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Karl ließ das Handy sinken und deaktivierte es. Einen Augenblick lang glaubte er, im Dunkeln nichts erkennen zu können. Dann aber nahm der Raum langsam Gestalt an.
Es war eine gewaltige Eingangshalle, ringsum mit Holzpaneelen getäfelt. An der rechten Wand zog sich eine breite Treppe bis in den ersten Stock, der fast fünf Meter über dem Erdboden liegen musste und auf dessen Höhe die Treppe in eine Galerie mit massivem Geländer mündete. Die Eingangshalle selbst reichte über beide Stockwerke hinweg und wurde in gut neun Metern Höhe von einer stuckverzierten, gewölbten Decke abgeschlossen, die Karl mehr erahnte, als dass er sie erkennen konnte.
»Herr Habich?«
Er wagte sich einen weiteren Schritt in die Halle hinein. Die Haustür ließ er vorsichtshalber offenstehen. In dem fahlen Licht des späten Abends, das durch die hohen Fenster gerade noch einfiel, erkannte er eine Sitzgruppe, die gleich neben der Freitreppe auf dem Steinfußboden der Halle stand. Drei sorgfältig geschnitzte, ausladende Sessel und ein breites Sofa waren um einen niedrigen Tisch herum aufgestellt. Relikte aus einer längst vergangenen Zeit der Platzverschwendung und Schwermütigkeit, deren seidene Bezüge teilweise bis auf die darunterliegende Polsterung abgenutzt waren.
Mehr als alles andere erregte jedoch eine Skulptur seine Aufmerksamkeit, die am Fuß der Treppe aufgestellt war und deren weißes Marmor im Dämmerlicht schimmerte. Es war die Statue einer jungen Frau, die mit einer nachlässigen, eleganten und doch fast müden Geste ein Tuch feinster Durchlässigkeit über sich zog. Ein Tuch aus Stein, an den Rändern durchbrochen und so kunstvoll gemeißelt, dass man den Eindruck bekam, sein Faltenwurf sei gerade eben in einem verwunschenen Augenblick versteinert. Dabei hatte die Schöne das Tuch nicht nur um ihre Schultern geschlungen, um darunter die nackte Haut zu verbergen, sondern es bis hoch hinauf zu ihrem Kopf gezogen. Ja darüber hinaus, bis übers Gesicht, dessen Augen sich nur als Höhlen abzeichneten und dem Betrachter den Eindruck vermittelten, die Nackte würde sich genau vor ihm aus unerfindlichen Gründen verbergen. Aus Scham, aus Angst, aus Koketterie? Es ließ sich nicht sagen, da man ihr ja nicht ins Gesicht sehen konnte.
Fasziniert machte Karl einen Schritt auf die Skulptur zu, um sie zu berühren – fuhr im gleichen Moment aber irritiert zusammen.
Was war das?
Er hielt den Atem an.
Da war es wieder. Ein feines, leises, entferntes Geräusch, das sich aus den Tiefen des Hauses zu ihm verirrt zu haben schien. Eine Art Säuseln, Pfeifen oder Piepsen, so dünn und fragil, dass Karl sich unwillkürlich fragte, ob er es wirklich wahrnahm oder sich nur einbildete. Allein das Kribbeln auf seiner Haut und der beschleunigte Schlag seines Herzens schienen zu signalisieren, dass er es wirklich hörte.
»Habich?«, entfuhr es ihm so heftig, dass er fast über sich selbst erschrak.
»Ist hier denn niemand?«, hörte er sich poltern, als würde sein Körper schneller reagieren, als er entscheiden konnte. Schon spürte er, wie er sich umdrehte, von dem plötzlichen Drang durchschossen, diesem Haus den Rücken zu kehren, es zu verlassen, bevor es zu spät war – da hörte er hinter sich eine Stimme.
»Borchert! Da sind Sie ja!«
Karl wirbelte herum.
Da stand sie wieder, die nackte Schöne mit dem Tuch überm Gesicht. Im selben Moment blitzte es, und ein gleißender Schein durchflutete die Halle, das Licht aus acht Dutzend Glühbirnen eines bronzenen Kronleuchters, der von der Decke herabhing und das eben noch schwarzgrau dahinschlummernde Foyer in ein schillerndes Strahlen tauchte.
»Sie müssen entschuldigen«, rief ein Mann, der die Treppe hinunter auf Karl zueilte, eine hochaufgeschossene, hagere Gestalt, die mit jedem Schritt drei Stufen auf einmal zu nehmen schien. »Wie lange sind Sie denn schon hier? Wir müssen dringend eine Klingel anbringen lassen!«
Schon hatte der Mann die Treppe hinter sich und kam mit ausgestreckter Hand auf Karl zu. »Habich mein Name, haben Sie denn den Weg gut gefunden?« Und damit packte er Karls Hand mit einem Griff, der Karl instinktiv zusammenzucken ließ, nicht weil die langen Finger des anderen eiskalt waren, sondern weil es sich anfühlte, als würde ein Schraubstock aus Stahlknochen und Eisensehnen sich um seine Hand schließen.
»Es tut mir leid, dass ich Sie so empfange, ich war gerade oben bei meiner Frau, sie fühlt sich nicht wohl«, sagte Habich und zeigte ein Lächeln, das sein langes Gesicht aufhellte und von den Augen ausging, bei dem sich die schmalen Lippen aber nicht teilten.
Sie fühlt sich nicht wohl, hallte es in Karls Schädel, und ihn durchfuhr ein Gefühl, als ob ein rasender Kopfschmerz sich ausbreitete.
»Geht es Ihnen nicht gut? Sie … entschuldigen Sie, aber Sie sehen ein wenig blass aus«, hörte er Habich sagen und rang mit sich, um ihm endlich antworten zu können.
Da spürte er, wie der andere seine Hand losließ und die Knorpel zwischen seinen Knochen von dem entsetzlichen Druck befreit an ihre ursprüngliche Position zurückschnappten. Doch gleichzeitig beschleunigte die Bewusstwerdung dieses Gefühls den Taumel, dem er so verzweifelt versuchte, Einhalt zu gebieten.
»Frau Janker«, hörte er Habich jetzt rufen, »unserm Gast geht es nicht gut. Er braucht einen Tee. Beeilen Sie sich!«
Karl fühlte, wie Habich ihn stützte und zu den Sesseln neben der Treppe führte.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sprach Habich unablässig weiter, »es wird gleich wieder vorbei sein. Wahrscheinlich ist das alles ein wenig zu viel auf einmal. Die Ablehnung Ihres Projektes gestern …«
Woher weiß er von meinem Projekt?, waberte es Karl durch den Kopf.
»… die Räumung des Arbeitszimmers, Forkenbecks Angebot, die überstürzte Abfahrt – aber ich kann Ihnen versichern: Die Forschungsgemeinschaft war schon immer ein lahmer Haufen. Wissen Sie, wann die mir das letzte Projekt bewilligt haben? ’77 war das, und das auch nur, weil ich schwören musste, auf den einzigen Teil, der mich wirklich daran interessiert hätte, glattweg ganz zu verzichten. Hier, setzen Sie sich, gleich kommt Ihr Tee.«
Karl vernahm, wie Habichs Stimme wie von ferne unentwegt auf ihn zurollte.
»Evolutionäre Sprachtheorie – eine brillante Idee. Forkenbeck hat mir ein wenig erzählt, was Sie vorhatten. Wirklich ein Jammer. Und was wird stattdessen gefördert? Eine neue Gesamtausgabe von wem? Jaspers vielleicht? Oder Gadamer?« Die Laute prasselten auf ihn ein wie die Schläge eines Klöppels, der eine unsichtbare Glocke in schmerzhafte Schwingungen versetzte.
Längst hatte Karl die Augen zu Schlitzen verengt, von gelben Sternen durchblitzt und in Einzelbilder zerstückelt sah er Habich vor sich stehen, das graue Haar kurz, die lange, dünne Gestalt in einen schwarzen Anzug gehüllt, mit schwarzem Hemd und schwarzer Krawatte, die Hände in die Hosentaschen versenkt, die Augen aber – graublaue, schöne Augen, in denen eine kühle Härte zu glänzen schien – hatte er direkt und forschend auf Karl gerichtet, als versuchte er, von dessen Gesicht abzulesen, was in ihm vorging.
Schon wollte sich Karl mit aller ihm verbliebenen Kraft aus dem Sessel aufrichten, da wandte sich Habich plötzlich ab.
»Wo bleibt denn Ihr Tee, verdammt.« Er schritt, mit den Sohlen seiner Schuhe hart auf die Steinfliesen klackend, quer durch die Halle zu einer der Türen in der hinteren Wand.
Karl blieb zurück. Es kam ihm so vor, als würde sein Kopf von der Glocke befreit, die ihn umfangen hatte. Er holte tief Luft. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, die Hände zitterten. Doch der Schwindel und der Kopfschmerz, die ihn eben noch beinahe zu Boden geworfen hatten, waren verflogen.