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Karl lag auf dem Sofa in der Bibliothek. Lara hatte eine Decke aus dem Schlafzimmer geholt und über ihn ausgebreitet. Sein Kopf war vom Kissen heruntergerutscht und tief in den Nacken gekippt. Sein Mund stand ein wenig offen, schwer strömte der Atem zwischen den Lippen hervor. Kurz nachdem er sich auf das Sofa gelegt hatte, war er eingeschlafen. Seinem Gesicht war anzusehen, wie sehr ihn die Ereignisse der vergangenen Stunden mitgenommen hatten. Die Haut hatte sich straff über die Schädelknochen gespannt, Wangenknochen, Augenhöhlen, auch die Stirn traten deutlich hervor.

Lara hatte sich auf dem Sessel, der neben dem Sofa stand, eingerollt. Auf den Boden vor ihr waren mehrere Kartons gestapelt, die zum Teil offen standen. In ihnen befanden sich Bündel von Briefen, die sie auch auf dem Tisch und den Armlehnen des Sessels ausgebreitet hatte. Beinahe zwei Stunden lang hatte Lara gebraucht, bis sie unter den teils handschriftlichen, teils maschinengeschriebenen Seiten auf das gestoßen war, was sie gesucht hatte, nachdem Karl aufgewühlt und in unzusammenhängenden Sätzen auf der Rückfahrt vom Krankenhaus nach Urquardt auf sie eingeredet hatte: die Korrespondenz zwischen Habich und Borchert – Christian Borchert, Karls Vater.

 

»Es ist der pure Wahnsinn. Wir können das nicht machen, Leo«, las sie. Es war ein Schreiben von Karls Vater Christian an Habich aus dem Jahr 1989. »Du weißt, ich schrecke nicht gern vor einer Idee zurück, wenn ich davon überzeugt bin, dass sie funktionieren kann.« Laras Blick flog über die Zeilen. »In diesem Fall bleibt uns jedoch nichts anderes übrig, als abzuwägen. Ist nicht die Aussicht, dass unser Projekt von Erfolg gekrönt sein könnte, extrem unwahrscheinlich? Müsste nicht längst jemand vor uns auf ein vergleichbares Vorhaben gekommen sein und es durchgeführt haben, wenn es wirklich erfolgversprechend sein würde? Oder ist es nur deshalb bisher nicht gemacht worden, weil jeder, der möglicherweise in dieser Richtung gedacht hat, vor den abstoßenden Entscheidungen zurückgeschreckt ist, die gefällt werden müssen, bevor sich ein Erfolg abzeichnen kann? Ist es dann aber nicht auch so, dass wir nur deshalb die Ersten wären, die in diese Bereiche vorstoßen, weil wir skrupelloser sind als alle anderen? Was für ein zweifelhafter Verdienst jedoch wäre das?

Nun, ich höre Dich förmlich sagen: ›Was schert mich, was die anderen machen? Wenn ich darauf Rücksicht genommen hätte, wäre ich nirgendwo hingekommen, geschweige denn an die Schwelle zu einer solchen Entscheidung!‹

Gut, meinethalben kann ich Dir darin recht geben. Lass uns davon absehen, was andere für Entscheidungen gefällt haben, lass uns behaupten, wir sind souverän genug, die Verantwortung selbst zu tragen. Will ich aber diese Verantwortung wirklich schultern?

Das ist eine Frage, über die ich in den vergangenen Nächten viel nachgedacht habe. Ich habe mir noch einmal durch den Kopf gehen lassen, was es bedeuten würde, wenn wir mit unserer Vermutung recht haben würden und es uns gelingen würde, in einer Entdeckung zu beweisen, dass unsere Hypothese wahr ist. Dann wäre in der Tat richtig, was Du sagst: Die Entdeckung käme einer Art kopernikanischer Revolution gleich. Das also ist der Gewinn, den wir erzielen könnten.

Was aber sind die Kosten? Haben wir eine Vorstellung von den Schmerzen, die wir zufügen müssen, um unsere Hypothese zu überprüfen? Haben wir eine Vorstellung davon, welche Auswirkungen ein solcher Eingriff auf die Person haben muss, die das Pech haben würde, uns sozusagen zum Opfer zu fallen? Wir haben nicht die geringste Vorstellung davon!

Wieder höre ich Dich: Das mag zwar bedauerlich sein, und Dir täte auch leid, wer nun einmal diese Dinge zu ertragen hätte. Aber auch in diesem Punkte dürften wir uns von unserem Weg nicht abschrecken lassen. An genau diesem Punkt aber trennen sich unsere Wege, Leo, fürchte ich. Denn auch wenn ich mich noch überwinden könnte, die Augen gleichsam vor der Untat zu verschließen und sie dennoch zu begehen – allein die Vorstellung, für den Rest meines Lebens mit dem Gefühl herumlaufen zu müssen, diese Schuld auf mich geladen zu haben, schreckt mich ab.

Wie Du siehst, wähle ich als Argument, das mein Handeln schließlich bestimmt, ein rein egoistisches: Ich will das Schuldgefühl vermeiden. Ich könnte auch anders argumentieren, aber ich wähle diesen Grund, um mir von Dir nicht anhören zu müssen, dass ich zu jenen beklagenswerten Versagern gehöre, die vor einer großen Tat nur deshalb zurückschrecken, weil sie nicht die Größe besitzen, von anderen Menschen dafür Opfer zu verlangen. Lass es dahingestellt sein, wie recht Du mit dieser Einschätzung haben magst, beziehungsweise mit der Einstellung, Größe daran messen zu wollen, wie viele Opfer man von anderen verlangt. Was mich dazu bringt, mich letztlich gegen unser Projekt zu entscheiden, ist nicht das Mitleid mit anderen: Es ist das Mitleid mit mir selbst – beziehungsweise mit meinem zukünftigen Selbst, zu dem ich mich unweigerlich entwickeln müsste, wenn wir auf dem Weg, den uns unser Projekt vorschreibt, weiter voranschreiten würden.«

 

Damit endete der Brief. Nachdenklich legte Lara das Blatt zurück auf einen Stapel älterer Schreiben und suchte Habichs Replik darauf heraus. Habich hatte nicht nur die Briefe, die er erhalten hatte, in den Kartons gesammelt, sondern auch seine eigenen Schreiben als Kopien jeweils dazugelegt. Es dauerte nicht lange, bis sie seine Antwort auf Borcherts Brief in den Händen hielt.

Lara überflog die Zeilen. Wider Erwarten quittierte Habich den Rückzieher des Freundes nicht mit einer Tirade voller Verachtung und Geringschätzung, sondern zeigte sich verständnisvoll und sprach Borchert gut zu. Offenbar war ihm daran gelegen, den anderen als Kompagnon in der gemeinsamen Sache nicht zu verlieren, auch wenn dem Arzt das Vorhaben deutlich zu weit zu gehen schien.

Lara sah die Schreiben der beiden Männer weiter durch. Es folgten mehrere Briefe aus den Wintermonaten ’89/’90, in denen sie sich über Nebensächlichkeiten ausgetauscht hatten. Dann aber stieß Lara auf ein Schreiben Borcherts, das das Datum vom 25. Juli 1990 trug und bereits in den ersten Worten die Aufregung des Arztes verriet.

 

»Gestern Nacht, kurz vor dem Eingriff, haben wir telefoniert«, las sie. »Leo, ich weiß nicht, ob ich das Richtige getan habe. Ich wage nicht, daran zu denken. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich nicht nur das Recht dazu gehabt, sondern die Pflicht! Als wäre es falsch gewesen, diese Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen, die so unverhofft und so plötzlich über mich hereingebrochen ist. Dann wieder peinigt mich die Vorstellung, dass die Nebenwirkungen schlimmere Ausmaße annehmen könnten, als ich es jemals für möglich gehalten habe. Wie soll ich ihm erklären, was ich getan habe? Wann? Und was soll ich sagen? Soll ich erst durch lange Erziehung in ihm ein Bewusstsein für die Schönheit der Forschung wecken? Jenen anscheinend unstillbaren Durst nach Fortschritt? Die Sucht nach dem Respekt und dem wohligen Schaudern, die sich einstellen können, wenn man Neuland betritt? Nach einem Gefühl, das die Seefahrer des achtzehnten Jahrhunderts bei der Entdeckung neuer Länder erlebt haben, das ihm aber bei der Entdeckung einer ganz neuen, sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellten Welt zuteilwerden müsste?

Natürlich werde ich versuchen, die Sehnsucht nach diesem berauschenden Gefühl in ihm zu wecken. Nicht zuletzt auch das Bedürfnis nach dem Ruhm, den man – wenn man Glück hat – mit einer solchen, einmaligen Entdeckung einstreichen kann. Aber wird das ausreichen? Wird es ausreichen, um ihm verständlich zu machen, was ich ihm angetan habe? Wenn alles gutgeht, wird es vielleicht keinen Widerstand, keinen Hass geben. Aber was, wenn nicht?

Keine Bange: Die Operation ist hervorragend geglückt. Nie in meinem Leben ist mir eine OP besser von der Hand gegangen. Aber wer weiß, wie lange der stabile Zustand anhält? Wird er sich auf unvorhersehbare Weise in den nächsten Tagen verschlechtern? In den nächsten Wochen? Oder bleibt das aus – alles verheilt –, in dem Moment aber, in dem ich das Implantat anschließen will, ergeben sich neue Komplikationen, die ich nicht zu steuern vermag? Dann wieder frage ich mich: Darf ich darauf verzichten, die Anlage jemals in Betrieb zu nehmen, nachdem ich sie jetzt doch implantiert habe?

Entschuldige, dass ich Dich mit diesen verwirrten, nutzlosen Fragen überschütte. In meinem Kopf dreht sich alles, wie Mühlsteine beinahe, im Kreis. Womöglich ist eine gewisse Übermüdung schuld daran, ich habe die halbe Nacht operiert, am Morgen jedoch, gequält von diesen Fragen, nicht einschlafen können.

Dass die Assistenzärzte etwas bemerkt haben können, glaube ich nicht. Es herrschte ein ziemliches Durcheinander im OP, keiner hatte damit gerechnet, dass ich mit ihm eintreffen würde. Sie ließen sich überreden, mich operieren zu lassen, und waren durch dieses Abweichen vom normalen Plan derartig verwirrt, dass es keine Schwierigkeiten bereitet hat, im entscheidenden Moment den Einzigen, der hätte überschauen können, was ich tat, mit einer vordergründigen Bitte abzulenken. Das Implantat selbst hatte ich gerade noch rechtzeitig aus meinem Arbeitszimmer holen können, während er für die OP vorbereitet wurde – ebenso wie den kleinen Fotoapparat für die Aufnahmen, die ich beilege.

Jetzt also ist es eingepflanzt. Gott möge meiner Seele gnädig sein, möchte ich fast sagen. Oder seiner Seele? Wird es ihn in schreckliche Qualen stürzen? Wann soll ich beginnen, das Implantat in Betrieb zu nehmen? Noch während des Wachstums? Erst wenn es abgeschlossen ist? Letzteres würde ich meinen – aber ich hoffe, dass Du mir in diesen Fragen jetzt beistehen wirst. Denn, mein lieber Leo, das kann ich Dir nicht ersparen, ohne Dich hätte ich diesen Schritt niemals vollzogen.«

 

Lara wollte das Schreiben schon zurück in das Kuvert schieben, als sie bemerkte, dass sich in dem Umschlag auch einige Fotos befanden. Sie zog die Aufnahmen heraus. Es waren Farbbilder aus den achtziger Jahren, ein wenig ausgeblichen schon und doch eindeutig Abbildungen eines Operationssaals. Türkise, sterile Abdeckplanen waren darauf zu erkennen, chirurgische Instrumente, im Hintergrund Überwachungsmonitore. Anstelle eines Operationstischs stand ein neurochirurgischer Operationsstuhl inmitten des Raumes, darauf saß ein Junge, der bereits für die OP vorbereitet worden war. Lara schätzte, dass er elf oder zwölf Jahre alt sein musste, auch wenn sein Gesicht nicht zu sehen war. Stattdessen war im Vordergrund sein Hinterkopf zu erkennen, in dem sich eine winzige Öffnung befand, die bis tief auf eine blutige Masse hinabreichte. An der Seite, von dem Weitwinkel verzerrt und angeschnitten, ragte das Gesicht eines Arztes in die Aufnahme hinein, der mit einer Hand vorsichtig eine kleine, in durchsichtiges Gummi gefasste Drahtspitze in die Schädelöffnung des Jungen einführte.

Lara blätterte weiter. Weitere Fotos des gleichen Vorgangs. Herangezoomt an den Schädel des Jungen. Das Drähtchen, das der Arzt in die Öffnung fädelte. Und schließlich, auf einer Aufnahme, auf der zu erkennen war, dass die Operation unmittelbar vorher abgeschlossen worden sein musste, das Gesicht des Jungen – eingefallen, müde, erschöpft und betäubt.

Das Gesicht eines Elfjährigen – aber unverkennbar: Karl.