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Aus: »Als der Dämon sich entbarg. Unautorisierte Biographie Karl Borcherts«, Seite 18 ff.

 

»Nach der Enttäuschung, die Borchert mit den Klassikern erlebt hatte, schien eine grundlegende Frage unvermeidlich: War die Philosophie also nichts wert? Karl zögerte nicht, sich dieser Frage zu stellen. Ganz aus heiterem Himmel schien sie ja auch nicht zu kommen, hatte er im Laufe seines Studiums doch des Öfteren erlebt, wie sich andere über seine Disziplin als Zeitverschwendung, als Spiegelfechterei oder gar Scharlatanerie lustig gemacht hatten.

Borchert hatte sich immer dagegen gewehrt. War die Philosophie nicht eines der großen Menschheitsprojekte? Das jahrhunderte-, jahrtausendealte Streben nach Wahrheit, nach genauen Vorstellungen von Gerechtigkeit oder Schönheit – nichts als ein Irrtum, eine Täuschung, ein Wahn? Nein!, hatte Karl dagegengehalten, nichts anderes als dieses Streben hatte doch die unterschiedlichsten Forschungsrichtungen hervorgebracht, die unser Leben von Grund auf verändert hatten. Früher, ja, hatte er seine Widersacher dann spotten gehört, aber heute? War die Philosophie auch heute noch etwas wert?

Natürlich!, hatte er sich nicht unterkriegen lassen, wenn sie uns jahrtausendelang gute Dienste geleistet hat – warum sollte sie dann ausgerechnet jetzt ausgedient haben? War die Epoche, in der wir lebten, wirklich etwas so Besonderes? Nein! Es musste auch heute noch einen Platz für die Philosophie geben, dessen war Borchert sich immer sicher gewesen. Nur welchen? Das wusste er nicht.

 

Ein Ausflug in die Gegenwart seiner Disziplin, mit der ihn längst eine tiefsitzende Hassliebe verband, brachte ihn einen Schritt weiter. Musste er nicht, bevor er sich ein abschließendes Urteil erlaubte, wissen, was die Meisterdenker der Gegenwart zu sagen hatten?

Es waren genau drei Anläufe, die Borchert unternahm, um dieser Frage auf den Grund zu gehen. Als Erstes stürzte er sich auf die französischen Poststrukturalisten, auf die Texte von Foucault, Lacan und Deleuze, fuhr auch nach Paris und hörte Derrida und Baudrillard. Mit dem entmutigenden Ergebnis, dass er nach einem weiteren Jahr meinte feststellen zu müssen, auch in den Vortragssälen der Sorbonne und der École Normale Supérieure keine Antwort auf seine Frage gefunden zu haben. So berauschend die Beschreibungsorgien der Franzosen auch sein mochten, leisteten sie in seinen Augen doch nichts anderes, als ihren Lesern und Zuhörern im Rausch der Assoziationen das Gefühl vorzugaukeln, sie würden sich gleichsam selbst überwinden können. Das postindividuelle Zeitalter propagierten die Pariser Meisterdenker, aber nachdem sich Borchert nächtelang mit ihren Schriften herumgeschlagen hatte, war er sicher, dass es sich dabei nur um eine hohle Phrase handelte, ein verführerisches Luftschloss, das unweigerlich zusammenbrach, wenn man versuchte, dem vieldeutigen Geraune der Texte eine konkrete Handlungsanweisung, ein nachvollziehbares Denkschema oder auch nur eine einzige Feststellung zu entlocken, über die zwei unterschiedliche Menschen nicht unweigerlich in Streit geraten mussten. Dabei ahnte er nicht, wie nah die Gedanken der Franzosen seinen eigenen späteren Überlegungen schon gekommen waren.«

 

 

»Fuck, Kack, Scheiß, Dreck.«

Laut fluchend zog Karl den Rollcontainer unter seinem Schreibtisch hervor und ging die Schubladen von oben nach unten durch. Er machte sich nicht die Mühe, alle Papiere einzeln durchzusehen, sondern holte sie bündelweise aus den Schubfächern hervor und warf sie achtlos in einen Pappkarton, den er offen neben den Schreibtisch gestellt hatte. Kaum waren die Schubfächer leer, machte er sich an das Bücherregal an der Schmalseite des kleinen Raumes, der ihm in den letzten Jahren als Arbeitszimmer im Institut gedient hatte. Es war vollgestopft mit Bänden aus den unterschiedlichsten Bibliotheken der Universität. Hauptsächlich natürlich Philosophie, aber auch Zeichentheorie, Psychologie und Kognitionswissenschaften, Monographien aus dem Bereich der Spieltheorie, Zeitschriften über Phonetik oder Semantik, jede Menge Logik und generative Grammatik.

Karl warf die Bücher, die ihm gehörten, zu den anderen Sachen in den Pappkarton und stapelte die ausgeliehenen Bände auf dem Boden neben der Tür. Dann begann er, die Plakate abzulösen, die er in den drei Jahren seiner Assistententätigkeit an die Wände gepinnt hatte: Reproduktionen von Goya und Bacon, ein Druck von H.R. Giger, eine Fotoarbeit von David Hockney, aber auch Hinweise auf Symposien, Vortragsreihen, Ausschreibungen und Ringvorlesungen. Auch ein Kalender gehörte dazu, auf dem das ganze Jahr im Überblick zu sehen war. Er rollte ihn zusammen, warf ihn in den Karton und ließ sich in den Stuhl vor dem Schreibtisch fallen, den er für seine Besucher dort aufgestellt hatte.

 

 

Aus: »Als der Dämon sich entbarg. Unautorisierte Biographie Karl Borcherts«, Seite 20 ff.

 

»Auf den Ausflug in die französische Postmoderne folgte Borcherts Frankfurter Zeit. Habermas und seine Theorie des kommunikativen Handelns rückten ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit: Der verzweifelte Versuch, die Bühne der Macht nicht gänzlich aufgeben zu müssen, trotz der Ohrfeige, die mit dem Zusammenbruch des Ostblocks jedes philosophische Bemühen um Politik, Staat und Gesellschaft hatte einstecken müssen. Praktisch nicht umsetzbar, lautete sein Fazit nach einem weiteren Jahr voller Kolloquien, Gespräche und Lektüren. Praktisch nicht umsetzbar, obwohl doch gerade die Praxis das Forum war, in dem die Habermasschen Ideen sich zu bewähren hatten, sofern man nur ihre eigenen Ansprüche ernst nahm.

Die Enttäuschung reichte tief. Monatelang haderte Borchert mit seinem Fach, ehe er sich zu einem dritten, einem letzten Anlauf durchrang, mit dem er versuchen wollte, die Hoffnung, die er einst in die Philosophie gesetzt hatte, doch noch zu retten. Das brachte ihn mit der analytischen Philosophie in Berührung, einer Richtung, die auf ihre Wissenschaftlichkeit besonders stolz war und ihn zunächst auch im Handumdrehen mit seinem Fach wieder versöhnte. Binnen Wochen erwachte sein Enthusiasmus neu, und er brach auf zu einer Erkundungsreise in eine Welt, die bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts von Frege und Russell entdeckt, von Wittgenstein durcheinandergewirbelt und seitdem in endlosen Verfeinerungen weiter ausgearbeitet worden war. Der große Unterschied zu den Klassikern: Hier erfand nicht jeder Philosoph seine eigene Sprache, hier bemühten sich alle darum, die gleichen Ausdrücke zu verwenden.

In langen Nächten erarbeitete sich Borchert das Vokabular der Analytiker, kämpfte sich durch die Logiklehrbücher von Tarski bis Quine, studierte die Texte ihrer Schüler von Davidson bis Lewis, und fand umso mehr Gefallen an dem analytischen Ansatz, je besser er ihn kennenlernte. Bis er eher zufällig auf die Fleißarbeit eines Mannes stieß, der – genau wie er selbst, nur etwas früher – mit Begeisterung das Projekt der analytischen Philosophie aufgegriffen, nach Jahren des Forschens jedoch innegehalten und einmal untersucht hatte, ob sich anhand ihrer wichtigsten Publikationen eine Weiterentwicklung feststellen ließ. Ob es also möglich war, einen inhaltlichen, historischen Fortschritt innerhalb der analytischen Philosophie zu belegen, die zum Zeitpunkt seiner Untersuchung immerhin schon ein gutes Jahrhundert auf dem Buckel gehabt hatte.

Und das erstaunliche, niederschmetternde Ergebnis: Es war kein stetes Voranschreiten, kein langsames, aber beständiges Vorankommen erkennbar. Nein, es gab nichts als eine Abfolge von Moden, von Trends. Eine willkürliche Sukzession von Vorlieben, wo das streng wissenschaftliche Aufeinanderfolgen belegbarer Ergebnisse und daraus resultierender, neuer Fragen hätte stehen müssen. Betrachtete man, was die Adepten dieser Tradition über die Jahrzehnte hinweg vorgelegt hatten, so zeigte sich, dass sie keineswegs der Lösung eines Problems ständig näher gekommen waren, obwohl es doch genau das war, was sie zu tun vorgaben. Gerade durch diesen Fortschrittsglauben unterschieden sie sich doch letztlich von allen anderen Philosophen! Sie wollten nicht raunen wie die Dichter, sie wollten sich der Wahrheit nähern wie Wissenschaftler. Tatsächlich aber hatten sie sich mitnichten auf ein Ziel zubewegt, wie ein Blick in die Geschichte ihrer Bemühungen unzweideutig zeigte. In all ihren grundlegenden Fragen – Wie funktioniert die Bedeutung eines Wortes?, Wie können wir uns den geistigen Zustand des Beabsichtigens vorstellen?, Was ist eine gerechte Verteilung? – war keineswegs Klarheit eingekehrt, vielmehr herrschte genau die gleiche Verwirrung wie vor hundert Jahren. Es gab keinen Fortschritt! Damit aber auch nichts, wodurch sich die Bemühungen der analytischen Philosophen von denen einer jeden anderen Strömung hätten unterscheiden lassen.«

 

 

Das Handy vibrierte leise und drehte sich ein wenig im Kreis. Karl beugte sich vor und sah aufs Display. Tamara. Natürlich. Sie wollte wissen, wie es gelaufen war. Ob für heute Abend alles in Ordnung war. Er starrte auf das Gerät, das er auf die Schreibtischplatte gelegt hatte, bis es sich wieder beruhigt hatte. Kurz darauf kündigte ein Signalton an, dass Tamara ihm eine Nachricht hinterlassen hatte.

Karl lehnte sich zurück. Sein Blick wanderte zum Fenster. Mit der Ablehnung durch die Forschungsgemeinschaft war klar, dass sie auch seinen Vertrag am Institut nicht verlängern würden. Einen Lehrauftrag hatte er dieses Semester ohnehin nicht mehr gehabt. Forkenbeck hatte gemeint, dass Karl sich ganz auf die Ausarbeitung seines Forschungsvorhabens konzentrieren sollte.

Ruckartig stand Karl auf und faltete den Deckel des Pappkartons zusammen. Wer zum Teufel sollte ihm jetzt noch eine Stelle anbieten? Wenn sich erst mal herumgesprochen hatte, dass ihm die Forschungsgelder verweigert worden waren, würde keine andere Universität es wagen, ihn noch anzustellen. Zu sehr hatte er seinen Namen mit diesem Projekt verknüpft, zu oft und nachdrücklich wiederholt, dass er außerhalb seines Projektes keine sinnvolle Aufgabe im Gebiet der Philosophie mehr erkennen könnte.

Er wuchtete den Karton hoch und ließ den Blick ein letztes Mal durch das kleine Arbeitszimmer schweifen. Wie hatte er bloß sein ganzes Leben an der Vorstellung und Hoffnung ausrichten können, eine bahnbrechende Entdeckung zu machen? Wie hatte er nur an der Philosophie festhalten können, nachdem er doch immer wieder zu der Einsicht gelangt war, dass sie nichts taugte und ihn nur stets aufs Neue enttäuschen würde. Wie ein Besessener hatte er an ihr festgehalten, beseelt von der Idee, mit ihr eine Entdeckung machen zu können, die mit einem Schlag aufzeigen könnte, was falsch war an dem Weltbild, in dem wir lebten. Wie hatte er nur darauf kommen können, dass es ausgerechnet ihm beschieden sein würde, eine solche Entdeckung zu machen?

 

 

Aus: »Als der Dämon sich entbarg. Unautorisierte Biographie Karl Borcherts«, Seite 23 ff.

 

»Nachdem sich die Hoffnung wieder zerschlagen hatte, die Borchert durch die Begegnung mit der analytischen Philosophie kurzzeitig geschöpft hatte, sah er sich erneut seiner alten Frage ausgeliefert: War die Philosophie nichts mehr wert? Und davon abgeleitet: Hatte er umsonst noch einmal viele Jahre in sie investiert? Oder konnte es sein, dass es nun an ihm war, sie zu retten, nachdem es allen anderen nicht gelungen war?

Ein ganzes Jahr gab er sich, um diesen Fragen nachzugehen. Er quartierte sich in einem alten Bauernhof ein, den seine Großeltern vor etlichen Jahren gekauft und umgebaut hatten, und verbrachte die Zeit damit, ausgedehnte Wanderungen in der Umgebung zu unternehmen, in einem See in der Nähe zu baden und sich an lauen Abenden auf einem offenen Feuer vor dem Haus sein Essen zuzubereiten. Absichtlich vermied er es – wie er mir später einmal erzählte –, auch nur einen Gedanken an die Philosophie zu verschwenden. Es gab kein Telefon in der Hütte, keinen Internetanschluss, er hatte kein Handy und auch keine Bücher mitgenommen – nur ein wenig Papier und ein paar Stifte.

Es war Winter und das Jahr beinahe um, als Karl schließlich eine Entscheidung traf. An den langen Abenden des Spätherbstes hatte er in den Schränken der Hütte gestöbert und war auf ein altes Tagebuch seines Großvaters gestoßen. Darin hatte sein Großvater, der wie Karls Vater Christian Arzt gewesen war, vermerkt, dass sich ihm mit zunehmendem Alter vor allem eine Frage aufdrängen würde, die alle anderen Geheimnisse, Forschungsfelder und Phänomene, die den Menschen umgäben, doch überstrahlen würde: die Frage nach dem Funktionieren der Sprache. Darin habe ihn gerade erst neulich auch wieder sein Sohn Christian bestärkt.

 

So unscheinbar die Notiz auch war – sie ging Karl für die restlichen Wochen, die er noch in den Bergen verbrachte, nicht mehr aus dem Kopf. Und er entschied, dass er genau dort ansetzen würde. Bei der Sprache. Er würde die Rahmenbedingungen für die Evolution einer Sprache schaffen. Dies war der Grundgedanke zu dem Projekt, das ihm von der Forschungsgemeinschaft schließlich abgelehnt wurde, nachdem er unter Forkenbecks Schirmherrschaft vier Jahre lang daran gearbeitet hatte.

Diese Ablehnung aber war – wie wir heute wissen – der Auslöser für das, was als sogenanntes ›Viertes Paradigma‹ bekannt geworden ist und was Borcherts Traum von einer radikal umwälzenden Philosophie auf ganz überraschende Weise doch noch einlösen sollte.«