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Lara schaute ihn ruhig an, abwartend, auch ein wenig neugierig, als würde sie darüber nachdenken, ob sie ihm ausweichen sollte oder nicht. Dann war Karl bei ihr, griff mit beiden Händen sanft nach ihrem Kinn, beugte sich hinunter, zog es ein wenig zu sich nach oben, erkannte mit einem raschen Blick in ihre Augen, dass sie es geschehen lassen würde, sog ihre Nähe, ihre Wärme, ihren Duft in sich hinein, spürte kaum mehr, wie sich seine Augen schlossen, da berührten ihn auch schon weich, kühl und empfindlich ihre Lippen. Es war der Moment, in dem er die Grenze zum anderen überschritt, ein Moment, der auf ihn wirkte wie eine Droge und die Gier nach mehr auslöste. Karl ließ sich von dem Magnetismus treiben, der ihn zu ihr hinzog – spürte zugleich aber auch, wie im Hintergrund seines Empfindens eine Art Beobachter mitlief, der kontrollierte, ob auch alles zu aller Zufriedenheit vonstattenging oder ob sich womöglich Zweifel meldeten, die darauf schließen ließen, dass er zu weit ging.

Aber nein. Lara hatte den Kopf in den Nacken gelegt, und es drängte ihn so vehement zu ihr hin, dass er nicht anders konnte, als sie zu sich hochzuziehen, vom Sessel in seine Arme, bis ihr Haar über seine Hände floss.

Er löste den Mund und hob den Kopf. Riesig öffneten sich ihre Augen vor seinen, sanft, vorsichtig …

Du musst jetzt nichts sagen, zog es durch seinen Kopf. »War das gerade das Vieh, das gesagt hat, dass ich nichts sagen muss?«, vernahm er sich denkend, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen, um den Moment nicht zu zerstören.

»Oder das? Ist es das jetzt?«

»Was hast du?«, fragte Lara und blickte ihn an.

»Jetzt musst du doch was sagen«, floss es Karl durch den Kopf.

»Was für ein Wahnsinn«, war es, was er schließlich hervorbrachte.

»Was?«, fragte Lara.

Statt zu antworten, nahm er sie an der Hand. »Komm.«

 

Durch die Fenster des Gästezimmers flutete fahl das Licht des brandenburgischen Herbstes. Ruhig lag das Haus da, nur Laras Atem war zu hören. Sie lag nackt neben ihm unter der Decke, hatte sich an ihn geschmiegt, und schlief. Karl lag, ebenfalls entkleidet, auf dem Rücken, hatte den linken Arm um ihre Schultern gelegt, und schaute gedankenverloren an die Decke.

Er musste an seinen Vater denken. Er hatte ihn geliebt. Seine Mutter natürlich auch, aber aus irgendeinem Grund hatte er nie das Gefühl gehabt, ein so inniges Verhältnis zu ihr wie zu seinem Vater zu haben. Bei Roland war das anders gewesen, er hatte sich mehr zur Mutter hingezogen gefühlt. Karl aber hatte sich immer am Vater orientiert, hatte so sein wollen wie er, hatte immer alles darangesetzt, den Respekt und die Hochachtung des Vaters zu erringen. Nie aber hatte er ihn so sehr geliebt wie an jenem Morgen, als er nach seinem Fahrradunfall aus der Narkose erwacht war. Als er ihn hatte stehen sehen an seinem Bett, nachdem sein Vater ihm – wie er jetzt wusste – das Implantat eingepflanzt hatte, ohne ihm etwas zu sagen.

Karl legte den rechten Arm über sein Gesicht, so dass die Armbeuge seine Augen bedeckte. Sein Vater hatte sich nichts anmerken lassen. Dabei musste seine Zärtlichkeit genau dadurch motiviert gewesen sein, dass er wusste, was er seinem Sohn angetan hatte. Was Karl für Zuneigung, Liebe gehalten hatte, weil er sich verletzt hatte, war in Wahrheit das schlechte Gewissen gewesen, das der Vater vor ihm zu verbergen versucht hatte –

»NEIN«, presste Karl gewaltsam zwischen den Zähnen hervor. Es hatte keinen Sinn, wenn er in diesen schmerzlichen Überlegungen badete! Der einzige Ausweg, der ihm blieb, bestand darin, die Erinnerungen an seinen Vater zu kappen, förmlich abzuhacken! Denn so viel stand fest: Er hatte sich in ihm getäuscht. Sein Vater war erfolgreich gewesen, weil er geschickt war, weil er gut mit Leuten umgehen konnte. Und genauso war er mit ihm, mit Karl, seinem Sohn umgegangen. Kein Wunder, dass er seinen Vater geliebt hatte. Er war auf ihn reingefallen. Er würde daran jedoch nicht zerbrechen! Er würde darüber hinwegkommen. Immer wieder hatte ihn der Argwohn beschlichen, dass er sich zu sehr über den Vater definiert hatte. Wohl wahr! Es war höchste Zeit, dass er das überwand.

Karl spürte, wie die Beuge seines Arms feucht wurde. Und plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf, dessen Wucht ihn buchstäblich aus dem Bett herausriss. Was hatten die Leute im Dorf über Janker erzählt? Dass er neben Bastian noch ein Kind hatte? Dass er dieses zweite Kind in seinem Haus versteckte und dass es noch nie draußen gewesen war? Das hatte er über Habichs Tod vollkommen vergessen. Es war ja das Gleiche wie bei seinem eigenen Vater. Sie benutzten ihre Kinder! Sein Vater. Janker. War Janker nicht ein Schüler Habichs gewesen? Stellte er das mit seinem Kind an, was Habich und sein Vater mit ihm vorgehabt hatten?

 

 

Aus: »Als der Dämon sich entbarg. Unautorisierte Biographie Karl Borcherts«, von Adrienne Hruby, München ohne Jahr, Seite 118 ff.

 

»War es Zufall, dass Karl Borchert ausgerechnet mit einem Projekt bei der Forschungsgemeinschaft zu reüssieren versucht hatte, das so etwas wie der Gegenentwurf zur Habichschen Theorie war? Karl Borchert hatte geplant, eine Population von Automaten in seiner Minimalwelt eine Sprache generieren zu lassen. Wäre eine solche Sprachentstehung nicht der Beweis gewesen, dass es auch ohne Parasit ging – und damit der Beweis dafür, dass Habichs Theorie vom Sprachursprung als Parasitenbefall falsch war?

 

Um jede Verwirrung zu vermeiden, ist es wichtig, hier darauf zu achten, dass man zwei Fragen nicht durcheinanderbringt. Einmal die Frage danach, ob es Zufall war, dass Borcherts Projekt für die Forschungsgemeinschaft ausgerechnet ein Gegenentwurf zu Habichs Theorie war, und einmal die Frage danach, ob sich in Borcherts Projekt wirklich ein Gegenentwurf zur Habichschen Theorie verbarg.

Zunächst zum Zufall. Die Antwort ist klar: Zufall war es nicht. Karl ist auf die Idee zu seinem Projekt durch eine Tagebuchnotiz seines Großvaters gekommen, in der dieser ja erwähnt hatte, sich erneut mit seinem Sohn, also mit Christian Borchert, über das rätselhafte Funktionieren der Sprache unterhalten zu haben. Natürlich war das ein Thema, das Christian Borchert, der ja wusste, was er seinem Sohn, Karl, angetan hatte, nicht mehr losließ. So hatte sich Karl, ohne sich dessen bewusst zu sein, von seinem Vater auf dieses Thema bringen lassen, das ja spätestens seit der Operation unterschwellig zwischen ihnen beiden immer mitgeschwungen haben muss.

Eine ganz andere, davon unabhängige Frage ist, ob eine Realisierung von Karls Projekt wirklich hätte beweisen können, dass die Habichsche Theorie falsch ist. Lassen wir dahingestellt sein, ob es überhaupt eine Möglichkeit gibt, eine Variante des Karlschen Projektes aufzuziehen, in der das bewiesen werden könnte, und beschränken wir uns auf eine Evaluation der konkreten Variante, die Borchert der Forschungsgemeinschaft präsentiert hat. Dann lautet die Antwort sicher: Nein. Damit in Karls Minimalwelt eine Sprache entsteht, müssen die Automaten einen wie auch immer gearteten minimalen Interpretationsalgorithmus bereits integriert haben, dank dessen sie das spezifische Aufleuchten der Matrix eines entgegenkommenden Automaten, das sie über die eingebaute Kamera wahrnehmen, als Zeichen mit einer bestimmten Bedeutung deuten. Auch wenn dieser Algorithmus noch so rudimentär ist, ist mit ihm – kurz gesagt – der Keim der entstehenden Sprache vom Erbauer der Minimalwelt immer schon im Set-up der Automaten mit eingepflanzt. Und wieso? Habich würde sagen: Weil der Erbauer selbst in all seinen Konzeptionen und Planungen durch und durch von seinem Parasiten getränkt ist. Mit anderen Worten: Selbstverständlich erstreckt sich die Einflussnahme des Parasiten auch auf die Konzeption und den Aufbau einer solchen Minimalwelt und ihrer Automaten. Ja, im Grunde genommen, kann man davon ausgehen, dass niemand auf die Idee kommen würde, eine solche Minimalwelt zu bauen, der nicht bereits von dem Sprachparasiten besessen ist, da die Idee, eine Sprache künstlich zu generieren, nur derjenige haben kann, der bereits über eine Sprache verfügt.«