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Aus: »Das vierte Paradigma. Fakten, Protagonisten, Hintergründe. Vorwort«, Berlin 2014, S. 8

 

»Darüber, was genau am 6. und 12. Oktober auf Urquardt geschehen ist, wird nach wie vor heftig gestritten, und es ist vollkommen offen, wann endgültig Klarheit bestehen wird. Es gibt jedoch eine Reihe von Hinweisen, die nahelegen, dass Habich mit dem, was er in seinen letzten Briefen als ›Durchbruch‹ bezeichnet hatte, genau das meinte, was sich wenige Tage nach seinem Tod vollzogen hat. Nicht zuletzt das Labor, das im Tiefkeller Urquardts gefunden wurde, weist in diese Richtung. Sämtliche Geräte, Videoaufzeichnungen und Computerdaten aus dem Labor wurden von den Behörden beschlagnahmt und sind bis heute nicht freigegeben worden. Aber warum? Dafür kann es nur eine Erklärung geben: Was in diesem Labor geschehen ist, stellt eine Bedrohung dar, deren Ausmaß und Gefährlichkeit zu beurteilen sich die eingesetzte Kommission bis heute nicht zutraut.«

 

 

Es war bereits kurz vor halb neun, als Karl am nächsten Morgen die Treppe hinabschritt, die von seinem Gästezimmer ins Erdgeschoss führte.

In dem Moment, in dem er sich am Abend zuvor umgedreht hatte, war die Gestalt, die hinter ihm gelauert hatte, auch schon zurückgesprungen, durch die Regale hindurch zu der Wendeltreppe geschlüpft und nach unten gehuscht.

Karl hatte die Stufen der eisernen Treppe noch leise klappern gehört – dann war es still gewesen.

Doch der Schrecken hatte tief gesessen. Das war kein Traumbild gewesen, wie das Wesen, halb Mensch, halb Tier, das ihn in dem Alptraum während seiner ersten Nacht auf Urquardt heimgesucht hatte. Das war ein Geschöpf aus Fleisch und Blut gewesen – ein Mann, wie Karl sich inzwischen sicher war, wenn auch von abstoßender Erscheinung.

Eine Zeitlang hatte Karl reglos vor dem Regal mit den Tonbändern gehockt und gelauscht. Ruhig hatte das Gebäude dagelegen. Er hatte vermutet, dass Habich längst aus Berlin zurückgekehrt sein müsste, dass die Eheleute sich in ihr oder ihre Schlafzimmer zurückgezogen hatten. Es war zu spät am Abend gewesen, um Habich noch aufzusuchen und nach der Gestalt zu fragen, die hinter Karl plötzlich aufgetaucht war.

Jetzt aber – am nächsten Morgen und zumindest äußerlich wieder in Form gebracht – wollte Karl das nicht länger aufschieben.

 

Er fand ihn im Frühstückszimmer, das unter dem Archiv im Seitenflügel lag. Habich saß gemütlich in einem Sessel, hatte sich zurückgelehnt und war in eine Zeitung vertieft. In der Rechten hielt er eine aufgeschnittene, mit Schinken belegte Brötchenhälfte. Als er aufsah, um Karl zu begrüßen, kaute er noch.

»Borchert!«, stieß er hervor und schluckte den Bissen hinunter. »Kommen Sie, greifen Sie zu.« Er deutete auf den Tisch in der Mitte des Raumes, der üppig mit Aufschnitt- und Käseplatten vollgestellt war, mit Obstschalen, Fruchtsäften und allen erdenklichen Cerealien. »Ich hoffe, es ist etwas dabei, das Ihnen zusagt.«

Karl trat an die Espressomaschine und begann, sich einen Cappuccino zu machen. »Was war das denn für ein Mann, der mich gestern Abend im Archiv überrascht hat?«, sagte er, ohne sich umzudrehen, nachdem er Habich einen guten Morgen gewünscht hatte. Dabei achtete Karl sorgfältig darauf, seine Stimme möglichst ruhig zu halten. Am besten, er brachte es gleich zur Sprache, dachte er. Solange er nicht wusste, was es mit dieser Gestalt auf sich hatte, hatte er keine Lust, seine Arbeit im Archiv einfach fortzusetzen.

»Janker?«, hörte er Habich hinter sich fragen. »Er geht uns hier im Haus ein wenig zur Hand. Seine Frau haben Sie ja schon kennengelernt.«

Jetzt drehte sich Karl doch um. Ein Haushälter?

Habich schnappte sich von seinem Sessel aus ein neues Brötchen aus dem Korb auf dem Tisch und begann, es auf einem Teller auf den Knien balancierend aufzuschneiden. »Janker ist eine Seele von Mensch«, fuhr er fort. »Ich kann verstehen, dass Sie überrascht waren, als er plötzlich hinter Ihnen stand. Er hat mir bereits davon erzählt. Er hatte bei seinem abendlichen Rundgang ein Geräusch im Archiv gehört und wollte nach dem Rechten sehen. Er wollte Sie nicht erschrecken, ich kann Ihnen versichern, es tut ihm leid.«

Karl setzte sich, nun doch ein wenig beruhigt, mit seiner Cappuccino-Tasse so an den Tisch, dass er Habich im Auge behalten konnte. »Aber sein Gesicht … Er wirkt, wie soll ich sagen … als wären seine Züge geradezu überwuchert.«

Habich sah auf, milde Überraschung im Blick. »Ja? Nun Borchert, ich weiß nicht, wie ich es anders erklären soll. Der Mann arbeitet für mich und tut keiner Fliege etwas zuleide.« Er lächelte, wie um seine etwas schroffe Wortwahl ein wenig abzumildern.

Aber Karl war entschlossen, sich so schnell nicht abspeisen zu lassen. Janker war ja nicht das Einzige, das ihm aufgefallen war. »Ich bin an der Mauer des Archivs auf die ›Melancholie‹ gestoßen«, sagte er, »hinter dem Vorhang.«

»Ach ja?« Habich kniff die Augen zusammen.

»Die drei skeptischen Fragen«, fuhr Karl fort, aber er wurde von Habich unterbrochen.

»Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass ich hoffte, Sie würden sich erst einmal selbst einen Überblick über das Material verschaffen, bevor ich mit Ihnen über Details sprechen will.« Habich sah Karl abschätzend an.

Die toten Philosophen – was ist mit denen, ging es Karl durch den Kopf. Pythagoras, Descartes, Gödel, Schlick. Aber er hatte es Lara versprechen müssen: Er würde Habich nicht sagen, dass sie ihm davon erzählt hatte. Sie hatte gemeint, dass Habich ihm sicher selbst bald davon berichten würde und sich nur unnötig aufregen könnte, wenn er erfuhr, dass Lara bereits darüber mit Karl gesprochen hatte.

»Und die Tonbänder?«, sagte Karl also stattdessen. »Das Ziegenproblem. Sie hätten dem armen Teufel wirklich nicht so zusetzen dürfen.«

»Die haben Sie auch gefunden?« Habichs Gesicht entspannte sich wieder. »Vielleicht haben Sie recht, der Junge war eigentlich ganz nett.« Er nickte Karl zu, alles Misstrauen war aus seinem Blick verflogen. »Aber was soll’s? Es ist ein Test. Kein Mensch ist verpflichtet, sich darauf einzulassen. Nur wer bei mir arbeiten will, muss sich das gefallen lassen. Ich muss schließlich wissen, mit wem ich es zu tun habe.«

Karl sah ihn an. »Und was kommt als Nächstes? Soll ich auch erst mal einen Test machen?«

Habich ließ sich in seinem Sessel zurückfallen. »Hätten Sie das Ziegenproblem auch falsch gelöst?«

Karl musste lächeln. »Nein, das nicht.«

»Na also! Nein, wirklich, auf meine Tonbandsammlung bin ich sehr stolz. Haben Sie nur das eine gehört? Oder auch ein paar von den anderen abgespielt?«

»Nur das eine.«

Habich stützte die Ellbogen auf die Armlehnen des Sessels und legte die Fingerspitzen aneinander. »Wenn es Sie interessiert, rate ich Ihnen, auch in die anderen einmal reinzuhören. Es sind nicht nur Tests, es sind auch Gespräche darunter, die ich mit Patienten in psychiatrischen Kliniken geführt habe oder mit selbsternannten Weisen. Sie können da sehr schön etwas beobachten, das ich die …«, wie entschuldigend nickte er Karl zu, »die Entgleisung des Sinns nenne.«

Habich hob die Hand, weil er merkte, dass Karl ihm ins Wort fallen wollte. »Moment, lassen Sie mich kurz ausreden, bitte. Das ist ein Phänomen, das Sie auch bei Philosophiestudenten beobachten können und sicherlich selbst kennen. Die jungen Männer – meistens Männer, Frauen sind da weniger anfällig – schwelgen in ihren Worten, werfen mit Fachtermini um sich, bemühen die Namen der Geistesgrößen, am liebsten übrigens Nietzsche oder Wittgenstein, und lassen sich in ihrem Elan anscheinend durch nichts aufhalten. Wenn Sie aber nachhaken, wenn Sie versuchen festzustellen, was genau der Student Ihnen sagen will, was er mit diesen Begriffen, mit diesen Namen ausdrücken will, werden Sie sehr schnell feststellen, dass dem Guten der Sinn gleichsam zwischen den Händen hindurchgerutscht ist. Und je mehr Sie nachbohren, je hartnäckiger Sie versuchen, ihn festzulegen, desto hilfloser wird er. Desto mehr löst sich ihm der Sinn auf, wenn Sie so wollen. Die Begriffe erweisen sich als undefiniert, die Namen als falsch eingesetzt, die Lehren, die als Belege herangezogen werden, als falsch oder gar nicht verstanden. Der ganze philosophische Diskurs entpuppt sich als ein sich im Kreis drehendes, leerlaufendes Ungetüm, dem niemand folgen kann.«

Habich machte eine Pause, wie um sich zu vergewissern, ob er noch Karls Aufmerksamkeit hatte. Und das hatte er. Karl nippte an seinem Cappuccino und hörte ihm zu.

»Zugespitzt lässt sich so ein Phänomen auch in den psychiatrischen Anstalten beobachten«, fuhr Habich fort, »nur dass den Patienten dort der Sinn nicht erst durch die Hände schlüpft, wenn sie versuchen, etwas Philosophisches zu sagen, sondern schon bei Äußerungen über die einfachsten, gewöhnlichsten Dinge.«

»Ach ja?«, schaltete sich Karl jetzt doch ein. »Und was in aller Welt hat das Ziegenproblem damit zu tun?«

»Liegt das denn nicht auf der Hand?«, erwiderte Habich, immer noch das unangebissene Brötchen auf seinem Teller balancierend. »Letztlich geht es wieder um die Intuitionen, über die wir doch neulich schon gesprochen haben. Diese Patienten oder Studenten, denen der Sinn entgleist, wovon lassen die sich denn führen? – Von ihrem Bauchgefühl, von ihren Intuitionen. Und da waren wir uns doch vorgestern einig: In der philosophischen Arbeit steht uns nichts anderes als der gesunde Menschenverstand, nichts anderes als unsere Intuitionen zur Verfügung. Sie können sich also vorstellen, wie wichtig es ist, dass man sich auf seine Intuitionen verlassen kann, wenn man philosophisch arbeiten will. Woher aber weiß ich, ob ich mich auf die Intuitionen eines Mitarbeiters verlassen kann? Nun, da kommt das Ziegenproblem ins Spiel. Sehen Sie, die meisten Menschen werden so entscheiden wie der arme Tropf, den Sie auf dem Band gehört haben und den Sie so bemitleiden. Dass die meisten so entscheiden, ändert aber nichts daran, dass es die falsche Entscheidung ist. Richtig ist es, so zu entscheiden, dass man die Wahrscheinlichkeit, das Auto zu bekommen, maximiert. Darin würden Sie mir zustimmen, nehme ich an.«

Karl zog die Schinkenplatte zu sich heran und bediente sich. »Okay.«

»Gut«, fuhr Habich fort. »Kurz gesagt: Wer falsch wählt, hat die falschen Intuitionen und stellt somit, wenn ich mit ihm zusammenarbeiten soll, eine Gefahr für meine Arbeit dar, die nicht zuletzt von der Qualität meiner Mitarbeiter abhängig ist. Einfach, oder?« Er sah Karl an.

»Okay«, sagte der noch einmal, fuhr dann jedoch fort: »Aber warum sammeln Sie dann Tonmitschnitte, in denen die Leute gerade von ihren Intuitionen genarrt werden, in denen ihnen der Sinn, wie Sie sagen, entgleist. Ist das relevant, wenn es Ihnen doch um die richtigen und nicht die falschen Intuitionen geht?«

Habich lachte. »Die Intuitionen, die uns führen, sind ja nicht willkürlich oder chaotisch. Weder, wenn sie gut funktionieren, noch, wenn sie schlecht funktionieren. Die Frage ist nur, wie funktionieren sie? Welche Regeln, welche Mechanismen liegen ihnen zugrunde? Und um diese Frage zu beantworten, habe ich versucht, mich eines alten Tricks zu bedienen. So wie ein Psycholinguist etwa einen Sprachaphasiker, also einen Kranken untersucht, um Aufschluss über die Sprachkompetenz der Gesunden zu bekommen – so habe ich Sinnentgleisungen untersucht, um Aufschluss darüber zu bekommen, welchen Regeln die Intuition folgen muss, wenn sie uns gerade nicht in die Irre führen soll.«

Er schob Brötchen und Teller, nun selbst ganz von dem, was er ausführte, in Anspruch genommen, auf den Tisch. »Wie zeigt sich das Funktionieren des Denkens in jenen Fehlerscheinungen? Das war mein Ansatz! Was ich nicht gebrauchen konnte und deshalb auch nicht aufgezeichnet habe, war, wenn jemand nur noch Laute vor sich hinstammelt. Nein, was mich interessiert hatte, ist, wenn jemand schon noch einen Sinn glaubt vor Augen zu haben … wenn er so spricht, dass es auf den ersten Blick einen Sinn zu haben scheint – aber nicht hat.«

Karl hatte seinen Schinken aufgegessen und stand auf, um sich eine Portion von dem Rührei, das auf einer kleinen Gasflamme warm gestellt war, auf seinen Teller zu laden. Er war sich nicht sicher, was er von dem Ansatz, über den Habich gerade sprach, halten sollte. Aber etwas anderes hatte sich ihm zunehmend aufgedrängt.

»In meiner ersten Nacht hier«, sagte er, nachdem er sich bedient hatte, »hatte ich einen Alptraum. Fällt das auch in Ihre Kategorie von Sinnentgleisungen?« Noch während er die Worte sprach, hallte es »Nimm dich vor dem Mann in Acht« in Karls Schädel – obwohl er nicht genau hätte sagen können, was es war, das ihn Habich gegenüber so misstrauisch machte, außer vielleicht, dass Habichs eigene Frau ihn vor ihm gewarnt hatte.

»Das tut mir leid zu hören.« Habich hatte die Arme verschränkt, sich in seinen Sessel zurückgelehnt und sah Karl nachdenklich an.

»Einen Alptraum – na schön, werden Sie sagen, was ist daran so besonders?« Karl stützte den Ellbogen auf den Tisch, dass die Gabel ein wenig in die Luft ragte. »Das habe ich mich zuerst auch gefragt. Bis mir klarwurde, dass ich einen solchen Alptraum noch nie gehabt hatte. In seiner Wirklichkeitsnähe, in dem Entsetzen, das er in mir ausgelöst hat, in seiner Plastizität auch nach dem Aufwachen noch, übertraf er alles, was ich jemals zuvor geträumt habe.«

»Wirklich? Faszinierend …« Habichs Stimme klang, als wäre er nicht ganz bei der Sache. Karl meinte, ihm ansehen zu können, dass er ihm glaubte, dass es ihn interessierte – dass er ihn zugleich aber auch nicht ganz ernst nehmen konnte.

»Was ist?«, hob Karl wieder an. »Haben Sie irgendwelche Lautsprecher in meinem Zimmer installiert? Über die Sie Geräusche einspielen, die man im Schlaf nur unbewusst wahrnimmt? Haben Sie dafür gesorgt, dass dieser Alptraum ausgelöst wurde? Vielleicht mit einem Mittel im Essen. In den Getränken?« Er legte die Gabel hin, bereit, aufrichtig empört zu reagieren, wenn sich herausstellen sollte, dass er ins Schwarze getroffen hatte.

Aber Habich lachte. »Wie kommen Sie denn darauf? Natürlich nicht.« Er stand auf und begann, die Hände auf dem Rücken ineinandergeschoben, in dem Saal auf und ab zu laufen. »Urquardt ist ein altes Haus. Kein Wunder, wenn man da schlecht träumt.«

Er blieb stehen, wieder ernst geworden, und fasste Karl ins Auge. »Aber das kann ich Ihnen versichern, Borchert: Mich interessieren Ihre Alpträume nicht, auch wenn sie noch so ungewöhnlich sind. Auch wenn Sie noch so wilde Traumata darin verarbeiten. Mich interessiert nicht die Psychologie, mich interessiert die Philosophie, verstehen Sie?« Und bei diesen Worten trat ein Leuchten in seine Augen. »Mich interessiert nicht das Einzelschicksal – mich interessiert die Denkmöglichkeit!«