1. JUNI’78
Maxim Kammerer, Mitarbeiter der KomKon
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Um 13:17 Uhr rief mich Seine Exzellenz zu sich. Er
blickte nicht auf, und ich sah nur seinen kahlen Schädel, bedeckt
von blassen Sommersprossen, wie man sie bei alten Männern häufig
findet. Wenn Seine Exzellenz mich so empfing, dann bedeutete das
tiefste Verstimmung und Besorgnis - wenn auch nicht
meinetwegen.
»Nimm Platz.«
Ich setzte mich.
»Du musst jemanden ausfindig machen«, sagte er,
verstummte dann aber plötzlich und schwieg eine Weile. Mürrisch zog
er die Stirn in Falten. Fast hätte man meinen können, ihm gefielen
die eigenen Worte nicht - ihre Form vielleicht oder der Inhalt?
Seine Exzellenz legte nämlich größten Wert auf absolut exakte
Formulierungen.
»Wen denn?«, fragte ich, um ihn aus seiner
Erstarrung zu befreien.
»Lew Wjatscheslawowitsch Abalkin. Progressor. Hat
gestern die Polarbasis auf dem Saraksch in Richtung Erde verlassen.
Auf der Erde bislang nicht registriert. Du musst ihn finden.«
Er verstummte erneut, hob den Kopf und blickte mich
zum ersten Mal an. Seine Exzellenz hatte große, fast unnatürlich
grüne Augen. Er tat sich sichtlich schwer, und ich begriff: Die
Sache war wirklich ernst.
Ein Progressor, der sich nach seiner Rückkehr auf
die Erde nicht registrieren ließ, beging zwar eine
Ordnungswidrigkeit,
aber für unsere Kommission, noch dazu für Seine Exzellenz
persönlich, konnte das unmöglich von Interesse sein. Und dennoch
befand er sich offensichtlich in einer so schwierigen Lage, dass
ich glaubte, gleich werde er sich im Sessel zurücklehnen und nahezu
etwas erleichtert sagen: »In Ordnung. Entschuldige. Ich kümmere
mich selbst darum.« So etwas kam, wenn auch selten, vor.
»Wir haben Grund anzunehmen«, sagte Seine
Exzellenz, »dass sich Abalkin versteckt hält.«
Fünfzehn Jahre früher - und ich hätte ungeduldig
und brennend vor Neugier gefragt: »Vor wem?« Aber seitdem waren so
viele Jahre vergangen und mit ihnen auch die Zeit der ungeduldigen
Fragen.
»Finde ihn und gib mir sofort Nachricht«, fuhr
Seine Exzellenz fort. »Keine physischen Kontakte. Überhaupt
keinerlei Kontakt. Finden, beobachten, benachrichtigen. Das ist
alles.«
Ich wollte mich schon verabschieden und nickte
kurz, um ihm zu zeigen, dass ich alles verstanden hatte, aber Seine
Exzellenz schaute mich so durchdringend an, dass ich es für besser
hielt, seinen Befehl noch einmal betont langsam und exakt zu
wiederholen.
»Ich soll ihn ausfindig machen, unter Beobachtung
nehmen und Sie benachrichtigen. Auf keinen Fall versuchen, ihn
festzunehmen, ihm nicht unter die Augen kommen und mich schon gar
nicht auf Gespräche einlassen.«
»In Ordnung«, sagte er, »und jetzt noch
Folgendes.«
Er griff in das Seitenfach seines Tisches, wo
Mitarbeiter für gewöhnlich die Daten-Kristallothek aufbewahren, und
holte etwas Voluminöses heraus, dessen Bezeichnung mir nicht gleich
einfiel, beziehungsweise nur auf Honti: »sakurrapia«. Wörtlich
übersetzt bedeutet es »Behältnis für Dokumente«. Erst als Seine
Exzellenz es vor sich auf den Tisch legte und seine knochigen
Finger darüber verschränkte, erinnerte ich mich wieder und rief:
»Eine Aktenmappe!«
»Lass dich nicht ablenken«, sagte Seine Exzellenz
streng. »Hör genau zu. Niemand in der Kommission weiß, dass ich
mich für Abalkin interessiere. Und es darf auf keinen Fall jemand
erfahren. Folglich wirst du alleine arbeiten. Keine Gehilfen. Deine
gesamte Gruppe wird Claudius unterstellt. Du wirst mir berichten
und nur mir. Ohne jede Ausnahme.«
Das hatte es noch nicht gegeben. Ich war sprachlos.
Eine solche Geheimhaltungsstufe hatte ich auf der Erde bisher gar
nicht für möglich gehalten. Deswegen erlaubte ich mir die ziemlich
dumme Frage: »Was heißt ›ohne Ausnahme‹?«
»In diesem Fall heißt es einfach ›ohne Ausnahme‹.
Es gibt zwar noch ein paar Personen, die informiert sind, aber da
du nie mit ihnen zusammentreffen wirst, kannst du davon ausgehen,
dass nur wir beide davon wissen. Bei deinen Nachforschungen wirst
du natürlich mit vielen Leuten sprechen müssen, aber erfinde bitte
jedes Mal eine Geschichte dazu, eine Legende. Und um diese
Geschichten kümmere dich bitte selbst. Direkt, das heißt ohne eine
Legende, darfst du ausschließlich mit mir sprechen.«
»Jawohl, Exzellenz«, sagte ich willig. »Du wirst«,
fuhr er fort, »mit seinen Kontaktpersonen beginnen. Alles, was wir
über seine Kontaktpersonen wissen, findest du hier.« Er klopfte mit
dem Finger auf die Mappe. »Es ist nicht allzu viel, aber für den
Anfang reicht es. Nimm.«
Er überreichte sie mir. Es war das erste Mal, dass
ich auf der Erde eine solche Mappe in Händen hielt. Die Deckel
waren aus mattem Kunststoff und wurden von einem Metallschloss
zusammengehalten. Auf der oberen Seite gab es eine karminrote
Prägung: Lew Wjatscheslawowitsch Abalkin. Und darunter:
07.
»Exzellenz«, sagte ich, »warum in dieser
Form?«
»Weil das Material in anderer Form nicht
existiert«, erwiderte er kühl. »Übrigens: Das Anfertigen einer
Kristallkopie ist nicht erlaubt. Weiter hast du keine
Fragen?«
Das war natürlich keine Einladung zum
Fragenstellen. Eher war es eine kleine Stichelei, denn es war klar,
dass ich in diesem Stadium eine Menge Fragen hatte. Aber solange
ich mich nicht mit der Mappe vertraut gemacht hatte, war es
sinnlos, sie zu stellen. Dennoch erlaubte ich mir zwei.
»Termin?«
»Fünf Tage. Nicht länger.«
Das war unmöglich zu schaffen, dachte ich.
»Kann ich sicher sein, dass er sich auf der Erde
befindet?«
»Ja.«
Ich stand auf, um zu gehen, doch er hielt mich
zurück und schaute mich eindringlich an. Die Pupillen seiner grünen
Augen verengten und weiteten sich wie bei einer Katze. Er sah
natürlich, dass ich mit dem Auftrag nicht zufrieden war, dass er
mir nicht nur merkwürdig, sondern geradezu unsinnig vorkam. Doch
aus irgendeinem Grund war es ihm nicht möglich, mir mehr darüber zu
sagen. Er konnte mich aber auch nicht einfach so gehen lassen, ohne
ein Wort. Also sagte er: »Weißt du noch: Auf einem Planeten namens
Saraksch war ein gewisser Sikorsky alias ›der Wanderer‹ hinter
einem flinken Milchbart her, der Mak hieß …«
Ich erinnerte mich natürlich.
»Also«, sagte ›der Wanderer‹ alias Seine Exzellenz.
»Sikorsky hat es damals nicht rechtzeitig geschafft. Aber uns
beiden muss es gelingen. Denn der Planet heißt diesmal nicht
Saraksch, sondern Erde. Und Lew Abalkin ist kein Milchbart.«
»Sie sprechen in Rätseln, Chef«, sagte ich, um die
in mir aufkeimende Unruhe zu verbergen.
»Geh an die Arbeit«, erwiderte er.