in die andere Richtung – und sah ihn. Habich.
Er lehnte schwer an der Wand des Korridors, die Hände gegen die Schläfen gepresst.
»Habich!«, rief Karl und eilte auf ihn zu.
Abrupt sah Habich auf.
Karl prallte zurück. Durch eine offenstehende Tür fiel etwas Licht in den Gang und erhellte Habichs Gesicht. Es war vollkommen bleich. Seine Augen waren tief in die Höhlen gesunken, dunkle Schatten hatten sich um sie gelegt. Schweiß stand ihm auf der Stirn und hatte die grauen Haare verklebt. Auf seinem gestreiften Schlafanzug hatten sich große, feuchte Flecken unter den Achseln gebildet. Im ersten Moment schien er ohne Brille nichts erkennen zu können. Er kniff die Augen zusammen und zog die Schultern hoch, als wollte er einen Angriff abwehren.
»Dorphal ca osg!«, schrie er in Karls Richtung. »Od faonts peripsol tablior!«
Vorsichtig ging Karl weiter auf ihn zu. »Habich! Was ist mit Ihnen?«
Er blieb vor ihm stehen und berührte ihn behutsam an der Schulter – fuhr aber sogleich erschrocken zurück.
Habich hatte ihm mit der flachen Hand voll ins Gesicht geschlagen. Karl musste sich kurz an der Wand abstützen. Habich hatte ihn zwar nicht besonders geschickt getroffen, aber Karl hatte nicht damit gerechnet und keine Zeit gehabt, dem Hieb auszuweichen.
Fassungslos sah er, wie Habich an der Wand entlang zu Boden rutschte, dort auf die Knie fiel – und auf allen vieren vorwärtskrabbelte. Den Kopf hatte er tief zwischen die Schultern gezogen, den Rücken nach oben gebuckelt. Die dünne Pyjamahose war ihm ein wenig heruntergerutscht und drohte jeden Augenblick sein Gesäß zu entblößen.
»Was … was haben Sie?«, stammelte Karl und sah ihm nach. »Soll ich Ihre Frau rufen? Lara? Wo ist sie?« Sein Blick fiel auf einen Lichtschalter an der Wand, und er drückte dagegen. Die Lampen in dem Flur blitzten auf. Als würde ihn das Licht irritieren, verlangsamte Habich sein Vorwärtskrabbeln und verharrte schließlich reglos.
Wachsamer geworden, hielt Karl ein paar Schritte Abstand.
Unendlich langsam, wie ihm schien, wandte Habich den Kopf zu ihm um. Und jetzt, im Licht, war es Karl, als würde Habich nicht nur die Augen auf ihn richten, sondern ihn auch erkennen.
Er ging ein paar Schritte in Habichs Richtung und hockte sich neben ihn auf den Boden. Eine Wolke sauren Geruchs, nach Schweiß, Angst und Alter schlug ihm entgegen.
Habich starrte Karl verwirrt an. »Borchert, zum Teufel – habe ich Sie etwa geschlagen?«
Karl strich über seinen Wangenknochen, der sich ein wenig taub anfühlte. »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, es geht schon wieder.« Er war froh, dass sich der andere wieder ein wenig gefangen hatte.
»Sie müssen entschuldigen, das … ich – ich habe Sie gar nicht gesehen. Für einen Moment muss ich vollkommen außer mir gewesen sein.« Habich versuchte, sich auf die Beine zu kämpfen.
Karl erhob sich und half ihm auf. »Was war denn? Haben Sie das öfter?« Er hätte es nicht für möglich gehalten, dass ihm der Mann, den er in den vergangenen Tagen kennengelernt hatte, jemals in einem derartig desolaten Zustand begegnen würde.
Habich stützte sich schwer auf Karls Arm. »Nein, nein, ach was …« Er war offensichtlich vollkommen erschöpft.
»Aber die Sprache – was war das denn für eine Sprache, die Sie gesprochen haben?« Karl musste aufpassen, dass Habich ihn mit seinem Gewicht nicht umriss.
Habich wischte sich mit der freien Hand übers Gesicht und warf Karl einen hilflosen Blick zu. »Habe ich? Ja … Es ist … es ist nicht einfach, das zu erklären.«
»Ich habe so etwas noch nie gehört.«
Habichs Augen tanzten durch den Flur.
»Kommen Sie«, hakte Karl nach, »Sie sind auf allen vieren über den Flur hier gekrabbelt, was wollen Sie denn noch vor mir verbergen?«
Da beugte sich Habich plötzlich zu ihm nach vorn, und seine Augen – wässrig, gealtert, voller durchwachter Nächte – starrten Karl an. Die Jahre, die sie durchlebt hatten, die vielen Hoffnungen, die sie hatten Schiffbruch erleiden sehen, die Freudentränen, die sie vergossen hatten, das Lachen, die Wut, die Traurigkeit, Müdigkeit und Spannung, die ein Leben lang in ihnen abgelegt worden war – all das schien Karl aus diesen Augen heraus anzuspringen.
»Du musst mir helfen, verstehst du?«, flüsterte Habich. »Ich schaff es nicht allein. Du darfst mich jetzt nicht im Stich lassen.«
Die plötzliche Innigkeit, mit der Habich sich an ihn klammerte, traf Karl vollkommen unerwartet. »Natürlich nicht, wie kommen Sie denn darauf?«
Die hektische Zusage des Jüngeren schien Habich ein wenig zu beruhigen, denn er senkte den Blick und begann, noch immer auf Karls Arm gestützt, mit den langsamen Schritten eines Greises den Flur hinunterzugehen.
»Kennst du das, wenn man jahrelang an einer Sache gesessen hat?« Habichs Stimme war wieder gefasst, aber immer noch so leise, dass Karl kaum verstand, was er sagte. »Und plötzlich packt einen die nackte Angst, dass man nicht mehr genug Zeit hat, um das, was man angefangen und in das man so viel Mühe, Arbeit und Liebe gesteckt hat, noch fertigzubringen?«
Er blieb stehen und sah Karl erneut ins Gesicht. Ja, kenne ich, dachte Karl, aber dann sagte er sich, dass er erst zweiunddreißig Jahre alt war, Habich mehr als doppelt so alt wie er. Was Habichs Arbeit bedrohte, war sein Tod – bei ihm war das anders.
»Ich kann’s mir vorstellen«, sagte er vorsichtig.
»Ich weiß nicht, wie lange ich noch zu leben habe«, fuhr Habich fort. »Aber ich fürchte, viel Zeit wird es nicht mehr sein.«
Und damit nahm er seinen Gang wieder auf, festgeklammert an den Arm des Jüngeren, entkräftet, mit herunterhängender Pyjamahose und verklebtem Haar – bis er kurz vor der Tür stehen blieb, aus der der Lichtschein gekommen war.
»Haben Sie Dank, Borchert«, sagte er und ließ Karls Arm los, »hier ist mein Schlafzimmer, den Rest schaff ich allein.«
Erleichtert registrierte Karl, wie der Schalk wieder in Habichs Augen aufblitzte.
»Gute Nacht«, sagte Habich und wandte sich ab.
»Gute Nacht.«
Karl begann, den Korridor zurückzulaufen. Da hörte er Habichs Stimme noch einmal hinter sich. »Es tut mir leid«, sagte er, »ich hab mich vorhin beim Essen nicht genug um Sie gekümmert.«
Karl sah sich um. Habich stand an der Schlafzimmertür und schaute ihm nach. »Sie sind schon so lange bei uns, und wir haben uns noch immer nicht richtig unterhalten. Ich bin einfach noch nicht dazu gekommen.«
Karl nickte. »Kommen Sie schon, sagen Sie es mir«, erwiderte er. »Was Sie eben gesprochen haben, die Sprache, diese Worte. Was war das?«
»Sie würden es ja doch nicht verstehen.« Habich hatte die Hand schon auf der Klinke des Schlafzimmers.
»Haben Sie Angst, es mir zu sagen?« Karl sah ihn herausfordernd an.
»Angst? Nein, davor habe ich keine Angst.«
»Also?«
»Es war Henochisch, mein Junge.« Habich verengte die Augen zu Schlitzen. »Die Sprache der Engel.« Und damit wandte er sich ab und betrat sein Schlafzimmer.