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Knack knack knack knack knack knack knack knack …

So ähnlich hatte er sich das immer vorgestellt, wenn gesagt wurde, dass man im Augenblick des Todes sein Leben noch einmal an sich vorüberziehen sehen würde. Nur dass das, wo hindurch Karl gerade gespült wurde, keine sauber chronologisch geordnete Blitzkette von Eindrücken war, die wohl mit dem Tod zusammenfallen würde, wenn er erst einmal bei seiner Geburt angelangt war, sondern eher so etwas wie ein Tunnel wild gemixter Erinnerungsflashs. Gemixt, weil alles, was ihm darin entgegenflog, zwar seiner Erinnerung entstammte, jedoch aus einzelnen Elementen zusammengesetzt war, die zum Teil nicht richtig zusammengehörten. Sie passten zusammen, aber dieses Mädchen hatte er nie zusammen mit diesem Geruch erlebt, dessen war er sich sicher. Nie hatte er es gesehen und gleichzeitig diese Kaskade von Tönen gehört – und doch wurde ihm ihr Antlitz gerade mit ebendiesem Hintergrundgeräusch entgegengetragen.

 

Die Nacht über hatte Karl wie ein Stein im Gästezimmer geschlafen, nach dem Aufstehen jedoch rasch festgestellt, wie entkräftet er noch immer war. So hatte er zugestimmt, als Lara nach dem Frühstück vorgeschlagen hatte, einen der Liegestühle auf die Terrasse zu stellen, damit Karl sich darauf unter ein paar Decken an der frischen Luft erholen könne.

Eine Zeitlang hatte er dort gelegen, die ungewöhnlich warme Sonne sowie den Anblick von der Anhöhe hinab auf den See genossen, und darüber nachgedacht, ob er nicht eigentlich ein paar tiefgreifende Entscheidungen treffen müsste. Seine Beziehung mit Tamara war am Ende, somit hatte er im Grunde genommen auch keine Wohnung mehr in Berlin. Seine Stelle am Institut lief in den nächsten Monaten aus, und er hatte keine konkrete Perspektive, was er als Nächstes anfangen sollte. Ja, selbst der Auftrag, Habichs Vorlass zu ordnen, hatte sich mit dessen Tod von einem Tag auf den anderen in Luft aufgelöst. Wenn er es recht betrachtete, stand er vor dem Nichts – und es war höchste Zeit, dass er entschied, wie es weitergehen sollte.

Doch dann hatte ein anderer Gedanke all diese Überlegungen wie ein Bulldozer zur Seite geschoben: Wenn das, was er gestern Abend erlebt hatte, wirklich das gewesen war, was Habich immer als seinen Durchbruch bezeichnet hatte, konnte er, Karl, dann nicht versuchen, die Tatsache zu finden, die Habich gesucht hatte? Musste er sie dann nicht innerhalb seines Geistes ausfindig machen können? Aber war das überhaupt sinnvoll? Eine Tatsache in seinem Geiste ausfindig machen? Waren Tatsachen nicht geradezu dadurch definiert, dass sie außerhalb unseres Geistes lagen? Was genau war es bloß gewesen, das Habich in sich gesucht hatte?

Und im selben Moment hatte Karl gewusst, dass er sich noch einmal auf den Weg machen musste – auf den Weg in sich selbst.

 

Ohne Lara Bescheid zu geben, die sich in die Bibliothek zurückgezogen hatte, um – wie sie meinte – tausend Sachen zu erledigen, die seit Habichs Tod angefallen waren, hatte Karl die Liege auf der Terrasse vor dem Haus verlassen und war mit dem Fahrstuhl hinunter ins Labor gefahren. Er hatte den Computer eingeschaltet, sich durch das einfache Programm geklickt, um die Magnetspule zu aktivieren, und begonnen, das Gerät über seinen Kopf hinweg zu bewegen. Wenig später hatte der Sturz in die unendlich flüchtigen, unendlich stofflosen Schattierungen seiner Innenwelt mit der gleichen Vehemenz eingesetzt wie beim ersten Mal.

 

Eben noch hatte er sich über die Kombinationen gewundert, in denen ihm seine Erinnerungen diesmal entgegenströmten, als es ihn wie ein Stromschlag durchfuhr, und er begriff, dass die Kombinationen nicht willkürlich auf diese Weise zusammengesetzt worden waren, sondern dass er es doch sein musste, der sie vor seinem geistigen Auge immer schon schuf und erfand. Wie ein Träumer, der sich plötzlich bewusst wird, dass er den Traum nicht nur erlebt, sondern auch erschafft, schwamm Karl beglückt durch den Strom.

 

Es war die Erinnerung an den Garten, in dem er als Kind mit seinem Bruder gespielt hatte, die an ihm vorüberflog und in die er im vollen Bewusstsein seiner gottgleichen Schöpferkraft hineingriff. Er vertiefte das Grün des Rasens, verstärkte das Plätschern der künstlichen Quelle am Teich, ergänzte das Blätterkleid der Baums in der Mitte und verlängerte seine Äste, als würde der Baum im Zeitraffer wachsen. Schon ragte die Pflanze weit über das Haus hinaus, doch Karl hielt nicht inne, sondern trieb nun auch den Stamm in die Höhe, imaginierte Äste so dick wie Rohre, ließ die Krone des Baumes sich über den ganzen Garten hinweg und darüber hinaus noch über die Gärten der Nachbarn, die Straße, die Häuser gegenüber erstrecken, eine Krone, die schon an die vierzig, fünfzig Meter hoch aufragte und immer noch wuchs und wuchs, bis der Stamm des Baumes allein schon die gesamte Fläche des Grundstücks einnahm. Ein Baum, wie es ihn nie gegeben hatte, hinaufgereckt in hügelähnliche, bergähnliche Höhen, bald groß wie ein Dorf, ein Städtchen, aufragend jetzt in dünnere Luftschichten – schier berstend vor Gesundheit und Kraft und unaufhörlichem Wachstum.

Da nahm Karl zu der expandierenden Pflanze plötzlich eine Musik wahr, deren Klavierklänge das sich Vorschieben der Äste zu dirigieren schien – ein Stück, das ihm zuerst bekannt vorkam, sich alsbald aber schon änderte und zu einer Klangwelt mutierte, die nie auf einem Notenblatt niedergeschrieben worden sein konnte, die die Prinzipien und Harmonien, die in dem ursprünglichen Stück angelegt waren, aber überspitzte, pointierte, variierte …

Bis Karl mit einem Mal klarwurde, dass er es war, der diese Klangwelt in dem Moment erfand und erkundete, in dem er sie hörte. Eine gewaltige Musik, die sich nach und nach aufschwang zu einer Erhabenheit, die dem mächtigen Baum zu ähneln begann, der noch immer nicht aufgehört hatte zu wachsen und dessen Bewegung sich für Karl jetzt als eine komplexe Geometrie zeigte. Die Zahlen und Verhältnisse ergaben das Regelwerk, das der begleitenden Komposition ihre Gestalt verlieh. Ein Regelwerk, das sich nun, wo Karl es näher zu betrachten begann, als ein Zweig einer unendlichen, nur zu einem Bruchteil bekannten Rechenwelt entpuppte, die Karl begierig in den Blick zu nehmen begann und die er sogleich als Spielart einer unendlichen Gruppe von Rechenwelten erkannte.

Und doch kam seine Schöpfung auch jetzt nicht zum Stillstand, vielmehr schien sie noch einmal Fahrt aufzunehmen, denn in dem Moment, in dem er den Wald von Rechenwelten vor sich sah, begriff er, dass er das Geschehen bisher von einem immer gleichen Punkt aus betrachtet hatte – und schwang sich zu einem Flug durch die ineinander verschlungenen Kronen der gewaltigen Pflanzen empor, die noch immer nicht aufgehört hatten zu wachsen. Vor seinen Augen entfalteten sich nun zwei rasante Bewegungen gleichzeitig, die Bewegung des wachsenden Waldes und die seines vollkommen befreiten Fluges. Bis er die Musik wieder heranbranden hörte, die das visuelle Spektakel in Tönen wiedergab, ein Rauschen, ein jauchzendes Orchester, dessen Spieler nicht zwei, sondern fünf, zwanzig, zweihundert Hände gleichzeitig zu haben schienen, ein Orchester aberwitziger Instrumente, das sich verdoppelte in dem Moment, in dem Karl bewusst wurde, dass es eines war, und dessen realisierter Zwilling sich ebenso wie es selbst noch einmal duplizierte, kaum dass die erste Verdopplung begonnen hatte. So waren es bald die Töne von vier, acht, zigtausend Orchestern, die Karl umtobten und die einen Sturm entfachten, den er niemals auszuhalten imstande gewesen wäre, wenn er nicht jeden einzelnen Ton herausgehört hätte und ihm nicht selbstverständlich gewesen wäre, wo jeder Ton lag, warum er so lag und welche Rolle er in der schier unendlichen Symphonie spielte – einer Symphonie, deren Grundidee sein Bewusstsein als Nächstes wie ein mehrdimensionaler Blitz erhellte.

 

Im selben Augenblick jedoch schrie er auf, denn dieser Blitz stach wie eine Nadel in sein Innerstes, und er realisierte, dass außen, im Labor, in das sein glasiger Blick ja noch immer gerichtet war, sich etwas bewegte.

Die Konturen der Gestalt verfestigten sich, das durchdringende, knackende Geräusch des Magneten brach ab.

»Du blutest ja!«, hörte er noch Laras Stimme, dann versank er hilflos im Schwarz der Bewusstlosigkeit.