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Schwarz und kantig ragte die Fassade von Urquardt in den Nachthimmel, als Karl seinen Wagen hinter dem Haus parkte und ausstieg. Gedämpft waren die Geräusche der Nacht zu hören, das Rascheln der Blätter, ein entferntes Zirpen, hin und wieder ein Knacken und Knistern, wenn Äste, vom Wind bewegt, gegeneinanderrieben. Karl warf einen Blick auf die Uhr. Kurz vor halb zwölf. Nicht besonders spät, und doch war kein Fenster mehr in dem Haus erleuchtet. Vorsichtig, um in der Dunkelheit nicht zu stolpern, ging er um das Gebäude herum zum Vordereingang, für den Habich ihm inzwischen einen Schlüssel ausgehändigt hatte.
Auch vorne war kein Licht zu sehen. Karl steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Knackend gab es nach, und das Eingangsportal schwenkte auf. Wie eine schwarze Höhle, deren Decke man nicht sehen konnte, tat sich die Halle vor ihm auf. Karl schlüpfte in das Haus und schloss die Tür hinter sich. Der hohe Raum wurde nur spärlich durch die langgezogenen Fenster erhellt, hinter denen sich der Nachthimmel abzeichnete. Da er nicht wusste, ob er auch oben einen Schalter finden würde, um das Licht wieder zu löschen, beschloss Karl, im Dunkeln an der Skulptur der verhüllten Frau vorbei die große Treppe zu nehmen. Janker versteckt ein zweites Kind?, fragte er sich, blieb mitten auf der Treppe stehen und spitzte die Ohren. Das dumpfe Summen, das ein Haus auch nachts erfüllt, wenn Maschinen laufen, Wasserleitungen knacken, Menschen darin atmen, wurde nur durch das Ticken der Gründerzeit-Standuhr unterbrochen, die in der Bibliothek aufgestellt war und deren Mechanik man bis in die Eingangshalle hinein hören konnte. Von dem Rufen, das Karl bei seiner Ankunft auf Urquardt vernommen hatte, jedoch keine Spur. Schon wollte er weiter treppauf – da spaltete plötzlich ein durchdringender Schrei die friedliche Ruhe.
»Nein, Leo, nicht!«
Lara!
Zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte Karl die Treppe hinauf. Die Stimme der jungen Frau gellte erneut auf, aber das waren keine Worte mehr – nur ein spitzer Aufschrei, der abrupt von einem schweren Poltern abgeschnitten wurde. Ein heftiges Schnaufen folgte, wie das Keuchen eines Tieres, das sich in einen Feind verbissen hat und um sein Leben ringt.
Als Karl die Galerie am Ende der Treppe erreicht hatte, zitterten seine Hände. Panisch tastete er die Wände auf der Suche nach einem Lichtschalter ab.
Im selben Augenblick durchschlug ein Lichtschein das Dunkel. Karl wirbelte herum – das Licht kam aus dem Flur, der in der Galerie mündete – und starrte den Korridor hinunter. Mitten im Gang stand Habich, ihm zu Füßen kauerte Lara, die Hände hochgerissen, wie um ihr Gesicht zu schützen.
»Habich!«, brüllte Karl, aber da sauste die Faust des alten Mannes schon herab und traf Lara hart ins Gesicht. Sie stöhnte auf, ihr nach oben gebäumter Leib knickte ein, schwer schlug ihr Kopf aufs Parkett.
»Lass sie los, Mann!« Außer sich rannte Karl auf Habich zu, der zugleich den Kopf hochriss und in seine Richtung starrte.
Es traf Karl wie ein Schlag. Habichs Gesicht hatte sich in den wenigen Stunden, seitdem Karl ihn zum letzten Mal gesehen hatte, tiefgreifend verändert. Er wirkte, als hätte er eine schwere Krankheit überstanden, oder vielmehr: Als hätte sie ihn noch immer in ihren Zangenhänden. Die Wangen waren eingefallen, die Haut schien zum Zerreißen gespannt. Gebückt starrte er Karl an, jeder Muskel in seinem Körper war angespannt, die Sehnen am Hals hervorgetreten, die Finger unnatürlich verkrampft. Eine Erscheinung zusammengeballter Angst und Wut zugleich, mit Augen, die tief hineingesunken waren in dunkelgraue Höhlen, Lidern, die sich zurückgeschoben hatten, so dass die Augäpfel darunter rot eingefasst glänzten, und Pupillen, die beinahe das ganze Weiß des Augapfels eingenommen zu haben schienen.
»Professor …« Entsetzt verlangsamte Karl seine Schritte, die Arme vorgestreckt, bereit zur Abwehr, angesichts eines Mannes, der wie besessen wirkte.
»Bleib stehen!«, fauchte Habich ihn heiser an.
»Was ist mit Ihrer Frau?« Karl zeigte, ohne Habich aus den Augen zu lassen, auf Lara, die noch immer am Boden lag und sich langsam von ihrem Mann weg in das Zimmer schob, an dessen Tür sie von Karl überrascht worden waren.
Aber Habich antwortete ihm nicht, starrte ihm nur ins Gesicht. Schon machte Karl einen weiteren Schritt nach vorn, beugte sich zu Lara hinunter. Da brüllte der Alte auf, trat nach Karl, verfehlte ihn, wandte sich mit einer entschlossenen Bewegung zur Wand, riss einen hinter Glas gerahmten Stich vom Nagel und schlug mit aller Kraft damit nach Karl. Der warf sich zurück. Mit lautem Knall zersplitterte das Bild an der Holztäfelung, Glasstückchen sausten durch die Luft, prasselten zu Boden. Karl riss den Ellbogen vors Gesicht, um die Augen zu schützen. Als er ihn wieder herunternahm, sah er, dass Habich sich zu den Scherben gebückt hatte, die größte davon bereits umklammert hielt. Wie ein Messer schnitt ihm das zersprungene Glas zwischen Daumen und Zeigefinger ins nackte Fleisch, das Blut floss über den Handrücken. Er richtete sich auf und ließ die Scherbe durch die Luft sausen. Aschfahl im Gesicht, den Glassplitter krampfhaft vor sich hingestreckt, den Triumph des Bewaffneten in den Zügen.
»Fass mich nicht an«, zischte er, die Augen starr auf Karl gerichtet, als spürte er nicht, wie sich das Glas in seinen Körper bohrte. Dann wich er langsam und mit erhobener Waffe in den Flur zurück.
Aus: »Das vierte Paradigma. Fakten, Protagonisten, Hintergründe«, Berlin 2014, S. 88 f.
»Lara Kronstedt hat es gesehen. Karl Borchert. Habich, natürlich. Wer noch? Der Leiter der Untersuchungskommission? Der Schutzpolizist, der in der Nacht vom 12. auf den 13. Oktober als Erster zur Stelle war? Der Kriminalbeamte, der die Ermittlungen geführt hat? Sicherlich. Ebenso der Rechtsmediziner, ebenso die Spurensicherung. Aber wer noch? Rabinowitz? Bachmann? Wahrscheinlich nicht, auch wenn es in dieser Sache viele unterschiedliche Meinungen gibt. Dennoch gilt als gesichert, dass mindestens ein halbes Dutzend Menschen das Labor betreten haben. Nicht zu vergessen diejenigen, die es in den Keller des Hauses eingebaut haben, wobei es sich höchstwahrscheinlich um Fachleute aus Holland und Belgien gehandelt hat.
Offizielle Ausführungen darüber, was sich in dem Labor befunden hat, gibt es nicht. Alles, was wir über das Labor wissen, weist jedoch darauf hin, dass sich dort lediglich Equipment befunden hat, das auch in jedem beliebigen Kreiskrankenhaus zu finden ist. Offensichtlich hat Habich nur deshalb Fachleute aus dem Ausland mit dem Einbau beauftragt, weil er die Nachfragen der Behörden umgehen wollte.
Herzstück der Anlage war mit Sicherheit die Magnetspule für die transkranielle Stimulation. Hinzu kam ein Arztstuhl, der flexibel genug war, um den Probanden einfach bewegen zu können, eine Computeranlage zur Steuerung der Elektrik, eine Videoanlage zur Überwachung der Sitzungen. Und – wie hartnäckig behauptet wird – eine Auskleidung des Raumes mit Spiegeln an Wänden, Boden und Decke. Mehr nicht.
Immer wieder werden deshalb Stimmen laut, die behaupten, dass mit einer solchen Ausstattung die Ereignisse des 12. Oktobers nicht zu erklären wären. Ihnen kann an dieser Stelle jedoch einmal mehr entgegengehalten werden, dass das, was passiert ist, ja nicht allein aufgrund des Laborequipments geschehen ist. Sondern aufgrund der sorgfältigen Vorbereitung, die Habich getroffen hatte.«
Karls Blick schnellte zu Lara. Sie hatte den Kopf auf das Parkett gelegt, die Augen weit offen, schwer atmend. Im nächsten Moment kniete er bei ihr.
»Er weiß nicht, was er tut«, flüsterte Lara und griff nach Karls Hand. Ihre war fiebrig heiß. »Wir müssen ihm helfen.«
Karl riss sein Handy aus der Tasche seines Jacketts. »Sie brauchen einen Arzt, Lara, er hat Sie voll erwischt.« Doch bevor er eine Nummer eintippen konnte, legte sie ihre Hand auf das Gerät.
»Was soll das?«, platzte es aus Karl hervor. »Wollen Sie, dass er Sie grün und blau prügelt? Der Mann steht völlig neben sich. Wir müssen die Polizei alarmieren. Und den Notarzt. Oder beide!«
»Ja, vielleicht haben Sie recht. Nur –«
Sie brach ab.
»Was?«
»Glauben Sie wirklich, dass Leo das überlebt, wenn er jetzt in eine Klinik gebracht wird?«
Karl starrte sie an. »Natürlich überlebt er das! Sind denn jetzt alle übergeschnappt? Der Arzt gibt ihm ’ne Spritze, und er kommt wieder runter. Das ist das einzig Vernünftige, was wir tun können.«
Lara setzte sich auf und strich sich das Haar, das ihr ins Gesicht gefallen war, hinters Ohr. »Ich halte das für keine gute Idee.«
Sie war blass, aber dass Habich sie geschlagen hatte, war ihr kaum anzusehen. Sie musste in letzter Sekunde den Kopf zur Seite gerissen haben.
»Und wieso nicht?« Unschlüssig, was er tun sollte, hielt Karl sein Handy in der Hand.
»Weil er bereits zu tief drinsteckt«, erwiderte Lara, stützte sich an der Wand ab und stand auf.
Mit unsicheren Schritten, aber entschlossen begann sie, den Flur in die Richtung hinunterzulaufen, in der Habich verschwunden war.
Karl blieb keine Wahl. Wenn er sie nicht allein lassen wollte, musste er hinterher. Rasch erhob er sich ebenfalls, folgte ihr durch den Flur und holte sie ein. »Was reden Sie denn da? Was soll das denn heißen, dass er zu tief drinsteckt?«
Lara blieb stehen. Es kam Karl so vor, als würden ihre Augen ein wenig zucken, aber ihre Stimme war fest. »Hören Sie, Karl, ich habe versucht, es Ihnen zu erklären. Ich war mit ihm bei den Ärzten. Sie konnten ihm nicht helfen. Ich denke nicht daran, Leo zwangseinweisen zu lassen, wenn es das ist, was Sie meinen. Er braucht meine Hilfe. Und ich werde ihn nicht im Stich lassen.«
Und damit stieß sie die Tür auf, vor der sie stehen geblieben war, und verschwand dahinter.
In Karls Kopf raste es. Warum war es nicht richtig, Habich den Ärzten zu überlassen? Allein würden sie mit ihm und dem, was ihn zu beherrschen schien, doch niemals fertig werden!
Karl drückte gegen die Tür, die hinter Lara wieder zugefallen war, und bemerkte, dass sich dahinter das kleine Badezimmer befand, durch das er gekommen war, als er auf das gepolsterte Zimmer gestoßen war. Gerade noch konnte er sehen, wie Lara durch die Schiebetür, die sich auf der anderen Seite des alten Bades befand, in die Diele trat.
»Lara!«
Karl durchquerte das Bad und holte sie ein, als Lara bereits an die Tür klopfte, die in der Diele neben dem Eingang lag, der ins Polsterzimmer führte.
»Leo. Ich bin’s. Mach auf!« Sie hatte die Hand auf die Tür gelegt und sah zu Karl.
Der trat neben sie und drückte die Klinke der Tür herunter. Sie war verschlossen. Wie das erste Mal, als er versucht hatte, das Zimmer dahinter zu betreten.
Karl lauschte. Aus dem Zimmer war nichts zu hören.
Er sah zu Lara. »Was ist hinter der Tür?«
Lara hatte die Hände auf beide Seiten ihrer Nase gelegt und sah Karl darüber hinweg an.
»Sein Arbeitszimmer«, sagte sie.