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Aus: »Als der Dämon sich entbarg. Unautorisierte Biographie Karl Borcherts. Kapitel 4: Der Bruder«, von Adrienne Hruby, München ohne Jahr, Seite 153 f.
»Schneematsch liegt auf den Straßen, ein kalter Wind fegt durch die Gassen. Der Mann sitzt vor einer Tasse Kaffee in der Ecke des Cafés. Sein Körper lastet schwer auf dem Stuhl, er wirkt ein wenig schlaff, zusammengesunken, das Haar lichtet sich. Als ich an ihn herantrete, steht er auf. Er habe nicht viel Zeit, meint er. Gerade heute sei viel zu tun, die Quartalszahlen sähen schlecht aus, er müsse gleich noch mit seinem Chef reden.
Wir wechseln ein paar belanglose Worte, dann komme ich auf den Grund unseres Treffens zu sprechen. Karl Borchert, sein jüngerer Bruder. Ich würde an einem Buch über ihn schreiben und hoffen, dass er mir ein bisschen von Karl erzählen kann. Aus der Kindheit vielleicht, die hätten sie doch gemeinsam verbracht.
Der Gesichtsausdruck Roland Borcherts entspannt sich. ›Karl war okay‹, sagt er und setzt sich wieder, ›auch wenn er ziemlich verrückt war.‹
Ich setze mich ihm gegenüber und hake nach. Verrückt? Wieso das denn? Kann er vielleicht ein Beispiel geben, ein konkretes Erlebnis, bei dem ihm das aufgefallen ist?
Roland Borchert versinkt über seiner Tasse, ich kann förmlich hören, wie es in ihm arbeitet.
›Als Karl noch zur Schule ging und ich schon aus dem Haus war‹, sagt er schließlich, ›hab ich mich immer gefragt: Was soll bloß aus dem werden, wenn er mal erwachsen ist?‹ Roland sieht auf und schaut mir direkt in die Augen, als wolle er überprüfen, wie ich das aufnehme. ›Karl selbst schien immer ganz beseelt davon zu sein, dass er in seinem Leben etwas Wichtiges, Bedeutendes erreichen müsste. Stundenlang konnte er darüber reden. Es müsste ihm gelingen, die Welt zu verändern, meinte er, es ginge darum, einen entscheidenden Beitrag zu leisten.‹ Borchert hat den Blick noch immer auf mein Gesicht geheftet, es ist ihm deutlich anzusehen: Er will, dass ich ihn verstehe. ›Formal war er sich darüber vollkommen im Klaren, wissen Sie?‹, fährt er fort. ›Formal ging es ihm sozusagen darum, den Weg in die Geschichtsbücher zu finden. Aber konkret? Wie genau stellte er sich das vor? Auf welchem Weg – durch welche Errungenschaft? Wollte er eine Erfindung machen – eine Entdeckung? Wollte er in die Politik gehen, einen Krieg führen, einen Großkonzern aufbauen? Das wusste Karl nicht. Sein Ziel, die Welt zu verändern, war vollkommen abstrakt – leer, wenn man es genau nimmt. Wie die Riesen-Veränderung, von der er träumte, tatsächlich aussehen sollte, davon hatte er keine Ahnung. Das werde sich später schon noch herausstellen, meinte er, wenn ich ihn danach fragte. Als Karl kleiner war, grinste er dann und sprach darüber, wie sich die Welt in der Vergangenheit immer mal wieder durch die außerordentliche Leistung eines Einzelnen verändert habe. Als er jedoch größer wurde und bereits begonnen hatte, sich mit Philosophie zu beschäftigen, und ich ihn wieder danach fragte, ob er inzwischen denn wüsste, wie er es konkret anfangen wollte, eine solche historische Veränderung herbeizuführen, bemerkte ich, dass das, was sich auf meine Frage hin in sein Gesicht stahl, nicht länger ein schelmisches Lächeln war – sondern der nur mühsam verborgene Ausdruck von Angst. Angst, dass aus all den Träumen, die ihm scheinbar immer so plastisch vor Augen gestanden hatten, die scheinbar nur noch darauf gewartet hatten, endlich Wirklichkeit zu werden, gar nichts werden könnte. Leere Hoffnungen, in gewisser Weise ein vollkommen entleerter Größenwahn. Dass sie zerplatzen könnten wie Luftblasen.‹
Borchert senkt den Blick wieder und rührt in seiner Tasse. ›Und diese Angst war so stark, so lebendig, dass sie regelrecht auf einen übersprang.‹«
Karl stand vor der »Melancholie« im Archiv und blickte durch eins der unverstellten Fenster nach draußen. Unter ihm lag der kleine Parkplatz, der hinter dem Schloss angelegt war und auf dem er bei seiner Ankunft sein Cabrio abgestellt hatte. Zwei in warme Wintermäntel gehüllte Gestalten gingen dort unten über den Kies. Auch wenn Karl sie nur von hinten sah, konnte er sie deutlich erkennen. Es waren Leonard Habich und seine Haushälterin, Frau Janker. Habich holte ein Schlüsselbund aus der Tasche seines Mantels und schritt auf seinen Geländewagen zu, der neben Karls Cabrio geparkt war. Gedämpft hörte Karl, wie die Zentralverriegelung des schweren Fahrzeugs aufsprang. Habich nickte Frau Janker zu, die entschlossen weiterging, zog die Fahrertür seines Wagens auf und schwang sich hinters Steuer. Der Motor sprang an, dann rollte das Auto aus der Parklücke und fuhr über den Kiesweg Richtung Ausfahrt. Als es an Frau Janker vorbeifuhr, warf sie einen flüchtigen Blick zur Seite und hob kurz grüßend die Hand. Kurz darauf war der Geländewagen aus Karls Blickfeld entschwunden.
Frau Janker marschierte unterdessen den Kiesweg entlang. Als Karl den Blick hob, um zu sehen, wo sie hinging, sah er, dass hinter den Bäumen, die an der Zufahrt standen, ein Gebäude durch die Zweige schimmerte, das ihm bisher noch nicht aufgefallen war. Ein kleines, mit Rauhputz verkleidetes Haus, dessen geschwungene Fenster darauf hindeuteten, dass es schon seit längerem zu Urquardt gehörte. Eine Art Verwalter- oder Pförtnerhaus, dachte Karl und merkte gleichzeitig, wie ihn eine Ahnung beschlich. Habich und Frau Janker hatten das Schloss verlassen. War er mit Lara allein? Sollte er sie nicht nach Janker fragen? Habichs Antwort auf Karls Fragen nach der seltsamen Gestalt, die ihm im Archiv begegnet war, hatte Karl nicht wirklich zufriedengestellt. Die Aussicht, von Lara mehr über Janker zu erfahren, war jedoch nicht der einzige Grund dafür, dass er plötzlich ein wenig aufgeregt war. Allein der Gedanke an Lara verursachte ein seltsam hohles Gefühl in seinem Bauch. Er wollte sie sehen. Und zwar am besten, wenn Habich nicht da war – auch wenn Karl sich das kaum eingestehen mochte.
Im nächsten Moment stieg er über die Wendeltreppe hinunter ins Frühstückszimmer. Von dort aus gelangte er in die Bibliothek, die sich im Hauptflügel befand, aber der Saal lag verlassen da. Auch in der Eingangshalle war niemand, ebenso wenig im Speisesaal. Karl durchquerte ihn und betrat auf der anderen Seite einen kleineren Korridor, der ihn zu der geräumigen Küche des Schlosses führte. Auch dort hielt sich niemand auf.
Karl blieb am Küchentisch stehen und überlegte. Im zweiten Stock befand sich sein Gästezimmer, dort oben hatte er sich in den vergangenen Tagen ein wenig umgesehen. Außer auf ein modernes Badezimmer war er aber nur auf eine Flucht unbenutzter, leerstehender Räume gestoßen. Dort konnte sich Lara kaum aufhalten. Blieb der erste Stock. Höchstwahrscheinlich war das Schlafzimmer der Eheleute dort untergebracht, aber das füllte ja bestimmt nicht das ganze Stockwerk aus. Möglicherweise befand sich im ersten Stock neben dem Schlafzimmer auch ein Zimmer, das Lara benutzte.
Karl trat aus der Küche zurück in den Korridor und lief ihn Richtung Seitenflügel hinunter, bis er auf die hintere, kleinere Treppe stieß, die hoch bis in den zweiten Stock führte. Er begann, sie emporzusteigen. Was würde er sagen, wenn er Lara fand? Kurzerhand wischte er den Gedanken beiseite. Wenn sie keine Lust hatte, ihn zu sehen, würde er eben ins Archiv zurückkehren.
Als Karl den ersten Stock erreicht hatte, wandte er sich zu dem Flur, der von dem Treppenhaus abging und der über demjenigen Flur liegen musste, durch den er gerade von der Küche zur hinteren Treppe gelangt war. Eine ganze Reihe von Türen zweigte von dem Gang ab. Das Haus war das reinste Labyrinth.
Karl schritt den Flur herunter und warf einen Blick in das erste Zimmer, an dem er vorbeikam und dessen Tür offen stand. Ein kleiner Salon, dessen Möbel mit weißen Laken zugedeckt waren. Es folgten zwei unschön proportionierte Kammern, die aussahen, als ob sie zu früheren Zeiten für die Unterbringung der Dienstboten genutzt worden waren. Jetzt wurden hier Sessel mit aufgerissenem Polster gelagert, hochgestellte Matratzen, ausrangierte Lampen, zerknickte Kartons. Über allem lag ein Geruch von Staub und Alter, den Karl sonst nur aus Kellern oder Dachkammern kannte.
Er wollte seine Suche auf diesem Flur schon ergebnislos abbrechen, als seine Aufmerksamkeit noch einmal gefesselt wurde. Am Ende des Korridors führte eine Tür in ein unbenutztes Badezimmer mit uralten sanitären Anlagen. Karl hatte vermutet, dass das Bad bereits am äußersten Ende des Haupthauses liegen würde. Als er sich jedoch darin umsah, bemerkte er, dass eine nur halb zugezogene Schiebetür auf der anderen Seite des Badezimmers in einen gedrungenen Anbau führte.
Er schob die Schiebetür ganz auf und gelangte durch sie hindurch in eine kleine Diele, in deren verschlissener Seidentapete zwei weitere Zugänge eingelassen waren. Neugierig betätigte Karl die Klinke der ersten Tür. Sie ließ sich herunterdrücken, aber die Tür war verschlossen.
Karl blickte zur zweiten Tür. Sie war nur angelehnt. Er stieß vorsichtig dagegen. Die Tür schwenkte auf und gab den Blick in einen im Dunkeln liegenden Raum frei. Waren die Fenster verhängt?
Karl machte einen Schritt in das Zimmer hinein – und spürte im selben Moment, wie der Boden seltsam weich unter seinen Füßen nachgab. Ein unangenehmes Gefühl. Er blieb stehen, drehte sich zu der Wand und tastete nach einem Lichtschalter. Als er einen altertümlichen Drehschalter fand, betätigte er ihn. Mehrere Halogenscheinwerfer, die in den Ecken des Zimmers unter der Decke angebracht waren, flammten auf.
Der Raum war vollkommen kahl. Nur in der Mitte stand ein eisernes Feldbett. Boden, alle vier Wände und Decke waren mit einem weißen, plastikbezogenen Polster ausgekleidet, das unter Karls Schritten weich nachgab. Auch die Fenster mussten mit dem Polster verschlossen sein. Unwillkürlich hatte Karl das Gefühl, eine Art Gummizelle betreten zu haben.
Wie auf Eiern lief er über das glatte und weiche Plastik zu dem Feldbett, das in der Mitte des Zimmers stand. Die Beine des Betts mussten durch die Polsterung hindurch im Boden festgeschraubt sein, denn als Karl an dem Eisengestell rüttelte, bewegte es sich keinen Millimeter. Ein Paar schwere, schwarze Gummihandschuhe lagen auf der nackten Matratze, daneben eine Art Schlafbrille, wie Karl sie nur von Langstreckenflügen kannte. Vor allem aber fielen ihm zwei breite Metallbügel auf, die an der Längsseite des Betts in die Luft ragten. Als er sie näher untersuchte, stellte sich heraus, dass sie heruntergelegt und mit zwei Zapfen am Bettrahmen arretiert werden konnten.
Neugierig setzte er sich auf die Matratze und nahm die Schlafbrille in die Hand. Sie war viel robuster als die Wegwerf-Exemplare, die er kannte. Statt mit einem einfachen Gummiband konnte man sie mit einem daumendicken Lederriemen am Kopf festschnallen. Die Maske selbst war aus elastischem Gummi gefertigt, und Karl zweifelte nicht daran, dass sie sich fest an das Gesicht anschmiegen würde. Kurzerhand befestigte er sie an seinem Kopf, schob sie jedoch in die Stirn, damit die Augen frei blieben. Dann besah er sich einen der Handschuhe näher. Das Stück bestand aus demselben Kunststoff wie die Schlafmaske, nicht aus dem weißen, glänzenden Plastik, das die Polsterung überzog, sondern aus einer schwarzen Gummimasse, die sich ausdehnen ließ, wenn man daran zog – aber auch wieder fest zusammenschnappte, wenn man losließ.
Vorsichtig streifte Karl den Handschuh über. Kaum waren seine Finger in die Öffnung gerutscht, spürte er, wie seine Hand – von dem dicken Gummibezug wie zugeschweißt und luftdicht verschlossen – für jede Berührung von außen taub geworden war. Rasch schob er mit der noch freien Hand die Maske von der Stirn über die Augen. Wie erwartet, presste sie sich fest auf sein Gesicht. Der Geruch des Gummis stieg ihm in die Nase.
Die Polsterung, die Handschuhe, die Brille – der ganze Raum war darauf ausgelegt, die sinnlichen Wahrnehmungen einzudämmen, ja auszuschalten. Das ganze Zimmer war nichts anderes als ein großer Isolationstank!
Karl legte die Beine auf die Matratze und wandte sich ein wenig zur Seite, um mit der noch unbehandschuhten Hand die beiden Metallbügel herunterzuklappen. Schwer fielen sie gegen seinen noch halb aufgerichteten Körper. Er zwängte die andere Hand in den zweiten Handschuh und ließ sich vorsichtig zurück auf das Bett sinken. Ein leises Klacken ließ darauf schließen, dass die Bügel in die Ösen am Rand des Bettgestells geglitten waren.
Karl atmete durch und begann, sich zu entspannen.
Gedankenexperimente. Hatte Habich das Zimmer so eingerichtet, weil er hoffte, aufgrund der mangelnden sinnlichen Stimulation auf Gedanken zu kommen, die ihm in normaler Umgebung unerreichbar waren?
Langsam ruhiger werdend, überließ sich Karl der Schwärze vor seinen Augen – der Unbeweglichkeit und dem dumpfen Sausen, das aufgrund der Polsterung in dem Raum zu herrschen schien. Ihm fiel auf, dass das, was vor seinen Augen schwamm, genau genommen gar kein Schwarz war, sondern eher Tiefblau mit rot-schwarzem Rauschen, mit gelben Adern, ja, selbst ein hellgrünes Flackern war darin zu sehen.
Im selben Augenblick zuckte er zusammen. Durch Maske, Handschuhe und Bügel hilflos geworden, waren seine Sinne sofort aufs äußerste geschärft.
Da war es wieder.
Schritte.
Hastig versuchte Karl, sich aufzurichten, aber die beiden Metallbügel ließen sich nicht hochdrücken. Er versuchte, mit einer Hand den unteren Zapfen zu erreichen, der den Bügel über seiner Hüfte arretierte. Der Bügel zwängte seinen Arm jedoch so ein, dass er kaum an den Zapfen herankam. Unbeholfen klatschte seine Hand gegen das Metallgestänge. Außerdem machten die Handschuhe jedes Gefühl für den einfachen Mechanismus zunichte. Statt den Zapfen aus der Öse zu lösen, brachte Karl nur das Eisengestell des Bettes zum Scheppern.
Eine Welle von Panik durchpulste seinen Körper. Er musste raus hier! Er riss den Kopf hoch, die Maske klebte an seinem Gesicht, sie schien sich geradezu an seinen Augen festgesaugt zu haben. Karl bäumte sich auf, presste seinen Körper mit aller Kraft gegen die beiden Metallbügel. Aber sie rührten sich nicht. Die beiden Zapfen mussten sich irgendwie verhakt haben! Zusammengekrümmt lauschte er, ob sich die Schritte näherten.
Es war nichts zu hören.
Hatte sich der andere die Schuhe ausgezogen?
Fieberhaft schob Karl die Hände zusammen und versuchte, mit der einen Hand den Handschuh von der anderen zu zerren. Es kam ihm so vor, als sei die Haut seiner Hand an dem Gummi regelrecht festgewachsen. Ihm brach Schweiß aus. Mit einem quietschenden Geräusch rutschte das Gummi endlich über die Hand. Hastig riss Karl mit der frei gewordenen Hand an dem anderen Handschuh, zog das fette Gummi von seinem Körper, tastete mit den noch tauben Fingern nach dem Zapfen, der den Metallbügel über seiner Hüfte festhielt.
Aber der Stift war nicht einfach nur durch die Öse am Gestell hindurchgesteckt, wie er es vermutet hatte. Er war auch umgeklappt, ließ sich jedoch nicht einfach zurückklappen, sondern musste irgendwie festgeschraubt sein. Ungeduldig versuchte Karl, den Zapfen loszuschrauben – doch es gab kein Gewinde.
Karl fühlte, dass er nass von Schweiß war. Die Flüssigkeit rann ihm an der fest in seine Augenhöhlen gepressten Gummimaske übers Gesicht. Er musste die Schlafbrille, oder was auch immer das war, herunterbekommen, musste sehen, wie er sich in dieses Gestell eingespannt hatte, wenn er sich jemals daraus befreien wollte – aber wegen der Bügel kam er an die Maske nicht ran.
Er warf sich zurück. Ruhe bewahren! Was war schon passiert? Er hatte sich ein wenig im Haus umgesehen und dabei diesen merkwürdigen Raum hier entdeckt. Habich würde dafür doch Verständnis haben. Es war lächerlich, wie sehr er sich aufregte. Im Gegenteil, er sollte um Hilfe rufen!
»Lara? Frau Kronstedt?«
Es kam heraus wie ein Flehen. Er riss sich zusammen.
»Lara Kronstedt!«
Es ist, als hättest du den Bademantel ihres Mannes angezogen – jagte es durch seinen Kopf. Wer weiß, was sie noch alles auf diesem Bett machen? Wie kannst du ihnen nur so auf die Pelle rücken!
Und plötzlich wusste er es: Das waren nicht Laras Schritte, die er gehört hatte. Das waren Jankers.
Erst jetzt bemerkte Karl, wie schwer er atmete. Der Schweiß sammelte sich unter der luftdichten Gummimaske in seinen Augen. Er hielt den Atem an.
Was war das?
Ein Luftzug? Ein Rascheln? Ein Geruch?
Das Gefühl war überwältigend. Jemand befand sich in dem Raum. Stand neben ihm, neben dem Bett. Sah auf ihn herunter!
»Hallo?«
Es war nur ein Flüstern, das Karl hervorbrachte – aber es dröhnte in seinen Ohren, übersensibilisiert, wie sie waren.
Täuschte er sich? Bildete er sich nur ein, dass jemand im Zimmer war? Wie kam er darauf, dass der Haushälter bei ihm war? Dass er sich die Schuhe ausgezogen hatte? Ja, dass er direkt neben ihm stand?
Blinder, dumpfer Widerwillen brauste in Karl auf. Was wollte der Mann von ihm? Der Ärger über sich selbst, wie er sich nur so leichtfertig in das Gestell hatte zwängen können, in ein Geschirr, gegen das er nicht ankam, stieg ihm zu Kopf. Er warf sich herum, versuchte, das ganze Bett umzustoßen, aber es half nichts. Es klapperte und schepperte, doch die Bügel saßen fest, fast schien es, als schraubten sie sich immer enger an seinen Körper, je wütender er sich dagegenstemmte.
Erschöpft ließ sich Karl auf die Matratze zurückfallen. Da war es wieder. Die Gewissheit, dass jemand ihm zusah, hier neben ihm stand und beobachtete, wie er hilflos strampelte. Mühsam versuchte er, seine Atmung zu kontrollieren.
»Herr Janker, sind Sie es?«
Er lauschte.
»Antworten Sie!«
Nichts.
Und plötzlich glaubte Karl zu wissen, woher die Ahnung kam, dass jemand dicht bei ihm war. Es war die Wärme, die von dem anderen ausging. Es war nur ein schwacher Hauch – aber war es nicht eindeutig zu spüren? An seiner Wange? Er warf den Kopf herum, versuchte, Witterung aufzunehmen, aber ein Geruch war es nicht, was er wahrgenommen hatte – zu riechen gab es nichts. Das konnte nicht Lara sein, sie konnte nicht so geruchlos sein, auch wenn sie heute vielleicht kein Parfüm benutzt hatte.
Die Wärmeempfindung verlagerte sich auf seine Nasenspitze, schien seine Lippen zu überziehen.
Angeekelt riss Karl den Kopf zurück. Mein Gott, was war das?
»Wer bist du?«, brach es aus ihm hervor. »Was willst du?«
Da spürte er, wie die Wärme über seine Wange zu seinem Ohr kroch. Verkrampft kauerte Karl auf seinem Bettgestell, zutiefst verängstigt und von dem Gefühl gequält, dem anderen ausgeliefert zu sein. Mit aufgepeitschten Sinnen versuchte er herauszufinden, was auf ihn lauerte – und konnte doch nur denken, dass der andere sich jetzt neben ihn gehockt und begonnen hatte, etwas in sein Ohr zu flüstern.
Spürte er nicht, wie die Schallwellen in ihn eindrangen? Aber er hörte ja nichts! Was er vernahm, war kein Zischeln oder Flüstern, es war nur die Gewissheit, Lauten ausgesetzt zu sein, die von jedem einfachen Instrument nachgewiesen werden konnten, die seiner bewussten Wahrnehmung aber entzogen waren. Weil sie jenseits seiner Wahrnehmungsschwelle lagen.
Jede Nervenspitze in seinem Körper war wie elektrisiert. Das musste es sein! Aber was war es, das ihm da eingeflüstert wurde? Was war es, das in ihn drang? Was war das für ein Wesen, das in der Lage war, solche Töne zu produzieren? War es nur ein – wenn auch für ihn unhörbares – Geräusch, das da in sein Ohr träufelte, oder waren es Zeichen, Worte, Sätze – ja, mussten es dann nicht auch Gedanken sein?
Für einen Augenblick glaubte Karl regelrecht zu fühlen, wie sich die unhörbaren Laute wie Würmer durch sein Gehirn fraßen. Wie sie sich einen Weg durch Gegenden bahnten, die nicht für sie gemacht waren, wie sich sein Verstand durch ihr Schleichen verformte, wie sie Spuren hinterließen, die seinem Willen, seiner Kontrolle und seinem Einspruch entzogen waren. Wie sich das Wesen, das da neben ihm hockte, in ihn hineinbohrte – nicht in seinen Körper, aber in seine Seele, auch wenn er davon nicht mehr mitbekam als ein dumpfes Gefühl. Das Gefühl des Grauens, gegen seinen Willen verändert zu werden. Nicht mehr derjenige zu sein, der bestimmte, was mit ihm vorging. In ihm vorging.
Er rang nach Luft. Er hatte nicht mehr die Kraft, an den Bügeln zu rütteln, zu rufen, sich zur Wehr zu setzen. Mit schweißverklebten Augen starrte er die Innenseite seiner Lider an – an der jetzt rote Blasen aufgingen, die sich ineinander drehten und lila anliefen, bis gelbe Tupfer darin schwammen, die ausfransten, wuchsen und platzten. Farbverläufe, die Karl in dieser Form noch nie gesehen hatte. Ein Taumel, den er verzweifelt versuchte zu stoppen. Aber er konnte die Augen unter der Maske nicht öffnen, sich nur immer mehr noch hineinsteigern in das bodenlose Gefühl des Ausgeliefertseins.