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Aus: »Abschlussbericht der Urquardt-Kommission«, Anlage C: Briefwechsel zwischen Christian Borchert und Leonard Habich, Schreiben vom 26. Juli 1990, Borchert an Habich, S. 309

 

»Ich habe den Anschluss der Elektrode so konzipiert, dass er in den nächsten Monaten komplett von der nachwachsenden Kopfhaut verdeckt werden wird. Wenn wir die Versuchsreihe mit ihm beginnen, wird es kein Problem sein, sie unter Narkose wieder zu öffnen und den Anschluss freizulegen.

Wir mussten seinen Radunfall als Chance ergreifen. Wann sonst hätte sich eine Gelegenheit ergeben, an das entscheidende Areal heranzukommen, ohne jemanden eigens dafür zu verletzen?

Wie soll ich es meinem Jungen erklären? Und wenn er sich weigert mitzumachen? Und wenn die Wirkung unerträglich ist?«

 

 

Habich an Borchert, 4. August 1990

 

»Das wird sie nicht sein. Wir können die Impulse doch nach Belieben steuern. Wir brauchen nichts zu überstürzen, Christian. Natürlich soll ihm kein Schaden aus der Sache entstehen. Wenn mich nicht alles täuscht, geht es ihm doch gut, oder? Ich bin sicher, er wird von Stolz erfüllt sein, wenn er erfährt, was Du getan hast.«

 

 

Karl schlug die Augen auf. Sein Blick fiel auf Lara, die im Schneidersitz auf einem Sessel neben dem Sofa saß, auf dem er eingeschlafen war. Sie war in einen Stapel Aufzeichnungen vertieft, den sie auf ihrem Schoß balancierte. Rings um sie herum waren weitere Blätter und Papiere ausgebreitet. Ihr Gesicht verriet die Konzentration, mit der sie sich in die Unterlagen vertieft hatte.

Karls Augen wanderten an ihr vorbei zu den großen Fenstern der Bibliothek. Davor begann langsam der Tag anzubrechen. In den Scheiben spiegelten sich noch die Bücherreihen und das Feuer, das im Kamin brannte. Er spürte ein leichtes Summen am Hinterkopf, dort wo der Verband an seinen Haaren ziepte. Doch er widerstand der Versuchung, nach dem Pflaster zu greifen. Es war sicher das Beste, wenn er die Wunde in Ruhe ließ.

»Hallo.«

Er blickte zurück zu Lara. Sie hatte bemerkt, dass er aufgewacht war, und sah ihn an.

»Hallo.« Seine Stimme hörte sich rauh und brüchig an.

Einen Moment lang ruhte ihr Blick auf ihm. »Eigentlich hätten sie dich dabehalten wollen«, sagte sie schließlich, »vielleicht war es ein Fehler, auf der Entlassung zu bestehen.«

Karl winkelte einen Arm an und stützte sich auf den Ellbogen, um sich etwas hochzustemmen. »Nach dem, was passiert ist?« Es war zu anstrengend, er ließ sich wieder zurück auf das Sofa sinken, sprach aber weiter. »Als der Arzt mich fragte, ob ich mal am Kopf operiert worden bin –« Er brach ab, starrte an die Decke.

Lara stand auf, kam zu ihm ans Sofa und setzte sich neben ihn.

»Ja, ich bin mal am Kopf operiert worden«, sagte Karl und legte den Kopf auf die Seite, um sie besser sehen zu können.

Lara legte die Hand auf die Decke, mit der sie ihn zugedeckt hatte. »Ich weiß«, sagte sie leise. »Du hast es im Krankenhaus erwähnt, und du hast die ganze Fahrt hierher davon gesprochen.« Sie sah zum Feuer. »Es hat mich darauf gebracht, in Habichs Unterlagen nach einer Korrespondenz mit deinem Vater zu suchen.«

Karl spürte, wie seine Lippe zitterte, aber er zwang sich, das Selbstmitleid herunterzuschlucken. Auch wenn er noch so geschwächt war, er würde sich diese Blöße nicht geben.

»Habich wusste Bescheid?« Er starrte sie an. Seit der Arzt im Krankenhaus ihn nach dem Implantat in seinem Kopf gefragt hatte, hatte er es geahnt. Aber er hatte es nicht für möglich gehalten. Es war alles zu viel auf einmal gewesen. Er hatte bis zu diesem Moment ja noch nicht einmal gewusst, dass er überhaupt ein Implantat im Kopf hatte! Alles, was er gewusst hatte, war, dass er nur einmal am Kopf operiert worden war. Nach seinem Fahrradunfall – und von seinem Vater. Wenn es also ein Implantat in seinem Kopf gab, dann konnte es nur bei dieser Operation hineingekommen sein.

Lara nickte, ohne zu antworten.

»Warum«, fragte er schließlich, »haben sie das gemacht? Warum haben sie mir diese verdammte Nadel ins Hirn gejagt?«

Lara antwortete nicht.

»Steht dazu nichts in den Briefen?«, stieß Karl hervor.

Sie sah ihn an.

»Was?«, entfuhr es ihm. »Red endlich mit mir, Lara!« Gleichzeitig war ihm, als würde der Schmerz seinen Schädel durchstechen. Er stöhnte auf.

»Ich lass dir die Papiere hier.« Lara stand auf. »Es sind zum Teil Unterlagen, die in Habichs Schließfach waren.«

»In was für einem Schließfach?«

»Ich habe erst gestern davon erfahren, als ich begonnen habe, seine Bankangelegenheiten zu ordnen. Er wollte die Briefe wohl nicht im Haus haben, solange du da warst.«

Karl versuchte, in ihre Augen zu sehen, aber sie hatte sich zu den Fenstern gewandt.

»Am besten, du siehst dir die Aufzeichnungen selbst einmal an«, sagte sie leise. »Draußen wird es langsam hell. Ich muss dringend ins Bett. Ich habe die ganze Nacht hier gesessen.«

 

Karl blieb allein zurück. Er vertiefte sich in die Unterlagen, die Lara ihm dagelassen hatte. Seiten und Seiten und Seiten, bedeckt mit Habichs zierlicher, gestochen scharfer Handschrift sowie der Maschinenschrift seines Vaters. Erst verstand Karl nicht, was er las. Die Sätze machten für ihn keinen Sinn – ja einen Moment lang erwog er sogar die Möglichkeit, dass Habich und sein Vater einen bestimmten Code verwendet haben könnten, durch den die Texte an der Oberfläche zwar wirkten, als wären sie aus einfachen deutschen Sätzen gebildet, durch den ihr wahrer Sinn aber erst decodiert werden musste, indem man den richtigen Interpretationsschlüssel dafür verwendete. Doch je länger Karl las, desto klarer wurde ihm, dass es einen solchen Interpretationsschlüssel nicht geben konnte, dass Habich und sein Vater nichts anderes gemeint haben konnten, als was in den Briefen stand. Und dann begriff er die ungeheuerliche Vermutung, die Habich aufgestellt und in diesen Papieren mit Borchert erörtert hatte.

Es war nicht die Vermutung, wir würden wie Gefangene in einer Höhle leben. Nicht die, ein Dämon würde uns täuschen. Nicht die, wir könnten unsere eigene Sprache missverstehen. Es war der nächste Schritt. Das vierte Gedankenexperiment, die vierte Verschwörungstheorie. Eine Theorie, die besagte, dass eine bestimmte Tatsache der Fall war – schon immer der Fall gewesen war, aber bisher noch von niemandem begriffen.

 

Die Tatsache, dass die Sprache keine Fähigkeit des Menschen ist, die er beherrscht – sondern ein eigenständiges Wesen, das ihn beherrscht.