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Die Sonne stand fast im Zenit, als Karl die Anhöhe vor dem Schloss über die Wiese hinabschritt – nicht auf den See zu, sondern weiter nach links, unter den entlaubten Bäumen hindurch zum Haushälterhaus. Es war kalt geworden, und er fror. Er hatte sich nicht damit aufgehalten, einen Mantel überzuziehen, sondern nur hastig und leise – um Lara nicht zu wecken – Jeans, Hemd und Pullover übergestreift, bevor er losmarschiert war.

Die Fenster auf der Rückseite des Hauses, an die er zuerst gelangte, waren dunkel. Schemenhaft waren durchbrochene, weiße Gardinen zu erkennen, die vorgezogen waren und den Blick ins Innere des Hauses auch dann abgefangen hätten, wenn drinnen Licht gebrannt hätte. Ohne stehen zu bleiben, ging Karl um das Haus herum, über den Parkplatz, auf dem sich kein Fahrzeug befand, zur Eingangstür. War die Familie unterwegs? Alle drei? War Janker allein gefahren und seine Frau zu Hause? Mit Basti? Ohne Basti?

Karl trat vor die Haustür. Was machst du hier?, fragte er sich, berührte im selben Moment aber auch schon die Klingel. Das schnarrende Geräusch einer defekten Glocke drang zu ihm nach draußen. Der Klang war so verloren, echolos, müde, dass Karl instinktiv daran denken musste, wie verlassen, leer und ausgehöhlt das Haus schon gewirkt hatte, als er sich ihm genähert hatte.

Er wartete. Nichts. Niemand öffnete. Es waren auch keine Schritte zu hören. Keine Rufe. Totenstille.

Karl trat einen Schritt zurück und musterte die Fassade des Hauses. Für einen Augenblick glaubte er den Fenstern ansehen zu können, dass seit Jahrzehnten niemand mehr hindurchgeblickt hatte. Nicht, dass sie dreckig, verschmiert oder auch nur verstaubt gewesen wären. Aber es kam ihm so vor, als spiegele sich in ihnen die Traurigkeit der Menschen wider, die in dem Haus wohnten.

Wo ist Basti?, schoss es ihm durch den Kopf, und im nächsten Augenblick war er an der Tür und schlug so kräftig mit der Faust dagegen, wie er konnte.

Er hielt inne und fuhr sich durchs Haar. Die Stirn war heiß, es standen winzige Schweißperlen darauf. Er hatte sich noch längst nicht vollkommen erholt. Im Gegenteil, er war fast am Ende mit seinen Kräften. Wahrscheinlich war genau das auch der Grund dafür, dass er überhaupt erst auf die Idee gekommen war, hierher, zum Haus der Jankers zu kommen. Was für ein Wahnsinn! Nichts wie zurück ins Bett. Er würde sich unter die Decke zu Lara kuscheln und sich erst mal richtig auskurieren.

 

Hastig wandte sich Karl um und ging die drei Stufen, die zur Haustür hinaufführten, wieder hinunter. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass seine Beine zitterten. Eilig schritt er Richtung Haupthaus, um nicht noch auf der Wiese zusammenzuklappen. Noch immer hatte sich der Wind nicht ganz gelegt, und die frische Brise, die, vom See kommend, sein erhitztes Gesicht kühlte, stärkte ihn wieder ein wenig.

 

Da hörte er es. Entfernt. Gedämpft. Und leise. Aber doch unverkennbar. Das Geräusch, das Karl gleich bei seiner Ankunft in Urquardt aufgefallen war. Das Geräusch, von dem die Menschen im Dorf gesprochen hatten. Das Geräusch eines hilflosen Wesens, das sich bedroht fühlt. Das Angst hat. Das nicht weiß, ob jemand es hört, und in dessen Rufen so etwas wie Verzweiflung mitschwingt, mehr Todesergebenheit als Lebenswille.

Es war Karl, als fegte ein Eishauch die Anhöhe von dem Schloss hinab. Unwillkürlich schlang er die Arme um den Körper, zog den Kopf ein wenig zwischen die Schultern.

Er drehte sich um und schaute zurück zum Haus der Jankers. Neben der kleinen Treppe, die er gerade hinabgeschritten war, lag ein gusseiserner, altmodischer Fußabtreter. Eine einfache Konstruktion aus zwei Querstangen, die dank eines kräftigen Rahmens stabil genug war, um daran die lehmverschmierten Schuhsohlen abzustreifen. Karl ging die paar Schritte zurück, bückte sich nach dem Eisengerät und stand im nächsten Augenblick erneut vor der Haustür.

Er umklammerte den Schuhabputzer mit beiden Händen, holte aus und ließ ihn mit voller Wucht auf die Haustür krachen. Dumpf hallte der Schlag im Inneren des Hauses wider. Er holte erneut aus.

WAMM!

Der Schlag setzte sich schmerzhaft in Karls Händen fort, aber er achtete nicht darauf.

WAMM! WAMM! WAMM!

Beim fünften Hieb platzte das Holz der Länge nach auf. Karl ließ den Schuhabputzer zu Boden fallen und warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Es krachte. Aber sie hielt. Karl setzte zurück, hob das rechte Bein an und trat mit der Sohle seines Schuhs hart und flach neben das Türschloss. Das Holz zerbarst, die Tür flog auf, drehte sich um ihr Scharnier, krachte gegen die Wand und federte zurück. Karl setzte den Fuß hinter die Schwelle. Die Tür schlug gegen sein Bein. Aber er war drin.

 

Die kleine Eingangsdiele war ordentlich und aufgeräumt. Ein Schirm lehnte an der Wand, Schuhe von Janker, seiner Frau und Basti standen auf den grellweißen Fliesen.

Ich hab was gehört, sagte sich Karl, um nicht irre zu werden an dem, was er begonnen hatte. Ich kann es nicht länger ignorieren.

Sein Blick fiel durch die offene Tür direkt vor ihm. Dahinter war ein Wohnzimmer zu erkennen. Eine weiße Plastikcouch, eine Plastik-Schrankwand mit Gläsern und Nippes, auf dem Boden die gleichen grellweißen Fliesen wie in der Diele. Gepflegt, aber tot. Wie die Fenster, die Karl neben der Eingangstür aufgefallen waren: sauber und doch verkommen.

Vorsichtig betrat er das beinahe klinisch gereinigte Wohnzimmer, in dem noch der Geruch der Putzmittel zu hängen schien – und sah ihn.

Janker. Er stand in der Küche, die vom Wohnzimmer nur durch eine Theke getrennt war, und hatte Karl den Rücken zugewandt. Seine Augen aber blickten in einen Spiegel, der über der Spüle an der Wand angebracht war – und schauten Karl direkt ins Gesicht.

In Karls Kopf hämmerte es. Er hatte dem Mann die Haustür eingetreten. Und Janker hatte ihn nicht daran gehindert. Er hatte ihn hier erwartet. Wie eine Spinne, die darauf wartet, dass ihr die Beute ins Netz geht.

»Was war das? Das Rufen! Es klang … es klang wie ein Kind, Mann!«, rief Karl. »Haben Sie das nicht gehört?«

Janker antwortete nicht. Rührte sich nicht. Sein Gesicht, von dem nur die obere Hälfte in dem Spiegel zu sehen war, verriet keine Regung. Es war das weiche, konturlose, beinahe madenartige Antlitz, das Karl erst im Archiv und dann im Speisesaal gesehen hatte. Irgendetwas darin gab Karl das Gefühl, als würde Janker sich in eine Ausweglosigkeit schicken, die nicht bestehen würde, wenn er sich dagegen wehrte. Aber er wehrte sich nicht. Er unterwarf sich. Er schien sein Leben so zu handhaben wie sein Haus. Ein mit chemischen Putzmitteln gereinigter Raum. Kahl. Ausgeleuchtet. Und kalt. Ohne Ausweg, ohne Schutz, ohne Deckung. Ein Raum wie eine Wüste, in der das Gesetz der Unterwerfung, der Anpassung, des Gehorsams herrschte.

Es war das Grauen, was ihm dieser Mann einflößte. Wie im Rausch durchquerte Karl das Wohnzimmer, ging auf Janker zu, der ihn über den Spiegel im Auge behielt. Was macht er mit mir, raste es in Karls Kopf. Warum dreht er sich nicht um? Alles in ihm schrie danach, das Haus zu verlassen, aber im selben Moment hatte er Janker auch schon erreicht, an der Schulter gepackt, herumgerissen – und sah zum ersten Mal das ganze Gesicht und nicht nur die Augen.

 

Es traf ihn wie ein Faustschlag. Jankers Mund zuckte und sprang, als würde ein Gewimmel von Luftstößen – von Heuschrecken – durch ihn hindurchgeblasen. Doch es war kein einziger Laut zu hören! Es waren unhörbare Laute, die sich dem Schlund Jankers entwanden – unhörbar, aber nicht inexistent.

»Was ist, Mann – brauchst du Hilfe?«, stieß Karl hervor und ergriff Jankers Arm, sah zu seinem Schrecken aber, wie sich dessen Züge entspannten und zu einem Ausdruck der Selbstgefälligkeit umgruppierten – nicht weil der Mann ruhiger wurde, sondern weil etwas von innen heraus seine Züge zu manipulieren schien wie ein Marionettenspieler.

Wie kannst du das unterscheiden?, raste der nächste Gedanke durch Karls Kopf. Was, wenn Janker nur ein verwirrter Habich-Schüler war, stumm vielleicht, weshalb er jetzt zu schreien versuchte, aber nicht konnte? War es nicht Panik, was ihm aus den Augen sprang?

Ja, Panik, hörte es Karl in sich zischen, aber die Panik des Restmenschen, der spürt, wie die Sprache ihn immer weiter noch ausfüllt. Der spürt, wie er degradiert wird zur Hülle eines Wesens, das nichts Menschliches mehr an sich hat, das von Individualität nichts mehr weiß, das ihn hinter sich herzieht wie eine Schlange die Haut, derer sie sich gerade mühevoll entledigt hat!

»Ist das Ihr Kind, Janker, das man rufen hört nachts?«, fuhr er den anderen an.

Jankers Lippen zuckten, sprangen und vibrierten – aber es war nichts zu hören.

»Ich kann dich nicht hören«, fauchte Karl und spürte, wie es in seinem Kopf rauschte. War es in seinem Kopf? Pfuschte es in seinem Gehirn herum? Sprach es eine Sprache, die er nicht hören konnte, die seine Gedanken aber verformte? Er hatte keine Kontrolle darüber.

»Was?«, schrie er und sah, wie Jankers Mundwinkel nach oben gezogen wurden, während in seinen Augen die Angst blieb.

Er ist nicht er selbst! Es kriecht in meinen Kopf!

 

Und dann rannte er. Er knallte gegen die Kante der Theke, die Küche und Wohnzimmer trennte, stolperte, fing sich, rannte weiter, rannte durch die Diele, durch die zerborstene Haustür, ins Freie – und spürte, dass Janker hinter ihm her war. Karl rannte die Anhöhe hinunter – niemals hätten seine Kräfte gereicht, um hoch zum Haupthaus zu laufen. Bergab aber trugen ihn seine Beine noch, mit Gewalt riss er sie nach vorn, dem See entgegen, am Ufer entlang …

Da krachte Jankers massiger Körper in seine Seite – ein Schlag, der ihn herumschleuderte. Verzweifelt versuchte Karl, das Gleichgewicht zu halten, griff um sich. Doch da schoss es bereits in seine Schuhe, umklammerte die Hose – das eiskalte Wasser des Sees. Erneut schlug Jankers Körper gegen ihn, Karl riss die Hände nach vorn, spürte, wie sein Gesicht auf das Wasser klatschte und es in seinen Ohren gluckerte. Verzweifelt presste er die Lippen zusammen, um das Wasser nicht schlucken zu müssen.

 

Janker lag auf ihm, drückte ihn mit seinem Körpergewicht in das schlammige Bett des Sees. Seinen rechten Arm hatte er um Karls Hals geschlungen, mit der Linken stützte er sich auf dem Grund ab, um selbst den Kopf über Wasser halten zu können.

Karl riss die Augen auf. Um ihn herum war alles graubraun. Sandwasser füllte seine Augen, gleichzeitig spürte er, wie seine Lungenflügel zusammengepresst wurden. Er versuchte, sich aufzubäumen, aber Janker war zu schwer, als dass er ihn hätte abwerfen können. Er stemmte die Arme unter seiner Brust in den Schlamm, sammelte seine Kraft, wollte sie durchdrücken – da schlug Janker ihm mit der Rechten die Arme unter der Brust weg. Karl sackte nach unten, konnte sich nicht halten, geriet mit dem Gesicht in den Sandboden, schloss die Augen – und musste zum ersten Mal in seinem Leben denken, dass er in diesem Moment sterben könnte.

Verzweifelt bohrte er die Ellbogen in den Seegrund, presste sich noch einmal hoch, spürte Jankers Arm an seinem Kinn, bog den Kopf, so weit er konnte, nach unten – und schlug seine Zähne in den dünnen Pullover des anderen. Seine Kiefer schlossen sich wie eine Zange – es war der Tod, der ihm die Kraft dazu gab. Karl fühlte, wie seine Zähne den Stoff durchbohrten, wie warmes, nach Kupfer schmeckendes Blut in seinen Mund strömte. Für einen Moment lockerte er den Biss, um seine Zähne gleich noch einmal, noch kräftiger, noch rücksichtsloser in Jankers Fleisch zu graben. Es war etwas Warmes, das sich unter dem Druck seines Kiefers teilte, das seinen Mund ausfüllte, während er spürte, wie seine untere und obere Zahnreihe aufeinander zustrebten, wie sie das Fleisch des Mannes, der ihn unter Wasser drückte, herauszulösen begannen. Mit einem kräftigen Ruck riss Karl den Kopf zurück, das tischtennisballgroße Fleischstück im Mund, das rasende Bedürfnis zu würgen. Im nächsten Augenblick hieb er den Ellbogen nach hinten, traf Janker in die Seite, spürte, wie sein Gewicht sich verlagerte – stemmte die Knie in den Grund und warf den Oberkörper nach oben. Er merkte, dass der andere von ihm abrutschte, bekam den Kopf aus dem Wasser, spuckte das gummiartige Stück Fleisch aus und erbrach sich. Fuhr mit ausgestrecktem Arm, die Hand zur Faust geballt, herum, traf Janker hart am Ohr und sah, wie er mit aufgerissenen Augen versuchte, sich aufzurappeln.

 

Aber Karl war zuerst auf den Beinen, holte aus, ließ das Knie in das Gesicht des anderen krachen, erbrach sich erneut – und beobachtete, wie Janker unter der aufgewühlten Wasseroberfläche verschwand. Er beugte sich hinunter, griff in das Wasser, bekam den Pullover zu fassen, riss den Mann daran hoch. Das Schlammwasser rann Janker übers Gesicht, er hustete, rang nach Luft.

»Was ist das für ein Rufen, Janker?« Karl bekam kaum genug Luft, um zu sprechen. »Was tust du deinem Kind an?«

Doch statt dass Janker antwortete, begannen nur wieder seine Lippen zu springen. Es waren keine Worte, die aus seinem zuckenden Mund traten. Was aber dann?, raste es Karl durch den Kopf. Es war das Vieh, es würde in ihn hineinkriechen, ihn aushöhlen, sich weiter in ihm fortpflanzen, bis auch er anfangen würde, nur noch eine Marionette an den Fäden dieses Parasiten zu sein.

 

Karl musste sich nicht dazu entschließen, es fand einfach statt. Er drückte den Brustkorb des anderen unter Wasser und ließ seine Knie darauf fallen. Er spürte, wie die Rippen unter der Wucht des Aufschlags knackten, für einen Moment fürchtete er, sie würden einbrechen und er in den Eingeweiden Jankers versinken.

Aber die Knochen hielten. Jankers Arme schlugen nach ihm. Doch Karl ließ sich nicht mehr abwerfen.

 

Es dauerte eine halbe Ewigkeit. Dann regte sich nichts mehr. Das Wasser kam zur Ruhe. Der andere war unter der schlammigen Oberfläche verschwunden.

Karl erhob sich. Er zitterte am ganzen Körper. Es kam ihm so vor, als müsste sein Kopf zerspringen. Er schleppte sich zum Ufer, stieg aus dem Wasser. Sah nicht zurück.

Er hatte einen Mann umgebracht. Nichts war mehr so wie vorher. Der Tod war bei ihm gewesen.

Und würde ihn nicht mehr loslassen.