Dokument 18
KomKon 2
Ural/Norden
Bericht Nr. 020/99
Datum: 13. Mai’99
Autor: T. Glumow, Inspektor
Projekt 009: »Besuch der alten Dame«
Betr.: Vergleich der Liste von Personen mit
Inversion des »Pinguin-Syndroms« mit der Liste »Projekt«
Gemäß Ihrer Anordnung und auf der Basis aller mir
zur Verfügung stehenden Quellen habe ich eine Liste
zusammengestellt, in der alle Fälle von Inversion des
»Pinguin-Syndroms« aufgeführt sind. Insgesamt konnte ich 12 Fälle
ermitteln; bei zehn von ihnen gelang eine Identifizierung. Der
Vergleich der Liste von identifizierten Inversanten mit der Liste
»P« ergab eine Überschneidung bei folgenden Personen:
1. Kriwoklykow, Iwan Georgijewitsch, 65 Jahre
alt, Psychiater, Basis »Lemboy« (EN 2105).
2. Pakkala, Alf-Christian, 31 Jahre alt,
Bauoperator, BK Alaska, Anchorage.
3. Io, Nike, 48 Jahre alt, Stoffdesignerin,
Kombinat »Irrawaddy«, Pyapon.
4. Tuul, Albert Oskarowitsch, 59 Jahre alt,
Gastronom, Aufenthaltsort unbekannt (s. Nr. 047/99 von S.
Mtbewari).
Der Anteil von Überschneidungen in den beiden
Listen erscheint mir erstaunlich hoch. Die Tatsache, dass A. O.
Tuul aber in drei Listen auftaucht, ist noch erstaunlicher.
Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf die vollständige
Liste der Personen mit Inversion des »Pinguin-Syndroms« lenken. Sie
liegt bei.
T. Glumow
»Leonidsheim« (Krāslava, Lettland).
14. Mai ’99, 15:00 Uhr
Bei Krāslava war die Daugava nicht sehr breit,
dafür floss sie schnell und sah sehr klar aus. Der Strand, ein
schmaler Streifen trockenen Sands, schimmerte gelb; dann stieg der
Sandhang steil zu den Kiefern hin an. Auf der ovalen, grau-weiß
karierten Landeplattform, die über das Wasser hinausragte, standen
drei verschiedenfarbige, ungeordnet abgestellte Flieger und
brüteten in der Sonne. Es waren altmodische, schwere Maschinen, die
heute kaum noch geflogen werden - höchstens von alten Leuten, die
noch im vorigen Jahrhundert geboren sind.
Toivo streckte die Hand aus, um die Tür des
Gleiters zu öffnen. Doch ich bat: »Nein, warte.«
Ich schaute den Hang hinauf: Zwischen den Kiefern
schimmerten cremefarben die Wände des Häuschens hindurch. Von dort
führte eine Treppe, die verwittertes, mit der Zeit grau gewordenes
Holz imitierte, im Zickzack den Hang hinab. Auf der Treppe war eine
weiß gekleidete Person zu sehen, die langsam die Stufen
hinunterstieg - ein schwerfälliger und anscheinend sehr alter Mann,
der sich mit der rechten Hand ans Geländer klammerte und auf jeder
Stufe einen Fuß neben den anderen stellte, ehe er den nächsten
Schritt tat. Auf seinem
großen, blanken Schädel zitterte ein Sonnenreflex. Ich hatte ihn
erkannt. Es war August Johann Bader, Planetenerkunder und
Fährtensucher. Die Ruine eines heroischen Zeitalters.
»Wir warten, bis er unten ist«, sagte ich. »Ich
möchte ihm nicht begegnen.«
Ich wandte mich um und blickte in die
entgegengesetzte Richtung, über den Fluss ans andere Ufer, und auch
Toivo wandte sich taktvoll ab. So blieben wir sitzen, bis wir das
schwere Knarzen der Stufen hörten, das pfeifende, angestrengte
Atmen und weitere, merkwürdige Geräusche, die wie abgehacktes
Schluchzen klangen. Dann ging der Greis am Gleiter vorüber,
schlurfte mit den Sohlen über die Plasten und tauchte in meinem
Blickfeld auf. Ich sah ihm unwillkürlich ins Gesicht.
Aus der Nähe erschien mir dieses Gesicht völlig
unbekannt. Es war vom Leid gezeichnet; die Wangen hingen herab und
zitterten, der Mund stand unwillkürlich offen, und aus den
verquollenen Augen rannen Tränen.
Gebeugt näherte sich Bader einem altertümlichen
gelbgrünen Flieger - es war sicher der älteste von den dreien, mit
hässlichen Visierschlitzen eines altmodischen Autopiloten; er hatte
zudem alberne Beulen am Heck, ramponierte Seitenwände und stumpf
gewordene, vernickelte Haltegriffe. Bader trat heran, klappte die
Tür auf und stieg - keuchend oder schluchzend - in die
Kabine.
Dann geschah lange Zeit nichts. Der Flieger stand
mit offener Tür da. Der alte Mann, der darin saß, sammelte sich
wohl vor dem Start oder hatte den kahlen Kopf auf den abgegriffenen
ovalen Steuerknüppel gelegt und weinte. Doch dann endlich erschien
eine braune Hand in einer weißen Manschette und schlug die Türe zu.
Die alte Maschine hob überraschend leicht und völlig lautlos ab und
verschwand zwischen den abschüssigen Ufern über dem Fluss.
»Das war Bader«, sagte ich. »Er hat Abschied
genommen. Gehen wir.«
Wir stiegen aus dem Gleiter und gingen die Treppe
hinauf.
Ohne mich zu Toivo umzudrehen, sagte ich: »Lass die
Gefühle beiseite. Du gehst zum Rapport. Es wird eine sehr wichtige
dienstliche Besprechung. Nimm dich zusammen.«
»Eine dienstliche Besprechung wäre wunderbar«,
antwortete Toivo hinter mir. »Ich habe aber den Eindruck, dass
jetzt nicht die Zeit für dienstliche Besprechungen ist.«
»Du irrst dich. Gerade jetzt ist die Zeit dazu. Und
was Bader betrifft … Denk jetzt nicht daran. Denk an die
Sache.«
»In Ordnung«, erwiderte Toivo gehorsam.
Gorbowskis Häuschen »Leonidsheim« war ein ganz
gewöhnlicher Standardbau mit einer Architektur vom Beginn des
Jahrhunderts: die Lieblingsbehausung von Raumfahrern,
Tiefseearbeitern oder Erdmanteldurchquerern, die große Sehnsucht
nach ländlicher Idylle hatten - ohne Werkstatt, Stall oder Küche,
dafür aber mit einem eigenen Nebenbau für die Energieversorgung der
persönlichen Null-Anlage, die Gorbowski als Mitglied des Weltrats
zustand. Und darum herum standen Kiefern und ein Dickicht aus
Heidekraut; es roch stark nach Nadelzweigen, und in der windstillen
Luft summten schläfrig die Bienen.
Wir betraten die Veranda und gingen durch die offen
stehende Türe ins Haus. Im Wohnzimmer, wo die Vorhänge dicht
zugezogen waren und nur eine Stehlampe neben dem Sofa brannte, saß
ein Mann, die Beine übereinandergeschlagen, und betrachtete im
Schein der Lampe eine Karte oder ein Mentoschema. Es war
Komow.
»Guten Tag«, sagte ich. Toivo verbeugte sich
schweigend.
»Guten Tag, guten Tag«, erwiderte Komow als sei er
ungeduldig. »Kommen Sie herein, setzen Sie sich. Er schläft. Ist
eingeschlafen. Dieser verfluchte Bader hat ihn mit seinem Gerede
völlig geschafft. Sie sind Glumow?«
»Ja«, sagte Toivo.
Komow musterte ihn voller Neugier. Ich hustete, und
Komow besann sich augenblicklich. »Ihre Mutter ist nicht zufällig
Maja Toivowna Glumowa?«, fragte er.
»Doch«, antwortete Toivo.
»Ich hatte die Ehre, mit ihr zusammenzuarbeiten«,
sagte Komow.
»Wirklich?«, fragte Toivo.
»Ja. Hat Sie es Ihnen nicht erzählt? Die Operation
›Arche‹ …«
»Ja, ich kenne die Geschichte«, sagte Toivo.
»Womit befasst sich Maja Toivowna jetzt?«
»Mit Xenotechnologie.«
»Wo? Bei wem?«
»An der Sorbonne. Ich glaube, bei Saligny.«
Komow nickte und sah immer wieder Toivo an. Seine
Augen glänzten. Der Anblick von Maja Glumowas erwachsenem Sohn rief
anscheinend lebhafte Erinnerungen in ihm wach. Ich hustete noch
einmal, und sofort wandte sich Komow mir zu. »Wir müssen ein wenig
warten. Ich möchte ihn nicht wecken. Er lächelt im Schlaf. Träumt
von etwas Schönem. Zum Teufel mit Bader mit seinem Geflenne!«
»Was sagen die Ärzte?«, erkundigte ich mich.
»Immer dasselbe. Lebensüberdruss. Dagegen gibt es
keine Medikamente. Das heißt, es gibt welche, aber er will sie
nicht nehmen. Er hat das Interesse am Leben verloren, das ist es.
Wir können das nicht verstehen. Immerhin ist er über 150 Jahre alt.
Aber sagen Sie, Glumow, was macht Ihr Vater beruflich?«
»Ich sehe ihn kaum«, sagte Toivo. »Ich glaube, er
ist jetzt Hybridisator, auf der Jaila.«
»Und Sie selbst …«, setzte Komow an, verstummte
aber, weil aus dem Innern des Hauses eine schwache, etwas heisere
Stimme drang: »Gennadi! Wer ist da bei Ihnen? Sie können
hereinkommen.«
»Gehen wir«, sagte Komow und war schon
aufgesprungen.
Im Schlafzimmer standen die Fenster weit offen.
Gorbowski lag auf dem Sofa, bis ans Kinn in eine karierte Decke
gehüllt. Er wirkte unglaublich lang, hager und zum Weinen
erbärmlich. Seine berühmte schuhförmige Nase schien verknöchert;
die Wangen waren eingefallen, die tief eingesunkenen Augen traurig
und matt, als wollten sie nichts mehr sehen. Aber sie mussten, und
so sahen sie.
»Ah, Mäxchen«, murmelte Gorbowski, als er mich
erblickte. »Du siehst immer noch so … blendend aus. Ich freue mich,
dich zu sehen, ich freue mich.«
Das war nicht wahr. Er freute sich nicht, Mäxchen
zu sehen. Und es gab nichts, worüber er sich freute. Sicherlich
glaubte er, freundlich zu lächeln, aber in Wirklichkeit lag auf
seinem Gesicht eine Grimasse gequälter Liebenswürdigkeit. Man
spürte eine unendliche und nachsichtige Geduld in ihm, als denke
Leonid Andrejewitsch gerade: Da ist also noch jemand gekommen, na
ja, es wird ja nicht ewig dauern, dann gehen sie wieder, wie alle
vor ihnen gegangen sind, und lassen mich endlich in Ruhe.
»Und wer ist das?«, erkundigte sich Gorbowski,
wobei es ihm offensichtlich schwerfiel, seine Apathie zu
überwinden.
»Das ist Toivo Glumow«, sagte Komow. »Von der
KomKon, Inspektor. Ich habe Ihnen erzählt …«
»Ja-ja-ja …«, sagte Gorbowski träge. »Ich erinnere
mich, Sie haben es mir erzählt. ›Besuch der alten Dame‹. Setzen Sie
sich, Toivo, setzen Sie sich, mein Junge. Ich höre Ihnen zu.«
Toivo setzte sich und schaute mich fragend
an.
»Leg deinen Standpunkt dar«, sagte ich. »Und
begründe ihn.«
Toivo begann: »Ich werde jetzt ein Theorem
formulieren; die Formulierung stammt allerdings nicht von mir.
Doktor Bromberg hat sie vor fünf Jahren aufgestellt:
Zu Beginn der achtziger Jahre hat eine
Superzivilisation, die wir der Kürze halber die Wanderer
nennen, mit aktiver Progressorentätigkeit auf der Erde begonnen.
Ein Ziel dieser Tätigkeit ist die Selektion. Mit
unterschiedlichsten Methoden wählen die Wanderer aus der
Masse der Menschen jene Individuen aus, die sich nach gewissen, den
Wanderern bekannten Kriterien für etwas Bestimmtes eignen,
etwa für den Kontakt, für die weitere Vervollkommnung der Art oder
gar für die Umwandlung in Wanderer. Sie haben sicher noch
andere Ziele, von denen wir nichts wissen, aber dass sie auf der
Erde mit Selektion befasst sind und Menschen aussortieren - das
liegt für mich auf der Hand, und das versuche ich nun zu
beweisen.«
Toivo verstummte. Komow schaute ihn eindringlich
an. Gorbowski dagegen schien zu schlafen, aber seine über der Brust
gefalteten Hände gerieten immer wieder in Bewegung und zeichneten
verwickelte Muster in die Luft.
»Fahren Sie fort, mein Junge«, sagte
Gorbowski.
Toivo fuhr fort und begann, vom »Pinguin-Syndrom«
zu erzählen: Mit Hilfe eines gewissen »Siebes«, das die
Wanderer im Sektor 41/02 installiert hatten, sortierten sie
die Menschen aus, die an einer versteckten Kosmophobie litten, und
selektierten gleichzeitig die versteckten Kosmophilen. Er
schilderte die Ereignisse in Malaja Pescha: Dort hatten die
Wanderer mit Hilfe einer außerirdischen Biotechnik ein
Experiment zur Auslese der Xenophilen durchgeführt; die Xenophoben
wurden ausgesondert. Er erzählte vom Kampf um die »Novelle«:
Entweder hatte die Fukamisation die Selektionsarbeiten der
Wanderer behindert oder sie gefährdete einige von den
Wanderern benötigte Eigenschaften in künftigen
Menschengenerationen. So hatten sie eine Kampagne zur Abschaffung
der Fukamisationspflicht organisiert und mit Erfolg durchgeführt.
Jahrelang war die Zahl der »Auserwählten« (wir wollen sie so
nennen) angewachsen, was jedoch
irgendwann auffiel - wir mussten die »Auserwählten« einmal
bemerken, und wir haben sie bemerkt: Das Verschwinden von Menschen
in den achtziger Jahren, die plötzliche Verwandlung gewöhnlicher
Leute in Genies, die unlängst von Sandro Mtbewari entdeckten
Menschen mit phantastischen Fähigkeiten. Und schließlich das
sogenannte Institut der Sonderlinge in Charkow, das zweifellos ein
Zentrum für das Auffinden von Personen ist, die für die »Selektion«
infrage kommen.
»Sie geben sich nicht einmal die Mühe, sich zu
tarnen«, sagte Toivo. »Anscheinend fühlen sie sich schon so stark,
dass sie keine Entdeckung mehr fürchten. Oder sie meinen, wir wären
schon nicht mehr in der Lage, etwas zu ändern. Ich weiß es nicht.
Das ist eigentlich alles. Ich möchte noch hinzufügen, dass das, was
wir entdeckt haben, sicher nur ein kleiner Bruchteil des ganzen
Spektrums ihrer Aktivität ist. Das muss man berücksichtigen. Und
ich halte es für meine Pflicht, zum Abschluss meinen Respekt und
meine Anerkennung gegenüber Doktor Bromberg auszusprechen, denn er
hat vor fünf Jahren, ohne dass er über positive Information verfügt
hätte, all die Erscheinungen deduziert, die wir jetzt
beobachten - sowohl die Entstehung von Massenphobien als auch das
plötzliche Auftreten von Talenten bei Menschen, und sogar die
Unregelmäßigkeiten im Verhalten von Tieren, zum Beispiel
Walen.«
Toivo wandte sich mir zu. »Ich bin fertig.«
Ich nickte. Alle schwiegen.
»Die Wanderer, die Wanderer«,
Gorbowski sang es beinahe. Er lag da und hatte sich die Decke bis
an die Nase gezogen. »Ausgerechnet die Wanderer. So lange
ich mich entsinnen kann, seit meiner Kindheit, so lange sind diese
Wanderer schon im Gespräch. Toivo, mein Junge, Sie können
die Wanderer aus irgendeinem Grund nicht ausstehen.
Warum?«
»Ich mag Progressoren nicht«, antwortete Toivo
beherrscht und fügte hinzu: »Leonid Andrejewitsch, ich war ja
selbst Progressor.«
»Niemand mag Progressoren«, murmelte Gorbowski.
»Nicht einmal sie selbst.« Er atmete tief aus und schloss wieder
die Augen. »Ehrlich gesagt, ich sehe hier kein Problem. Das sind
scharfsinnige Interpretationen, sonst nichts. Geben Sie Ihre
Unterlagen, zum Beispiel, den Pädagogen, und die werden ihre
eigenen, nicht weniger scharfsinnigen Interpretationen entwickeln.
Die Tiefseearbeiter haben ihre eigenen - ihre eigenen Mythen, ihre
eigenen Wanderer. Seien Sie nicht gekränkt, Toivo, aber
allein die Erwähnung Brombergs hat mich stutzig gemacht.«
»Übrigens, es sind alle Arbeiten Brombergs über den
Monokosmos verschwunden«, warf Komow leise ein.
»Aber es hat doch nie welche gegeben!« Gorbowski
kicherte schwach. »Sie haben Bromberg nicht gekannt. Das war ein
giftiger alter Mann mit einer unglaublichen Fantasie. So war das:
Maxik hat ihm seine beunruhigte Anfrage geschickt, und Bromberg,
der bis dahin nie auch nur einen Gedanken an diese Themen
verschwendet hatte, setzte sich in einen bequemen Sessel und saugte
sich im Handumdrehen die Hypothese vom Monokosmos aus den Fingern.
Das kostete ihn einen Abend. Und am nächsten Morgen hatte er sie
schon wieder vergessen. Er besaß ja nicht nur eine großartige
Phantasie, sondern war dazu noch ein Kenner der verbotenen
Wissenschaft. In seinem Schädel steckte eine unvorstellbare Menge
unglaublicher Analogien.«
Kaum war Gorbowski verstummt, sagte Komow: »Habe
ich Sie recht verstanden, Glumow - Sie behaupten, auf der Erde
seien jetzt Wanderer anwesend? Als Lebewesen, meine ich, als
Personen.«
»Nein«, gabt Toivo zur Antwort. »Das behaupte ich
nicht.«
»Habe ich Sie recht verstanden, Glumow, dass Sie
behaupten, auf der Erde lebten und wirkten bewusste Agenten der
Wanderer? ›Auserwählte‹, wie Sie sie nennen.«
»Ja.«
»Können Sie Namen nennen?«
»Ja. Mit einem bestimmten
Wahrscheinlichkeitsgrad.«
»Nennen Sie welche.«
»Albert Oskarowitsch Tuul. Das ist fast sicher.
Cyprian Okigbo. Martin Tschang. Emile Far Ale. Ebenfalls fast
sicher. Ich kann noch ein Dutzend Namen nennen, die aber mit etwas
weniger Gewissheit.«
»Hatten Sie Umgang mit einem von ihnen?«
»Ich denke, ja. Im Institut der Sonderlinge. Ich
glaube, dass es dort viele von ihnen gibt. Aber wer es im Einzelnen
ist, kann ich noch nicht genau sagen.«
»Sie meinen also, ihre Erkennungsmerkmale sind
Ihnen nicht bekannt?«
»Doch, natürlich. Äußerlich unterscheiden sie sich
nicht von uns. Aber man kann sie deduzieren, zumindest mit ziemlich
hoher Wahrscheinlichkeit. Im Institut der Sonderlinge, davon bin
ich überzeugt, gibt es eine Apparatur, mit deren Hilfe sie
ihresgleichen unfehlbar und mit Sicherheit feststellen
können.«
Komow warf mir einen raschen Blick zu. Toivo
bemerkte es und sagte herausfordernd: »Jawohl! Ich meine, dass wir
jetzt nicht mehr warten oder Rücksicht nehmen sollten! Es wäre
besser, gewisse Errungenschaften des höheren Humanismus
zurückstellen, denn wir haben es mit Progressoren zu tun und müssen
uns folglich wie Progressoren verhalten!«
»Nämlich?«, erkundigte sich Komow und beugte sich
vor.
»Wir müssen das gesamte Arsenal unserer operativen
Methodik einsetzen! Von der Entsendung von Agenten bis hin zur
zwangsweisen Mentoskopie, von …«
In dem Moment gab Gorbowski ein langes Stöhnen von
sich, und wir alle wandten uns erschrocken zu ihm um. Komow sprang
sogar auf. Doch es war nichts Schlimmes mit Leonid Andrejewitsch
geschehen. Er lag in unveränderter Haltung da; nur die Grimasse
geheuchelter Liebenswürdigkeit auf seinem hageren Gesicht war einem
Ausdruck von Abscheu und Ärger gewichen.
»Womit habt ihr mich hier nur überfallen?«,
beschwerte er sich. »Ihr seid doch erwachsene Menschen, keine
Schulkinder oder Studenten. Schämt ihr euch wirklich nicht? Genau
das ist es, warum ich all diese Gespräche über die Wanderer
nicht mag … und nie gemocht habe! Sie enden alle mit solch
verschreckten Räuberpistolen! Wann werdet ihr denn begreifen, dass
diese Dinge sich gegenseitig ausschließen - entweder sind die
Wanderer eine Superzivilisation, und dann haben sie mit uns
nichts zu schaffen, sind Wesen mit einer anderen Geschichte,
anderen Interessen, die sich nicht mit Progressorentätigkeit
befassen. Und überhaupt befasst sich im ganzen Weltall allein und
nur unsere Menschheit damit, weil wir eben so eine Geschichte
haben, weil uns unsere Vergangenheit leidtut. Wir können sie nicht
mehr verändern, und so versuchen wir wenigstens, anderen zu helfen,
weil wir uns ja seinerzeit nicht selbst helfen konnten. Da kommt
unser ganzes Progressorentum her! Die Wanderer aber, selbst
wenn ihre Vergangenheit der unseren ähnlich war, haben sie so weit
hinter sich gelassen, dass sie sich nicht einmal mehr daran
erinnern. So wie wir uns nicht mehr an die Qualen des ersten
Hominiden erinnern, der sich abmühte, aus einem Gesteinsbrocken
eine Steinaxt zu machen.« Er schwieg eine Weile. »Für eine
Superzivilisation ist es ebenso absurd, sich mit
Progressorentätigkeit zu befassen, wie für uns, heutzutage Seminare
zur Ausbildung von Dorfküstern einzurichten.«
Abermals verstummte er und schwieg lange, wobei
sein Blick von einem Gesicht zum anderen wanderte. Ich schielte
zu Toivo hinüber. Toivo hatte die Augen abgewandt und zuckte
einige Male mit der rechten Schulter, als wollte er zu verstehen
geben, dass er einige Gegenargumente hatte, es jedoch nicht für
angebracht hielt, sie jetzt anzuführen. Komow wiederum blickte, die
dichten schwarzen Brauen hochgezogen, zur Seite.
»Äch-chä-chä-chä …«, krächzte Gorbowski. »Ich habe
es nicht geschafft, euch zu überzeugen. Gut, dann werde ich euch
jetzt beleidigen müssen. Wenn sogar so ein unerfahrener Junge wie
unser lieber Toivo es fertiggebracht hat, diese Progressoren … äh …
ans Licht zu ziehen, ja was zum Teufel sind das denn für
Wanderer? Denkt doch nur selbst! Sollte eine
Superzivilisation ihre Arbeit etwa nicht so organisieren können,
dass ihr nichts bemerkt? Und wenn ihr etwas bemerkt, was zum Teufel
ist das für eine Superzivilisation? Die Wale sind ihnen
durchgedreht, also müssen die Wanderer schuld sein! - Geht
mir aus den Augen, lasst mich in Ruhe sterben!«
Wir standen alle auf. Komow forderte mich halblaut
auf: »Warten Sie im Wohnzimmer.«
Ich nickte.
Toivo verbeugte sich verwirrt vor Gorbowski. Der
alte Mann beachtete ihn nicht. Er schaute verärgert zur Decke, und
seine grauen Lippen bewegten sich lautlos.
Ich ging mit Toivo hinaus. Hinter mir schloss ich
fest die Türe und hörte, wie sich das System der akustischen
Abschirmung mit schwachem Schnalzen einschaltete.
Im Wohnzimmer setzte sich Toivo augenblicklich auf
das Sofa unter die Stehlampe, legte die Hände auf seine Knie und
erstarrte. Er schaute mich nicht an. Ihm war sicher nicht nach mir
zumute.
(Früh am Morgen hatte ich zu ihm gesagt: »Du kommst
mit mir und wirst vor Komow und Gorbowski sprechen.« - »Wozu?«,
hatte er verdutzt gefragt. - »Glaubst du etwa, dass
wir um den Weltrat herumkommen?« - »Aber warum ich?« - »Weil ich
schon gesprochen habe. Jetzt bist du an der Reihe.« - »In Ordnung«,
hatte er gesagt und die Lippen zusammengepresst. Toivo Glumow war
ein Kämpfer. Er wich nie zurück. Man konnte ihn höchstens um ein
paar Schritte zurückwerfen.)
Und nun hatte man ihn zurückgeworfen. Ich saß in
der Ecke und betrachtete ihn von dort.
Eine Zeit lang saß er starr da. Dann blätterte er
gedankenverloren in den Mentoschemata, die ausgebreitet auf dem
niedrigen Tischchen lagen und von den bunten Markierungen der Ärzte
übersät waren. Danach stand er auf und begann, von einer Ecke zur
anderen durch das dunkle Zimmer zu gehen. Die Hände hatte er auf
dem Rücken verschränkt.
Im Haus herrschte undurchdringliche Stille. Weder
waren Stimmen aus dem Schlafzimmer zu hören noch das Rauschen des
Waldes hinter den dicht geschlossenen Fenstern. Toivo hörte nicht
einmal die eigenen Schritte.
Leonid Andrejewitschs Wohnzimmer war spartanisch
eingerichtet. Die Stehlampe (mit einem offensichtlich selbst
gemachten Schirm), das große Sofa darunter, und das niedrige
Tischchen. In der Ecke ein paar Sitzmöbel aus nicht irdischer
Produktion und für nicht irdische Hinterteile bestimmt. In der
anderen Ecke etwas, was sowohl eine exotische Pflanze als auch ein
altertümlicher Hutständer sein konnte. Mehr Mobiliar gab es nicht.
Nur noch eine Hausbar, durch deren halb geöffnete Tür man sehen
konnte, dass sie gut gefüllt war und für jeden Geschmack etwas
bereithielt. Darüber hingen kleine Bilder in durchsichtigen Rahmen,
das größte davon etwa so groß wie ein Albumblatt.
Toivo trat näher und begann, die Bilder anzusehen.
Es waren Kinderzeichnungen. Wasserfarben, Gouache. Zeichenstift.
Kleine Häuschen und daneben große Mädchen, denen die Kiefern bis
zum Knie reichten. Hunde (oder Kopfler?). Ein
Elefant. Ein Tachorg. Irgendeine kosmische Konstruktion -
vielleicht ein phantastisches Raumschiff, vielleicht ein Hangar …
Toivo atmete laut aus und ging zum Sofa zurück. Ich beobachtete ihn
genau.
Ihm standen die Tränen in den Augen. Er dachte
schon nicht mehr an den verlorenen Kampf. Dort hinter der Tür lag
Gorbowski im Sterben - dort starb eine ganze Epoche, eine lebende
Legende. Der Sternenfahrer. Der Planetenerkunder. Der Entdecker von
Zivilisationen. Der Begründer der Großen KomKon und Mitglied des
Weltrates. Großväterchen Gorbowski. Ja, das war er, vor allem und
gerade das: Großväterchen Gorbowski. Wie aus einem Märchen - immer
gut und deswegen immer im Recht. So war seine Epoche gewesen; es
siegte immer das Gute. »Von allen möglichen Lösungen wähle immer
die gütigste.« Nicht die vielversprechendste, nicht die
vernünftigste, nicht die progressivste und natürlich nicht die
effektivste - nein, wähle die gütigste! Er hatte diese Worte
niemals ausgesprochen und äußerte sich boshaft und gallig zu den
Biografen, von denen sie ihm zugeschrieben wurden. Gewiss hatte er
sie auch nie gedacht - und doch lag gerade in ihnen das
Wesentliche, ja, der Kern seines ganzen Lebens. Die Worte waren
natürlich auch kein Rezept. Nicht jedem ist es vergönnt, gütig zu
sein; es ist ein ebensolches Talent wie Musikalität oder Hellsehen,
nur seltener. Und es war zum Weinen, denn der gütigste von allen
Menschen lag im Sterben. Und auf dem Stein würde stehen: »Er war
der Gütigste.«
Ich glaube, das war genau, was Toivo dachte. Und
alles, worauf ich baute, womit ich zukünftig rechnete, beruhte auf
der Annahme, dass Toivo genau so dachte.
Es vergingen dreiundvierzig Minuten.
Dann wurde die Tür unvermittelt aufgerissen. Alles
war wie im Märchen. Oder wie im Kino. Gorbowski, unglaublich lang
in seinem gestreiften Schlafanzug, hager, fröhlich, trat mit
unsicheren kleinen Schritten ins Wohnzimmer und zog
die karierte Decke hinter sich her, die mit einer Franse an einem
seiner Knöpfe hängen geblieben war.
»Aha, du bist noch hier!«, wandte er sich
hocherfreut und zufrieden an den sprachlosen Toivo. »Es kommt alles
noch, mein Junge! Es kommt noch! Du hast Recht!«
Und nachdem er diese rätselhaften Worte
ausgesprochen hatte, ging er mit leichtem Schwanken zum nächsten
Fenster und zog den Vorhang beiseite. Es wurde gleißend hell, wir
blinzelten, Gorbowski aber drehte sich um und sah Toivo an, der
nahe der Wandleuchte in der Haltung »Stillgestanden« erstarrt war.
Ich schaute zu Komow. Der strahlte so unverhohlen, dass seine
zuckerweißen Zähne blitzten. Er wirkte zufrieden wie ein Kater, der
einen Goldfisch gefangen hat. Oder wie ein Bursche, der gerade in
fröhlicher Runde einen guten Witz gemacht hat. Und so war es
tatsächlich.
»Gut, sehr gut!«, rief Gorbowski. »Sogar
ausgezeichnet!«
Den Kopf zur Seite geneigt, kam er auf Toivo zu,
musterte ihn von Kopf bis Fuß, trat an ihn heran und legte ihm die
Hand auf die Schulter.
»Ich hoffe, du wirst mir verzeihen, dass ich so
schroff war, mein Junge«, sagte er. »Aber ich hatte ja auch Recht.
Und dass ich so schroff bin - das kommt von der Reizbarkeit.
Sterben, sag ich dir, ist eine abscheuliche Sache. Bitte achte
nicht darauf.«
Toivo schwieg. Er verstand natürlich nichts. Komow
hatte sich das ausgedacht und arrangiert. Gorbowski wusste genau so
viel, wie Komow ihm hatte mitteilen wollen. Ich konnte mir das
Gespräch, das bei ihnen im Schlafzimmer stattgefunden hatte,
lebhaft vorstellen. Aber Toivo Glumow begriff nichts.
Ich fasste Toivo am Arm und sagte zu Gorbowski:
»Leonid Andrejewitsch, wir gehen jetzt.«
Gorbowski nickte. »Natürlich, gehen Sie. Danke, Sie
haben mir sehr geholfen. Wir sehen uns noch, öfter als
einmal.«
Als wir auf die Vortreppe hinaustraten, sagte
Toivo: »Vielleicht erklären Sie mir, was das alles bedeutet?«
»Du siehst doch: Er hat es sich mit dem Sterben
anders überlegt.«
»Warum?«
»Dumme Frage, Toivo, entschuldige bitte …«
Toivo schwieg eine Weile und sagte dann: »Ja, ich
bin wirklich ein Dummkopf. Das heißt, ich habe mich noch nie im
Leben so dumm gefühlt. Vielen Dank für Ihre Hilfe, Big Bug.«
Ich brummte nur »hm«. Schweigend stiegen wir die
Treppe zum Landeplatz hinunter. Jemand kam uns ohne Eile
entgegen.
»Gut«, sagte Toivo. »Aber die Arbeit am Projekt
soll ich fortsetzen?«
»Natürlich.«
»Aber man hat mich ausgelacht!«
»Im Gegenteil. Du hast einen sehr guten Eindruck
gemacht.«
Toivo murmelte etwas vor sich hin. Den ersten
Treppenabsatz erreichten wir zeitgleich mit dem Mann, der uns
entgegenkam. Es war der stellvertretende Direktor der Charkower
Filiale des IMF, Daniil Alexandrowitsch Logowenko; er war rotwangig
und sehr besorgt.
»Ich grüße dich«, sagte er zu mir. »Habe ich mich
sehr verspätet?«
»Nein«, antwortete ich. »Er erwartet dich.«
Und da zwinkerte D. A. Logowenko auf recht
verschwörerische Weise Toivo zu, um dann sogleich die Treppe weiter
hinaufzusteigen, nun aber sichtlich in Eile. Toivo, die Augen
unfreundlich zusammengekniffen, blickte ihm nach.