53
Er stand vor dem Schloss im Park. Er wusste nicht mehr, wie er dort hingekommen war, aber er wusste, wo er hinwollte. War Lara noch beim See? Am Ufer war sie nicht zu sehen. Es war schon dunkel – nur über den Bäumen am gegenüberliegenden Ufer war noch der letzte matte Lichtschein des Tages zu erkennen.
Er hatte die Sprache besiegt, erfüllte es Karl, und er hielt auf das kleine Wohnhaus der Jankers zu. Er musste nicht mehr warten, bis ein Gedanke klar war – bis er so war, wie er ihn wollte. Er musste die Gedanken nicht mehr wälzen, bis sie passten, sie kneten, umbauen, umstellen. Sie waren unmittelbar so, wie er sie wollte. Wie sie kamen, so wollte er sie. Wie er sie wollte, so kamen sie. Es war der Beginn einer neuen Epoche. Er würde den Menschen zeigen, wie sie seinem Weg folgen konnten. Es war ja so einfach.
Es gab nur eine Gefahr. Das Kind der Jankers. Das zweite. Hatte Janker es nicht aufgezogen in vollkommener Isolation? Um es vor der Sprache zu schützen? Nein! Um sie ihre größten Triumphe feiern zu lassen! Um es an die Sprache auszuliefern! Es war der Keim einer anderen neuen Epoche. Der Epoche der absoluten Herrschaft der Sprache über den Wirt. In der sie die Menschen endgültig unterjocht haben würde. Er musste handeln, bevor es zu spät war. Warum hatte er sich von der Suche nach dem Kind vorhin nur abbringen lassen.
Karl begann zu laufen. Schon von weitem konnte er erkennen, dass die geborstene Haustür noch offen stand. Als er hindurchtrat, kam ihm Basti entgegen. Die Augen des Jungen waren weit aufgerissen.
»Was … was war denn hier los?«, stammelte er.
»Basti!« Mit dem Jungen hatte Karl nicht gerechnet. Aber er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen. »Wo ist deine Mutter?«
»Noch einkaufen. Ich war bei einem Freund im Dorf und sollte zum Abendbrot nach Hause kommen. Sie muss gleich da sein.« Seine Augen wanderten durch das Wohnzimmer, bevor er wieder zu Karl sah. »Wo ist Papa?«
Karl brach der Schweiß aus. »Hör zu, Basti …« Er fühlte, wie seine Zunge im Mund schwer wurde. Wie sollte er dem Jungen das erklären? »Das ist alles ziemlich kompliziert … Ich … warum gehst du nicht in dein Zimmer?«
»Hast du Papa gesehen?«
Karl hockte sich hin, um mit dem Jungen auf einer Höhe zu sein. Er sah Basti an, wie er ahnte, dass etwas Schlimmes passiert war. Aber Basti konnte sich nicht vorstellen, was. Dazu war er noch zu klein. Seine Sorge war noch ganz aufgehoben in dem Wissenwollen, was los war.
»Komm.« Karl nahm ihn an der Hand. Wollte ihn auf sein Zimmer bringen, um dann nach dem Kind zu suchen. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Wenn Lara Janker im See gefunden hatte, würde sie nicht zögern, die Polizei zu rufen. Sie würden Karl festnehmen, fortbringen, einsperren. Dann würde Frau Janker das Werk ihres Mannes fortsetzen können. Das durfte er nicht zulassen.
Aber Basti machte sich los. »Ich will zu meinem Papa!« In seinen Augen blitzten plötzlich Tränen. »Was ist denn mit ihm? Er ist doch sonst immer da.«
Karl wusste nicht, was er sagen sollte – da schien der Junge zu begreifen. »Was machst du hier? Wieso ist die Tür aufgebrochen? Was willst du von uns?«
Karl hockte sich wieder hin. »Basti, hör mir gut zu. Ich mag dich, ich will dir nichts tun. Du kannst das noch nicht verstehen, ich versprech dir, ich erkläre es dir, wenn du größer bist … Es hat etwas mit Herrn Habich zu tun, mit seiner Forschung.«
Basti schaute Karl verunsichert an, versuchte, seinen Worten zu folgen. Karl spürte, dass der Junge hoffte, endlich zu verstehen, was um ihn herum geschah. Dass sich stattdessen aber alles nur immer mehr noch für ihn verwirrte.
»Geh jetzt«, stieß Basti hervor. »Lass mich in Ruhe!«
»Basti –«
Da schlug der Junge mit seiner kleinen Faust in Karls Richtung. »Hast du was mit Papa gemacht? Geh endlich. Ich will das nicht. Ich will auf meine Mama warten.«
»Ich kann jetzt nicht gehen«, flüsterte Karl. »Ich muss erst das andere Kind finden.«
Basti erstarrte.
»Weißt du, wo es ist?«
Basti schaute ihn an, er reagierte nicht.
»Haben es deine Eltern im Haus versteckt?« Karl ergriff den Arm des Jungen.
»Ich … ich darf darüber nicht reden«, flüsterte Basti, jetzt die nackte Panik im Gesicht.
»Ist es hier im Haus?«, bohrte Karl weiter und verstärkte den Griff, mit dem er Bastis Arm festhielt.
Bastis Atem ging schneller. »Ich … das dürfen Sie nicht wissen«, wisperte er, »warum lassen Sie mich nicht endlich in Ruhe.«
»Wie heißt es denn?«, fragte Karl. »Warum kannst du mir das nicht sagen?«
Da konnte der Junge nicht länger an sich halten. »Was wollen Sie der Kleinen denn tun? Sie ist doch noch so klein. Die ist doch noch fast ein Baby. Tun Sie ihr nichts, Herr Karl, die Kleine, die ist doch immer allein in dem Zimmer. Die kann doch niemandem was tun.«
Karl erhob sich, zeigte auf die Tür, die hinter der Küche abging und in den Keller zu führen schien. »Ist es dort? Im Keller –«
Weiter kam er nicht, denn plötzlich hatte sich Basti losgerissen und rannte. Durch das Wohnzimmer zur Küche, schon hatte er die Kellertür aufgerissen, war hindurchgeschlüpft, und Karl hörte ihn die nackten Steinstufen der Kellertreppe hinunterpoltern.
Langsam ging er dem Jungen nach.