9
War es wirklich wegen der unerwarteten Ablehnung gewesen? Wegen der überstürzten Reise? War es, weil er sich durch Habichs Erscheinung eingeschüchtert gefühlt hatte? Durch Habichs Vergangenheit, durch seine Arbeiten, nicht zuletzt durch sein Haus? War es, weil er krampfhaft versucht hatte, das Schwindelgefühl zu unterdrücken, so dass es sich nur noch verstärkt hatte? Weil er in dem Hotel schlecht geschlafen und außer einem Espresso am Morgen nichts zu sich genommen hatte? Was auch immer es gewesen war, das seinen Schwächeanfall ausgelöst hatte, nachdem Karl sich davon erholt hatte, waren die Beschwerden nicht mehr zurückgekehrt.
»Nein, hat es nicht. Einen Fortschritt hat es nie gegeben«, sagte er und warf Habich einen Blick zu. Das Gespräch, in das ihn sein Gastgeber verwickelt hatte, drehte sich längst um Philosophie.
Sie hatten an einem großen Tisch in einem Saal Platz genommen, der unmittelbar an die Eingangshalle grenzte und als Esszimmer genutzt wurde. Die Tafel war mit Meißner Porzellan, weißen Servietten und silbernen Leuchtern aufwendig gedeckt. Eine magere, schweigsame Frau, die Habich als Frau Janker, seine Haushälterin, vorgestellt hatte, hatte als Vorspeise eine Platte mit kaltem Tafelspitz in Schnittlauchvinaigrette serviert. Karl hatte sich reichlich davon aufgetan und bereits bei den ersten Bissen befriedigt festgestellt, dass das Fleisch vorzüglich gewürzt war und auf der Zunge zerging.
»Lassen wir einmal die Frage beiseite, wie weit andere Wissenschaften von ihr beeinflusst worden sind«, fuhr Karl fort, »und betrachten wir nur das, was innerhalb der Philosophie selbst stattgefunden hat. Also nicht das, wozu Wissenschaftler, die sich anderer Methoden bedienen, durch die Philosophen inspiriert worden sind, sondern das, was die Philosophen selbst geleistet haben. Dann würde ich ganz klar sagen: Einen Fortschritt hat es nie gegeben. Alles was Platon von Habermas unterscheidet, ist, dass sie sich unterschiedlicher Sprachen bedienen. Was sie in ihrer jeweiligen Terminologie aber sagen, spielt letztlich keine Rolle. Es ist höchstens für diejenigen relevant, die selber philosophieren wollen. Für alle anderen hat es keinerlei Bewandtnis – egal, wie sehr die Philosophen beteuern, ihre Überlegungen seien richtungsweisend für alle.«
Er lächelte. Sicher, das war eine gewagte These. Aber Karl war bereit, sie zu verteidigen. Es war sozusagen das, was er schon immer befürchtet, nie jedoch wirklich geglaubt hatte. Aber vielleicht war es ja so. Vielleicht ergab sein Kampf dagegen, seine Hoffnung auf einen Sinn in der Philosophie ja keinen Sinn. Was würde ihm ein Mann wie Habich darauf antworten?
»Kommen wir noch mal auf das zurück, was ich vorher absichtlich beiseitegelassen habe«, fuhr Karl fort, da Habich noch mit seinem Essen beschäftigt war und nichts erwidert hatte. »Wie sehr die Philosophen andere Wissenschaftler beeinflusst haben. Haben sie? Oder scheint es uns nur so? Könnte es nicht sein, dass in Wahrheit genau das Gegenteil der Fall ist? Dass jedes Mal, wenn ein Kopf sozusagen beginnt, sich philosophisch zu besinnen, dass er dann abgetrieben wird von jeder Idee, die irgendwie verwendbar sein könnte? Dass alle Ergebnisse, die bis heute gesammelt worden sind, alle Techniken, alle Gesetzmäßigkeiten, ja auch die ethischen Grundüberzeugungen, erst dann gefunden wurden, wenn man sich abwandte von der philosophischen Betrachtungsweise, abwandte von dem Versuch, die allgemeinstmögliche Beschreibung zu finden, und hinwandte zu der Frage, mit welchem konkreten Mittel man ein konkretes Ziel erreichen kann?«
Habich zog die Fleischplatte, die vor ihm stand, zu sich heran und tat sich noch eine Scheibe auf den Teller. »Und Marx?«, sagte er leichthin. »Vielleicht ein etwas grober Hinweis. Aber warum nicht?« Er schob die Platte zurück und sah Karl an. »Sie fragen, ob nicht jede philosophische Besinnung zwangsläufig dazu verurteilt ist, sozusagen an der Welt vorbeizugehen, keinerlei Einfluss auf sie zu haben. Ich sage: Was ist mit Marx? Zu seinen Überzeugungen ist er durch eine philosophische Besinnung gelangt. Und seine Überzeugungen haben sich recht konkret in der Welt ausgewirkt, meinen Sie nicht?«
Karl nickte. »Keine Frage. Und wie viel uns das gebracht hat, haben wir ja gesehen. Ist Marx nicht das beste Beispiel dafür, dass es schiefgeht, sobald man beginnt zu philosophieren?« Er lächelte.
Habich hatte sich wieder dem Fleisch auf seinem Teller zugewandt.
»Tatsächlich bringt er uns nur zu dem zurück, was ich vorher gesagt habe«, fuhr Karl fort. »Welchen Einfluss die Philosophen in der Vergangenheit auf die Welt gehabt haben mögen, lässt sich heute nur noch schwer einschätzen. Also denke ich, dass wir getrost das, was früher einmal war, heute vernachlässigen können. Es ist lange her. Was kümmert es uns? Sehen wir uns lieber an, was heute ist. Nehmen wir zum Beispiel die Ethikkommissionen, die seit einigen Jahren eingerichtet werden. Etwa die, die entscheiden soll, wie weit die Genforschung gehen darf. Wer gehört so einer Kommission an? Ein Mediziner? Ein Biologe? Ein Theologe? Alles wunderbar. Dann aber sitzt auch ein Philosoph in der Runde. Und jetzt frage ich Sie: Was soll uns dieser Philosoph sagen? Woher nimmt er die Urteile, die er in den Diskurs einspeist? Hat er Experimente gemacht, deren Ergebnisse wir kennen müssen, um zu einem ausgewogenen und angemessenen Urteil zu kommen? Nein! Beherrscht er die Methoden, die zur Diskussion stehen? Nein! Das Einzige, was er machen kann, ist, den gesunden Menschenverstand zu Wort kommen zu lassen. Aber in dem Moment, in dem er seinen ganzen Begriffsapparat in Gang setzt, um diesen gesunden Menschenverstand anzuwenden, verzerrt er ihn auch schon. Verstehen Sie? Deshalb – so sehe ich das zumindest – ist sein Beitrag auch nichts weniger als gefährlich. Zugespitzt formuliert: Kaum macht er den Mund auf, dirigiert er uns in die falsche Richtung. Marx hat das nur am deutlichsten gezeigt.«
Karl griff nach dem Wasserglas, das neben den langstieligen Weingläsern vor ihm stand, und nahm einen tiefen Schluck daraus.
Habich hatte die Gabel sinken lassen und ihm aufmerksam zugehört. In seinen Augen blinkte etwas, das Karl für Freude darüber hielt, aus seinem Gast eine so radikale Meinung herausgeholt zu haben. »Sie lassen ja wahrlich kein gutes Haar an Ihrer Disziplin«, sagte er.
»Sehen Sie das etwa anders?«, entgegnete Karl. »Was erwarten Sie sich denn von der Philosophie, wenn ich einmal direkt fragen darf.«
Habich lachte. »Jedenfalls habe ich im Gegensatz zu Ihnen die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Sonst hätte ich doch längst begonnen, etwas anderes zu machen.« Er hielt einen Moment inne, um ebenfalls einen Schluck zu trinken, entschied sich jedoch anders als Karl für das Wein- und nicht das Wasserglas. »Natürlich kann ich verstehen, was Sie meinen«, fuhr er schließlich fort, nachdem er das Glas wieder hingestellt hatte. »Wenn man nicht über das, was andere geschrieben haben, schreiben will, sondern über etwas, was nichts mit den Schriften anderer Philosophen zu tun hat, dann stellt sich die Frage, auf was man sich als Philosoph berufen kann, um das Phänomen zu analysieren, das einen umtreibt. Da gebe ich Ihnen völlig recht. Nur Ihrem Ergebnis stimme ich nicht zu. Ich denke nicht, dass der Philosoph notgedrungen den gesunden Menschenverstand verzerren muss. Im Gegenteil. Ich denke, dass es durchaus Möglichkeiten für ihn gibt, gerade ihn, also den gesunden Menschenverstand, zu analysieren.«
Karl lächelte. »Und womit? Selbst wieder mit dem gesunden Menschenverstand?«
»Durch Gedankenexperimente«, erwiderte Habich und sah ihn aufmerksam an. »Schon mal gehört?«
Gedankenexperimente. Habichs Buch von ’84 hatte so geheißen: »Über Gedankenexperimente«. Jetzt bereute Karl, es nicht durchgearbeitet zu haben. »Grot, Gehirne im Tank, Zombies, Zwillingserde«, zählte er einige der bekannteren Gedankenexperimente auf, um anzudeuten, dass ihm der Begriff schon etwas sagte.
»Ja, genau«, unterbrach Habich ihn, lächelte wie entschuldigend, fuhr aber zugleich fort: »Nehmen wir zum Beispiel Galileis Gedankenexperiment, mit dem er Aristoteles’ Auffassung widerlegt hat, dass schwere Körper schneller zu Boden fallen als leichte.«
Karl überlegte. »Galilei schlug vor, dass wir uns eine Feder und eine Kanonenkugel vorstellen sollten, die fest miteinander verbunden sind.«
Habich nickte. »Kriegen Sie es noch zusammen?«
»So schwer ist es ja nicht«, entgegnete Karl und legte seine Gabel auf den Teller, um sich besser konzentrieren zu können. »Wir sollten uns vorstellen, dass wir diese beiden fest miteinander verbundenen Gegenstände aus dem Fenster fallen lassen. Wenn die Feder jetzt langsamer fallen würde als die Kugel, müsste sie den Sturz der Kugel abbremsen. Gleichzeitig sind Kugel und Feder aber schwerer als die Kugel allein – und müssten somit zusammen auch schneller fallen. Das aber ist ein Widerspruch. Kugel und Feder können nicht zugleich schneller und langsamer fallen als die Kugel allein.«
Habich strahlte. »Herrlich, finden Sie nicht? Ein wunderbares Gedankenexperiment – durchführbar allein mit dem gesunden Menschenverstand. Denken Sie nicht, dass es etwas bringt?«
Karl lehnte sich zurück. »Ja, es ist recht eindrucksvoll. Aber letztlich erreicht es nichts anderes, als die Meinung eines anderen Philosophen, nämlich Aristoteles, zu widerlegen. Und das habe ich nie bestritten. Im Widerlegen anderer Philosophen waren die Philosophen schon immer die Größten.«
Habich musterte Karl. »Okay, Sie haben recht. Nur«, er beugte sich vor, »Sie vergessen dabei etwas.«
»Und was?«
»Dass man es messen kann.«
»Dass man messen kann, dass Kugel und Feder gleich schnell fallen?«
»Ja.«
»Na und? Man kann es messen. Kugel und Feder fallen gleich schnell – im luftleeren Raum wohlgemerkt. Schön und gut. Aber was hat das damit zu tun, dass das Gedankenexperiment nichts anderes macht, als eine falsche Philosophenmeinung zu widerlegen?«
»Nun«, entgegnete Habich, »es ist nicht nur eine Philosophenmeinung – in gewisser Weise ist es doch der gesunde Menschenverstand, der sich hier selbst widerlegt. Bevor er eines Besseren belehrt wird, geht jeder davon aus, dass eine Kugel auch im luftleeren Raum schneller zu Boden fällt als eine Feder. Natürlich tut sie das, denkt man, aber das stimmt eben nicht. Und das Gedankenexperiment zeigt das. Die Messung bestätigt nur, was die Überlegung allein schon beweist.«
Karl widmete sich seinem Essen.
»Einem Kopf wie Galilei gelingt es also«, fuhr Habich fort, »allein durch das Spiel seiner Gedanken etwas so Zähes, alle unsere Vorstellungen Dominierendes wie die herrschende Meinung zu durchschauen, um dahinter auf was? Auf die Wahrheit zu stoßen. Faszinierend, oder? Und dass es die Wahrheit ist, was er dahinter aufzeigt, lässt sich eben durch eine Messung belegen. Ich finde das großartig. Das Großartigste daran aber ist für mich, dass die Speerspitze dieser Übung eben durch die Philosophie bereitgestellt wird. Einzig und allein, indem sie mit dem gesunden Menschenverstand arbeitet. Mehr braucht Galilei für sein Gedankenexperiment ja nicht. Der gesunde Menschenverstand schwingt sich dank der Philosophie sozusagen zur Wahrheit auf. Oder, wenn Ihnen das lieber ist: Er befreit sich selbst aus dem Irrtum. Kommen Sie, Borchert, das ist doch faszinierend!«
Er lud sich eine weitere Portion von dem Fleisch auf den Teller und schob die Platte zurück, mit der Hand eine einladende Geste machend, ob nicht auch Karl sich noch einmal bedienen wollte.
Aber der war mit seinen Gedanken ganz woanders. So einfach wollte er sich nicht geschlagen geben. »Nehmen wir ein anderes Gedankenexperiment«, konterte er. »Die Zwillingserde. Sie kennen es?«
»Welche Fassung genau meinen Sie?« Habich wischte sich den Mund an seiner Serviette ab.
»Die erste. Von Putnam. Wann hat er die vorgestellt? ’75? ’73?«
»Okay.« Habich nickte, legte die Serviette zurück auf seinen Schoß und griff erneut nach seiner Gabel.
Karl konzentrierte sich. »Also, wie war das genau? Die Idee war, sich eine Zwillingserde vorzustellen, die sich weit weg von unserer Erde am anderen Ende des Universums befinden würde. Diese Zwillingserde ist bis in die Atome und subatomaren Strukturen hinein genau so aufgebaut wie unsere Erde. Jedes Atom dort hat seine Entsprechung hier. Es gibt nur einen Unterschied. Richtig?«
»Während Wasser hier die Molekularstruktur H2O hat, hat es dort die Molekularstruktur XYZ.«
»XYZ. Genau. Jetzt der springende Punkt: Niemand auf unserer Erde weiß von der Zwillingserde. Es ist alles so, wie wir es kennen. Wenn sich nun jemand hier auf unserer Erde in einem Satz auf Wasser bezieht, wenn er zum Beispiel sagt ›Wasser ist nass‹, dann meint er mit dem Wort ›Wasser‹ die Struktur H2O. Ganz klar. Wenn sein Zwilling auf der Zwillingserde ›Wasser‹ sagt, meint er aber die Struktur XYZ. Ebenfalls klar. Obwohl der Mensch auf der Erde und sein Zwilling auf der Zwillingserde also haargenau dieselben mentalen Zustände haben, meinen sie bei der Äußerung ›Wasser ist nass‹ doch jeweils unterschiedliche Dinge. Der eine H2O – der andere XYZ. Das aber liegt an der unterschiedlichen Molekularstruktur und nicht an den mentalen Zuständen der beiden Sprecher, da diese ja, wie eingangs festgelegt, genau gleich sind. Damit aber beweise das Gedankenexperiment, so Putnam, dass die mentalen Zustände allein nicht festlegen können, was wir meinen.«
Habich grinste. »Ja. Finde ich prima. Das Argument ist vielleicht nicht das allerbeste, aber mir hat es immer Spaß gemacht. Sie müssen bedenken, es stammt aus den siebziger Jahren. Putnam war schon immer für einen Einfall gut.«
»Worum es mir geht, ist nicht die Frage, ob das Argument überzeugt oder nicht«, unterbrach Karl ihn. »Sondern dass Putnam selbst seine Position, die er mit diesem Gedankenexperiment untermauern wollte, zehn Jahre später wieder aufgegeben hat!«
Habich sah Karl abwartend an.
»Er glaubte später selbst nicht mehr, dass etwas anderes als unsere mentalen Zustände festlegen, was wir meinen«, argumentierte Karl. »Das aber zeigt, wie ich finde, etwas ganz Entscheidendes über Gedankenexperimente.«
»Und was?«
»Dass sie zu nichts zu gebrauchen sind.« Karl lachte. »Was soll das denn schon bedeuten?«, fuhr er fort, bevor Habich antworten konnte. »Eine Zwillingserde, haargenau wie unsere Erde, aber mit XYZ statt H2O? Es scheint uns, als verstünden wir, was damit gemeint ist, in Wahrheit aber vernebelt so eine Vorstellung doch nur unseren Geist. Es scheint simpel, plastisch, vorstellbar – in Wahrheit aber ist die ganze Argumentation nichts als eine Falle für unsere Gedanken. Ist es überhaupt physikalisch möglich? Eine Welt haargenau wie unsere nur mit XYZ statt H2O? Ist es nicht vielmehr Unsinn, sich so eine Zwillingserde, wie Putnam sie für sein Argument braucht, vorzustellen? Und vor allem: Zeigt sich nicht daran, dass Putnam selbst die Überzeugung, zu der er mit dem Argument gelangt war, später wieder verworfen hat, am allerbesten, dass das Experiment einen regelrecht in die Irre führt?«
Er holte Luft. Habich hatte sich wieder über seinen Teller hergemacht und aß eine Weile schweigend seinen Tafelspitz.
»Wie denken Sie sich das denn, dass ein Gedankenexperiment funktioniert?«, hob Karl noch einmal an. »Wenn jemand sagt: Nein, nein! Der Mensch auf der Erde und sein Zwilling auf der Zwillingserde, die meinen das Gleiche – egal ob’s nun H2O ist oder XYZ! Was dann? Er teilt unsere Intuition, auf der Putnam auch sein Argument aufbaut, die Intuition, dass der Mensch auf der Erde und sein Zwilling auf der Zwillingserde unterschiedliche Dinge meinen, einfach nicht. Und jetzt? Hat derjenige, der das sagt, eine falsche Intuition? Kann es so etwas wie falsche Intuitionen überhaupt geben?«
Habich aß einfach weiter.
»Wie wollen Sie so etwas Flüchtiges wie Intuitionen zur Grundlage von dem machen, was doch das Grundlegendste von allem sein soll – von unserer Philosophie«, polterte Karl weiter, jetzt richtig in Fahrt. »Und auch wenn ich keine anderen Intuitionen als Sie haben sollte – wogegen allerdings allein schon die Auseinandersetzung spricht, die wir gerade führen –, woran sollten wir denn ablesen können, dass wir uns nicht beide irren? Sollten wir in uns hineinhorchen und hoffen, dass intern eine rote Lampe angeht, die uns das signalisiert, wenn es der Fall ist? Wachen Sie auf, Habich«, schloss Karl, seinen Triumph kaum noch zurückhaltend, »das Philosophieren mit Intuitionen ist schon lange erledigt. Es war noch nie gut – aber der Versuch, es mit Gedankenexperimenten wiederzubeleben, verabsolutiert nur all das Schlechte, das darin schon immer gesteckt hat.«
Habich wischte sich erneut den Mund ab, legte die Serviette neben seinen Teller und schob ihn zurück. »Meinen Sie das wirklich ernst?«, fragte er und sah Karl unverwandt an.
Karl starrte zurück.
»Sie tun mir fast leid, Junge«, kam es von Habich. »Sie trauen Ihren eigenen Intuitionen nicht?«
Karl lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.
»Tag für Tag durchleben Sie unzählige Situationen, in denen Sie noch nie waren – und doch gelingt es Ihnen, wohlbehalten durchzukommen.« Habich griff nach seinem Weinglas. »Ich will das nicht endlos ausführen, die Argumente müssten Ihnen geläufig sein. Unsere Intuitionen sind es doch, die uns jeden Tag an endlosen Gefahren vorbeilotsen. Sie geben uns die Fähigkeit, mehr zu tun, als nur Regeln auf bekannte Situationen anzuwenden. Natürlich ist Ihr Wettern gegen die Intuitionen in gewisser Weise berechtigt. Aber Sie dürfen es nicht übertreiben. Sonst werfen Sie am Ende noch das Wertvollste weg, das Sie haben. Und das ist gefährlich, glauben Sie mir! Wenn Sie nicht aufpassen, wachen Sie eines Nachts auf und haben sich in Ihrem eigenen Denken verirrt!« Er beugte sich vor und starrte Karl an. »Was ist es denn, was Sie vertreten? Die Philosophie vom Tod der Philosophie? Sind Sie wirklich stark genug, um diese Position einzunehmen? Es ist eine Philosophie, Borchert, was Sie da vertreten. So werden Sie das, was Sie vertreiben wollen, aber nicht los! Vielleicht scheint es Ihnen so, als ob Sie sich davon befreit hätten. Aber das ist ein doppelter Fehler. Einmal, weil Sie sich täuschen – und zum anderen, weil Sie sozusagen die Planken, die Ihnen im Ozean noch hätten Halt bieten können, damit von sich stoßen und es noch nicht einmal merken.«
Karl ließ ihn nicht aus den Augen. Und irgendetwas in seinem Inneren sagte ihm, dass Habich mit seiner Position tiefer geschürft hatte als er selbst.
Habich aber setzte sein Glas an und schüttete den Weißwein hinunter – um sogleich nach der Flasche zu greifen und sich nachzuschenken. »Soll ich Frau Janker klingeln, dass sie den Hauptgang bringt?« Lächelnd sah er Karl an.