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Weißt du, ich will es nicht ewig wiederholen. Aber ich kann mir nicht ernsthaft vorstellen, dass es ein solches Wesen wirklich gibt. Wenn ich auch nur einen Moment lang versuche, klar zu denken, schreit alles in mir, dass das Unsinn ist. Eine verquere, ja unnütze Vorstellung, die nichts anderes bringt als endlose, zähe Verwirrung. Und doch: Wenn ich sozusagen die Zügel ein wenig locker lasse, nicht ganz so bedacht darauf bin, jeden meiner gedanklichen Schritte zu überwachen, dann ertappe ich mich bei der Feststellung, dass die Idee mich intuitiv durchaus anspricht.«
Karl schaute Lara an. Er hatte den ganzen Tag lang über Habichs Notizen gebrütet. Inzwischen war es Abend geworden, und sie saßen vor dem Feuer in der Bibliothek.
»Ist es nicht so, dass unser Denken geprägt ist von den Begriffsschemata, die ihm zugrunde liegen?«, meinte er. »Andere Kulturen verfügen über andere Begriffsschemata, ja andere Sprachen deuten bereits auf andere Begriffsschemata hin.«
»Ja, so sagt man«, sagte Lara und schloss beide Hände um eine durchsichtige Teetasse, die ruhig vor sich hindampfte.
»Ein Begriffsschema ist also eine Art Fassung, in der unser Denken ruht, richtig?«, fuhr Karl fort. »Im Fall einer westlichen Prägung handelt es sich vielleicht um ein materialistisches, liberales, aufgeklärtes Weltbild, et cetera, darüber will ich jetzt gar nicht sprechen. Worum es mir geht, ist, dass dieses Begriffsschema ja nicht von Anfang an in einem Menschen implementiert ist. Er wächst vielmehr in es hinein, es wird ihm durch Umfeld, Erziehung und so weiter vermittelt. Je nachdem, wo er aufwächst, hat er ein anderes Begriffsschema. Siehe Eskimos versus – was weiß ich – Menschen in einem afrikanischen Urwalddorf.«
»Okay. Weiter.« In Laras Stimme schwang eine Spur Ungeduld.
»Das alles ist natürlich trivial«, beeilte sich Karl zu sagen. »Der Punkt ist, dass so ein Begriffsschema durch und durch sprachlich realisiert ist. Und wenn wir unser Begriffsschema betrachten, stellen wir fest, dass die Vorstellung, die Sprache könnte ein von uns unabhängiger, selbständiger Parasit sein, darin keinen Platz hat.« Er machte eine Pause.
Lara sah ihn an. »Und was sagt uns das über das Wesen, um das es uns geht, wenn es denn existiert?«
»Es sagt uns, dass es sich perfekt hinter dem Begriffsschema versteckt, das es in uns aufgezogen hat«, lancierte Karl seine Pointe. »Natürlich hätte die Sprache uns auch ein Begriffsschema vermitteln können, in dem sie ihren Platz als eigenständiges Wesen gehabt hätte. Stattdessen aber hat sie uns eines vermittelt, in dem das so etwas wie ein Skandalon, ein Ding der Unmöglichkeit ist.« Er holte Luft. »Was aber kann es für einen besseren Hinweis darauf geben, dass es ein Kampf ist zwischen uns und ihr, als dass sie mit hinterhältigen Tricks arbeitet, denen wir hilflos, oder beinahe hilflos ausgeliefert sind.«
Er sah, wie Lara sich die Sache durch den Kopf gehen ließ, während sie an ihrem Tee nippte.
»Habt ihr ›Alice im Wunderland‹ hier?« Karl sah zu den Regalen und ließ den Blick über die Buchrücken wandern.
Lara stellte die Tasse auf den Tisch, stand auf und ging zu dem Bücherbord, in dem die Klassiker des 19. und 20. Jahrhunderts untergebracht waren. Nach ein wenig Suchen zog sie ein kleines, zerfleddertes Taschenbuch daraus hervor, kehrte damit zum Tisch zurück und reichte es Karl.
»Hier.«
»Danke.« Karl blätterte zu der Stelle, die er gesucht hatte. »Pass auf. ›When I use a word‹, Humpty Dumpty said, in a rather scornful tone«, las er vor, »›it means just what I choose it to mean, neither more nor less.‹ ›The question is‹, said Alice, ›whether you can make words mean so many different things.‹ ›The question is‹, said Humpty Dumpty, ›which is to be master – that’s all.‹«
Karl blickte auf. »›The question is: which is to be master!‹ Darum geht’s.«
Lara hatte sich wieder hingesetzt und lächelte ihn an. »Hast du jetzt schon den Kampf mit dem Parasiten aufgenommen, oder was?«
Karl bemerkte, dass er tatsächlich ganz aufgeregt war. »Du machst dich darüber lustig, aber es stimmt doch. Die Frage ist, wer sozusagen am Steuerknüppel des Bewusstseins sitzt. Ich? Oder die Sprache? Intuitiv würde man sagen: Ich als sprachliches Wesen. Und genau darin zeigt sich ja, dass hier zwei Kapitäne an Bord sind. Zum einen die Sprache – und dass sie zumindest teilweise meiner Macht entzogen ist, daran besteht ja gar kein Zweifel. Und zum anderen eben ich. Wenn man es aber so sieht«, seine Augen funkelten, »bekommt die Frage, ob sie ein Symbiont ist, also ein kooperativer, helfender Mitbewohner, oder ein Parasit, noch eine ganz andere Dimension – wird sozusagen zu einer taktischen, ja im Prinzip militärischen Frage.«
Lara lehnte sich auf dem Sofa zurück und lachte. »Zu einer militärischen Frage? Bist du dir sicher?«
Karl warf das Taschenbuch auf den Tisch neben die Teetasse. »Ich bin mir sicher, dass Habich den Kampf gegen die Sprache aufgenommen hatte – auch wenn es vielleicht der reine Wahnsinn war. Sonst hätten er und mein Vater mir doch niemals die Elektrode ins Hirn gepflanzt. Sie träumten nicht nur davon, es zu entdecken, sondern auch davon, die Herrschaftsverhältnisse umzudrehen, verstehst du? Das war ja gerade der Sinn des Implantats: Die elektrischen Impulse sollten dem Wesen zusetzen, es in seiner Herrschaft über den Wirt einschränken. Nachdem mein Vater jedoch verunglückt war, musste Habich den Kampf allein weiterführen. Und er beschloss, ihn sozusagen in sich selbst auszufechten. Kann sein, dass ihn dieser Kampf in den Tod getrieben hat, weil es einfach ein so selbstzerstörerisches Unterfangen ist, dass es in den Tod führt. Kann aber auch sein, dass sich die Sprache dagegen gewehrt hat, hinter dem Begriffsschema, hinter dem sie sich verschanzt und verbarrikadiert hat, hervorgezogen zu werden. So gesehen ist es ja immer eins: Die Entdeckung des Sprachwesens ist immer zugleich auch ein Kampf dagegen.« Karls Stimme wurde immer eindringlicher. »Deshalb hat es sich dagegen gewehrt, von Habich entblößt zu werden, verstehst du? Entblößt als das, was uns knechtet. Hat die Sprache womöglich also ihren Entdecker auf dem Gewissen – indem sie ihn verführt hat, indem sie dafür gesorgt hat, dass er sein Herz zum Stillstand gebracht hat?«
Lara stand auf, um sich aus der Teekanne, die auf dem Beistelltisch stand, nachzuschenken. »Moment, nicht so schnell, Karl. Verführt? Wieso denn verführt?«
Karl spürte, wie ihm die eigene Aufregung zusetzte, aber er achtete nicht darauf. »Als ich – ich weiß, du kannst dir das nur schwer vorstellen, aber hör erst mal zu … Als ich bei meinem ersten Selbstversuch sozusagen zu meinem Herzen gelangt bin, wie kann das denn passiert sein?«
Lara stellte die Teekanne zurück und sah ihn ratlos an.
»Ich muss mir mein Herz vorgestellt haben, richtig? So wie du dir dein Herz vorstellen kannst. Du kannst daran denken, dich in Gedanken sozusagen in es hineinversetzen.«
»Ja, und?«
»Damit du es dir vorstellen kannst, musst du die Vorstellung aber aufrufen. Du musst das Wort als Ruf benutzen, um es dir vorstellen zu können. Muss es also nicht die Sprache gewesen sein, die mich geführt hat, als ich in mein Herz sozusagen hineingetaucht bin?«
Lara kniff die Augen zusammen.
Aber Karl wollte ihren skeptischen Gesichtsausdruck nicht wahrhaben. »Noch mal: Im Grunde genommen, kann ich mir den Parasiten auch nicht vorstellen. Oder besser gesagt: Ich kann nicht wirklich glauben, dass es ihn gibt, vorstellen kann ich ihn mir sehr wohl. Und zwar so plastisch, dass die Vorstellung mit jedem Mal, dass ich zu ihr zurückfinde, an Plastizität gewinnt.« Er senkte die Stimme, wohl merkend, wie ihm das, was er sagte, immer flüssiger, immer drängender aus dem Mund kam – so, schoss es ihm durch den Kopf, als würde es in ihm sprechen. »Es ist die Vorstellung von einem Feind, der Gestalt annimmt – einem Feind, der in uns steckt, der wie ein Meister mich, den Hampelmann, an Strippen zieht, der mir immer im Nacken hockt, so dass ich ihn nie sehen kann, so oft, schnell und heftig ich mich auch umdrehe.«
Er sprang auf, wie um sich als Lenker seiner Gedanken zu behaupten, machte einen Satz auf Lara zu und ergriff ihre Hand. »Muss es nicht der Sprachdämon sein, der mir auch jetzt das Wort führt?«
Sie drückte, von Karls plötzlicher heftiger Bewegung überrascht, seine Hand, wollte etwas sagen, aber er ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Was ist es diesmal, was ihn antreibt? Wieso drängt er mich, zu überlegen, wie man ihm beikommen kann? Müsste er sich nicht davor schützen, wenn stimmt, was ich gesagt habe? Müsste es nicht einem Eigentor gleichkommen, wenn er sich auf die Schliche kommt? Oder ist auch das nur wieder ein neuer, ein teuflischer Trick, den er im Schilde führt?«
Karl sog Laras Duft ein, spürte zugleich, wie ihre Nähe seine Gedanken nur noch mehr verwirrte, so dass er kaum mehr mitbekam, wie er auch ihre andere Hand ergriff und hervorstieß: »Hilf mir, Lara, das Vieh auszurotten, bevor es mich mit sich gerissen hat.«