39
Er lag auf dem Arztstuhl im Labor. Die Augen geschlossen. Erschöpft. Ausgebrannt. Jemand wischte mit einem kühlen, feuchten Tuch über sein Gesicht.
Karl öffnete die Augen. Lara sah ihn an.
»Was ist passiert?«
»Du bist ohnmächtig geworden.«
Seit der Nacht, in der Habich gestorben war, duzten sie sich.
Karl nickte.
»Soll ich einen Arzt rufen?«
Er schüttelte matt den Kopf. Geht schon wieder, dachte er, aber er war zu schwach, um etwas zu sagen. Und schloss die Augen.
Als er Stunden später wieder erwachte, war es draußen bereits dunkel. Er lag unter einer Wolldecke, noch immer auf dem Arztstuhl. Lara musste die Rückenlehne des Stuhls heruntergelassen und ihn auf den Rollen über den Fahrstuhl aus dem Labor geschafft haben.
Karl sah sich um. Rings um ihn herum standen die Regale der Bibliothek. Draußen vor den Fenstern lag der dunkelblaue Park. Lara hatte sich auf das Sofa an den niedrigen Tisch vor dem Kamin gesetzt. Eine dampfende Tasse Tee stand vor ihr, sie schaute gedankenverloren ins Feuer. Es waren erst drei Tage seit Habichs Tod vergangen, und Karl sah ihr an, wie sehr der Verlust ihres Mannes sie mitgenommen hatte.
»Hallo«, sagte er und lächelte. Er spürte, dass er eine gewaltige Strapaze hinter sich hatte. Er konnte sich nicht erinnern, sich oft so verletzlich, kraftlos, hilflos gefühlt zu haben.
Lara wandte den Kopf. »Na?« Sie stand auf und trat zu ihm. »Geht’s wieder?«
Er nickte. »Viel besser.« Vielleicht hab ich wirklich alles ein bisschen überstürzt, dachte er.
Sie sah ihn besorgt an. »Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass du einen Versuch machst.«
Karl lächelte. »Ach was. Du hast dich ja bemüht, es mir auszureden. Dich trifft keine Schuld. Außerdem: Es ist doch nichts passiert. Mir geht’s gut.« Und wie um das zu beweisen, wollte er aufstehen, kam jedoch über eine leichte Krümmung des Oberkörpers nicht hinaus. Mit einem Ächzen ließ er sich wieder zurück auf die Pritsche sinken.
»Alles klar«, sagte Lara lakonisch.
»Aber Habich hat’s doch auch gemacht«, ärgerte sich Karl und zog die Decke zurecht.
»Was ist denn überhaupt los gewesen?«, fragte Lara. »Leo war danach auch immer ein wenig erschöpft – aber nicht so.«
Nachdem Karl ihr erzählt hatte, was er erlebt hatte, hingen sie eine Zeitlang ihren Gedanken nach.
»Leo hat sich zuletzt manchmal tagelang in dem Labor eingeschlossen«, brach Lara schließlich das Schweigen. »Aber das, was du erlebt hast – von so etwas hat er mir nie was erzählt. Und das hätte er. Er war versessen darauf, durch die Stimulation in Bereiche vorzustoßen, die ihm sonst unerreichbar waren. Aber es ist ihm nicht gelungen.«
Karl stützte seinen Kopf auf. »Transkranielle Stimulation – das ist doch kein Zaubertrank! Ich bin zwar kein Experte, aber soweit ich weiß, ist die Technologie mittlerweile so etwas wie ein Standardverfahren, das in den meisten Krankenhäusern praktiziert wird. Wenn es möglich ist, damit so eine Wirkung zu erzielen wie die, die ich vorhin erlebt habe, warum ist das nicht allgemein bekannt? Oder hast du von derartigen Berichten schon einmal etwas gehört?«
Lara schüttelte den Kopf. »Eine Art Tagtraum, sagst du, wie eine Halluzination?«
»Obwohl es sich ungewöhnlich real angefühlt hat. Als würde ich mir das nicht nur einbilden, als würde ich tatsächlich durch meinen Kopf und meinen Körper fliegen. Verstehst du?«
Sie sah ihn an. »Nicht wirklich.«
»Wie konnte Leo hoffen, durch ein so herkömmliches Verfahren eine außergewöhnliche Erfahrung zu machen?«, fing Karl wieder an. »Oder ist in dem Labor nicht nur eine Magnetspule untergebracht? Weiß du, was hinter den Spiegeln ist? Vielleicht ist dort erst die richtige Spule angeschraubt, eine Höllenmaschine, die jeden auf eine Irrsinnsreise schickt.«
»Und wieso ist es dann dir passiert, ihm aber nicht?«
Karl atmete aus. »Ist mir egal«, sagte er nach einer Weile. »Ich will wissen, was genau er da unten aufgebaut hat. Wir müssen die Spiegel mal abnehmen –«
Er unterbrach sich. »Oder gibt es irgendwo Baupläne von dem Labor hier im Haus? Was ist mit der Firma, die es eingerichtet hat?«
Lara lächelte. »Keine Ahnung, das hat Leo alles selbst organisiert. Aber du kannst ja gleich mal runterlaufen und an den Spiegeln ein bisschen rumschrauben.« Sie wandte sich von der Pritsche ab, an der sie stehen geblieben war, ging zu dem Kamin, hockte sich hin und machte sich an dem Feuer zu schaffen.
»Ja.« So zerschlagen, wie er sich fühlte, kam er ja noch nicht mal von der Pritsche runter, dachte Karl. Oder?
Er richtete seinen Oberkörper auf und schwenkte die Beine über den Rand der Liegefläche. Dann ließ er sich langsam heruntergleiten, bis seine Füße den Boden berührten. Mit unsicheren Schritten wankte er bis zu dem Sofa, auf dem er sich wieder hinsetzte. Das sollte als Spaziergang erst mal genügen.
Während Lara mit dem Kaminbesteck ein paar frische Holzscheite auf das bereits durchgeglühte Brennholz schichtete, kehrten Karls Gedanken zu dem zurück, was er im Labor erlebt hatte. Hatten die Philosophen davon nicht immer geträumt? Dass man seinen Geist wie ein Besucher betreten und sich darin umsehen könnte? Dass man nicht nur die Aufmerksamkeit nach innen richten, sondern regelrecht in sich herumlaufen könnte? Kein Wunder, dass es das gewesen war, was Habich als Durchbruch vorgeschwebt hatte. Aber was hatte das mit den Gedankenexperimenten zu tun? Mit den skeptischen Fragen von Platon, Descartes und Wittgenstein, dem, was Habich so liebevoll die »paradigmenstiftenden Verschwörungstheorien« in seinen Aufzeichnungen genannt hatte?
Karl lehnte sich auf dem Sofa zurück. Er war bei seinem Selbstversuch einen entscheidenden Schritt weitergekommen, weiter vielleicht, als Habich selbst jemals gelangt war – aber er begriff die Zusammenhänge nicht. Er wusste nicht, wieso Habich diesen Flug durch die Innenwelt hatte erreichen wollen, ja geradezu besessen davon gewesen war. Wieso war dieser Flug ausgerechnet bei ihm ausgelöst worden? Worin bestand die Tatsache, die Habich dabei hatte entdecken wollen? Je länger Karl darüber nachdachte, desto mehr Fragen taten sich vor ihm auf, ohne dass er auch nur eine Antwort auf eine von ihnen gefunden hätte. Was hatte es mit den angeblichen Toden der Philosophen auf sich, von denen Lara ihm erzählt hatte? Ein Geheimwissen? Davon hatte er doch bei dem, was er im Labor erlebt hatte, nichts erfahren. Was er erlebt hatte, war, dass er sein Herz manipulieren konnte. Das war vielleicht nur eine Illusion gewesen, aber er hatte das nur zu deutliche Gefühl gehabt, dass er sich dabei um ein Haar selbst umgebracht hätte.
Karl bemerkte, dass Lara sich vor dem Kamin umgedreht hatte und ihn ansah.
»Und? Was denkst du?«, fragte sie.
Ich denke, dass du schön bist, hörte Karl etwas in sich sagen, aber das behielt er lieber für sich.
»Nichts weiter«, sagte er und lächelte sie an.
Lara stand auf und kam auf ihn zu. »Komm schon, Karl.« Sie setzte sich zu ihm aufs Sofa und legte einen Arm auf die Rückenlehne hinter ihm. Ihre Nähe nahm ihm fast den Atem.
Aus: »Den Spieß umdrehen«, Autobiographie von Lara Kronstedt, Berlin 2016, S. 254
»Als Karl davon anfing, dass es ihm in irgendeiner Form gelungen sein musste, seinen Herzmuskel ›ins Bewusstsein zu heben‹, musste ich sofort daran denken, was Leos Obduktion ergeben hatte. Am zweiten Tag nach seinem Tod war die Nachricht aus der Rechtsmedizin gekommen. Todesursache: Herzstillstand, in der Folge eines Infarkts. So aufgeregt, wie Leo unmittelbar vor seinem Tod gewesen war, hatte mich dieses Obduktionsergebnis nicht besonders überrascht. Als ich jedoch hörte, dass Karl meinte, er hätte seinen Herzschlag manipulieren können, wurde mir klar, dass er auf keinen Fall ein zweites Mal in das Labor durfte. Es war ja nicht zu übersehen, dass er sich zunehmend in Leos Gedankengänge hineinsteigerte. Er wusste, dass Leo an dem gearbeitet hatte, was er den ›Durchbruch‹ nannte, er verbrachte Stunden in Leos Arbeitszimmer damit, dessen Aufzeichnungen durchzugehen. Es war nicht zu übersehen, dass Karl alles daransetzte, um den Durchbruch, der Leo verwehrt geblieben war, zu realisieren. Dass er dafür – wenn nötig – auch seine Gesundheit aufs Spiel setzen würde. Es schien mir deshalb nicht ausgeschlossen, dass er sozusagen bis in den Tod hinein Leo nacheifern würde.
Für keinen Moment jedoch ist mir dabei in den Sinn gekommen, dass sich hinter der Ursache von Leos Tod und hinter den Eindrücken, von denen Karl mir erzählt hatte, mehr verbergen könnte als nur eine übersteigerte Empfindlichkeit, eine Übernervosität, eine lebensgefährliche Überspanntheit. Dass sich dahinter ein anderer Willen verborgen haben könnte als der von ihnen selbst.«